Demokratie in der Krise
Seite 3: Wirtschaftlicher Druck schafft einen Extremismus der Mitte
- Demokratie in der Krise
- Die Reproduktion der gesamten Gesellschaft hängt am Tropf der Kapitalreproduktion
- Wirtschaftlicher Druck schafft einen Extremismus der Mitte
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Der Druck wird auf alle erhöht, die als Kostenfaktoren gelten: etwa auf Arbeitslose oder auf Südeuropäer. Die betriebswirtschaftliche Logik wird längst der gesamten Gesellschaft übergestülpt, die schon Sprichwörtlich als die "Deutschland AG" bezeichnet wird. In seiner finalen Krise ist das Kapitalverhältnis in einer letzten brutalen Expansionsbewegung bestrebt, das gesamte menschliche Gemeinwesen dem im Scheitern begriffenen Ökonomismus unterzuordnen: Alle müssen beständig unter Beweis stellen, dem Wirtschaftsstandort Deutschland nicht zur Last zu fallen. Jeder, der aus der Arbeitsgesellschaft herausfällt, gilt bereits jetzt in der Öffentlichkeit wie in den staatlichen Behörden als Freiwild.
Und selbstverständlich ist diese Haltung mehrheitsfähig. Härtere Strafen gegen Arbeitslose und eine Verweigerung jeglicher Hilfen an Südeuropa könnten in Deutschland vermittels Liquid Feedback jederzeit durchgesetzt werden. Die breite Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland erfährt die Krise als eine beständige Zunahme von Druck am Arbeitsplatz - und dieser angestaute Druck verlangt nach Triebabfuhr, der wechselnde Sündenböcke dienen. Ein Extremismus der Mitte wird derzeit mehrheitsfähig, bei dem die betriebswirtschaftliche Logik auf die gesamte Gesellschaft projiziert wird und alle aus der Deutschland AG herausgefallenen Menschen als deren Feinde betrachtet werden. Demokratie verkommt so zu bloßem Terror der Mehrheit gegen die marginalisierte Minderheit.
Unfähig, die Strukturen und Kategorien des kollabierenden Kapitalismus in Frage zu stellen, tendiert der bürgerliche öffentliche Diskurs zum Extremismus - und letztendlich zur Barbarei. Diese krisenbedingte "extremistische" Eigenbewegung der veröffentlichten Meinung erklärt auch den Erfolg populistischer Akteure wie Hans-Werner Sinn und Thilo Sarrazin. Sie treiben den Extremismus der Mitte voran, indem sie all die Ressentiments in die Öffentlichkeit hineintragen, die bereits an den Stammtischen gepflegt werden. Insbesondere Sarrazins erfolgreiches Geschäftsmodell besteht aus einem permanenten Zivilisationsbruch, bei dem die letzten Reste von Anstand und Rücksichtnahme öffentlich geschleift werden.
Der eindimensionale - in den zerfallenden kapitalistischen Kategorien verfangene - öffentliche demokratische Diskurs bildet somit in Krisenzeiten die größte Gefahr für die Demokratie, indem er dem Terror der Ökonomie eine demokratische Legitimation verschafft. Doch zugleich bildet Demokratie die conditio sine qua non jeglicher transformatorischer Überwindung der Krise. Jede Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise kann nur in der Form eines breiten, öffentlichen Diskurses ablaufen, bei dem die Beteiligten sich in Ansätzen über Wege und Ziele einer postkapitalistischen Gesellschaft verständigen. Ein solcher demokratischer Diskurs würde sich nicht in dem irren und zusehends barbarische Zügen annehmenden Bestreben zur Aufrechterhaltung eines zerfallenden Gesellschaftssystems erschöpfen, sondern sich auf die Suche nach dem Neuen begeben - und einen gesellschaftlichen Aufbruch initiieren. Die Occupy-Bewegung und die spanischen "Indignados" bilden Beispiele für Bestrebungen, die mittels neuer basisdemokratischer Organisationsformen einen solchen Aufbruch zu initiieren.
Kampf um die Begriffe
Der Kampf um die Zukunft unserer krisengeschüttelten Gesellschaft ist somit auch ein Kampf um Begriffe. Was verstehen wir unter Demokratie? Werden die Kategorien des Kapitalismus weiterhin die stumme Voraussetzung eines massenmedial gesteuerten öffentlichen Diskurses und der korrespondierenden Entscheidungsfindung bilden, oder kann ein egalitärer, auf die Transformation der bestehenden Gesellschaftsunordnung abzielender Diskurs eingeleitet werden?
Neben dem Kampf um Begriffe tobt somit bereits ein Kampf um die Struktur des öffentlichen Diskurses: Trotz aller positiven Wandlungen durch das Internet ist der Krisendiskurs in Deutschland immer noch hierarchisch strukturiert, sodass wenige Medienkonzerne mit ihren Produkten und Webpräsenzen den Diskussionsverlauf maßgeblich prägen konnten. Voraussetzung eines demokratischen Aufbruchs aus der kapitalistischen Dauerkrise sind aber freie Kommunikationsmöglichkeiten und eine egalitäre Diskursstruktur, die eine Monopolisierung des Diskurses verhindert.
Letztendlich ist es entscheidend, wie innerhalb des öffentlichen Diskurses auf das eingangs dargelegte Gefühl der "Ohnmacht" reagiert wird, das durch die eskalierenden Krisendynamik gespeist wird: In Deutschland dominiert eine gesteigerte Unterwerfung unter den Terror der Ökonomie. In Ländern wie Spanien oder Griechenland konnten sich hingegen Bewegungen etablieren, die mit Auflehnung reagieren und neue Formen von Demokratie und Entscheidungsfindung erprobten.
Demokratie bildet somit die größte Gefahr für unsere Zukunft - und sie ist zugleich unsere größte Hoffnung. Es hängt letztendlich von uns ab, ob wir uns in einer Abend- oder einer Morgendämmerung befinden.
Der fünfte Teil thematisiert die krisenbedingten Wandlungen des Rechtsextremismus.