Europa braucht mehr Zuwanderung
Ein von der EU-Kommission vorgelegtes Grünbuch warnt erneut vor den wirtschaftlichen Folgen des massiven Geburtenrückgangs und der zunehmenden Vergreisung
Es steht schlimm um die Festung Europa. Wer die Tore dicht macht, aber gleichzeitig nicht für eigenen Nachwuchs sorgt, wird vermutlich Schwierigkeiten haben, den einmal erreichten Wohlstand mit der zunehmenden Vergreisung zu erhalten. Diese nicht gerade neue, aber immer noch in ihren Konsequenzen unerwünschte These wird nun auch noch einmal in einem Bericht vorgelegt, den die EU-Kommission in Auftrag gegeben hat.
Die EU-Kommission hat ein "Grünbuch" über den demographischen Wandel veröffentlicht, der auf das Thema aufmerksam machen will und "eine neue Solidarität zwischen den Generationen" fordert. Mit der Vergreisung der Bevölkerung, der steigenden Lebenserwartung und dem drastischen Rückgang der Geburtenrate, so der Bericht, ändert sich die gesamte gesellschaftliche Struktur.
Schon bis 2030 würde, wenn der Trend anhält, der arbeitende Bevölkerungsanteil um fast 21 Millionen oder 6,8 Prozent zurückgehen, während die Zahl der über 80-Jährigen von jetzt 18.8 Millionen auf 34.7 Millionen ansteigt. Bis 2025 nimmt die Gesamtbevölkerung in den 25 EU-Staaten allerdings noch leicht von 458 Millionen um 2 Prozent auf 469.5 Millionen dank der Zuwanderung zu, fällt dann aber bis 2050 um 4,3 Prozent ab. Dramatisch nimmt jedoch bis 2050 die Zahl der Kinder (-19,4%) und der Jugendlichen (-25%) ab, während im selben Zeitraum die über 65-Jährigen um 44 Prozent und die über 80-Jährigen gar um 180 Prozent zunehmen.
In den neuen EU-Ländern Ungarn, Lettland, Litauen, Estland, Slowakei und der Tschechischen Republik schrumpft die Bevölkerung bereits jetzt. Lediglich in Großbritannien und Frankreich wächst die Bevölkerung leicht. Die fallenden Geburtenraten werden nur teilweise durch Einwanderung ausgeglichen. EU-weit liegt die Geburtenrate bei 1,48 Kindern pro Frau, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten, wäre eine Rate von 2,1 notwendig. Am niedrigsten ist sie in Slowenien, der Tschechischen Republik und der Slowakei, aber auch Italien, Deutschland, Spanien und Polen haben eine Geburtenrate unter 1,3. Die Erweiterung der EU hat die Vergreisung beschleunigt. Auch die auf der Warteliste für die Mitgliedschaft befindlichen Länder Bulgarien, Rumänien oder Kroatien weisen einen negative Trend aus, einzig der Türkei wird bis 2030 eine Bevölkerungszunahme um 25 Prozent attestiert.
Standortnachteil gegenüber den USA
Der Bericht warnt, dass Europa die erste Region weltweit ist, die in eine demographische Vergreisung eintritt. Dadurch seien Wohlstand und Lebensstandards gefährdet: "In der jüngsten Vergangenheit Europas hat es niemals eine Phase anhaltenden Wirtschaftswachstums ohne Bevölkerungswachstum gegeben, das Investitions- und Konsummöglichkeiten schafft." Verglichen werden die Zahlen nicht nur mit den angrenzenden Regionen, in denen die Vergreisung später einsetzt, sondern vor allem auch mit dem Wirtschaftskonkurrenten USA. Dort wird die Bevölkerung nach der Vorhersage bis 2025 nämlich um 25 Prozent zunehmen.
EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit Vladimir Spidla macht die Folgen der Vergreisung deutlich:
Es geht dabei nicht nur um ältere Arbeitnehmer und die Rentenreform. Die Entwicklung wird fast alle Bereiche unseres Lebens betreffen, beispielsweise die Geschäftsabläufe und die Arbeitsorganisation, die Stadtplanung, den Zuschnitt der Wohnungen, die öffentlichen Verkehrsmittel, das Wahlverhalten und die Infrastruktur der Einkaufsmöglichkeiten in unseren Städten.
Nach dem "Grünbuch" können dem Trend nur "immer größere Immigrantenströme" entgegen wirken, um "die Nachfrage nach Arbeit und die Bewahrung von Europas Wohlstand zu sichern". Das läuft genau den Bestrebungen in vielen EU-Ländern zuwider, die die Zuwanderung immer stärker einschränken und unter dem Druck der (älteren?) Wähler noch weiter begrenzen wollen. So aber könnten kurzfristig Wahlsiege auf Kosten langfristigen Wirtschaftswachstums erzielt werden.
Auch wenn die Geburtenrate durch bestimmte Mängel niedriger ist, als die Menschen dies wollen, so ist die Frage, ob etwa stärkere steuerliche Vorteilen von Paaren mit Kindern, bessere Kinderbetreuung, bessere Förderung des Mutter- oder Vaterschaftsurlaubs o.ä. tatsächlich einen größeren Umschwung einleiten könnte. So heißt es nämlich gleichzeitig: "Ungeachtet dessen gaben 84 % der 2004 von Eurobarometer befragten Männer an, dass sie keinen Elternurlaub genommen hätten oder dies auch nicht beabsichtigten, obwohl sie über ihre Rechte aufgeklärt waren."
Um die Frage einer Umkehrung der Einwanderungspolitik wird man nicht herumkommen. Das möchte die Kommission mit dem Grünbuch und mit einer Konferenz beginnen, die für den 11. Juli 2005 in Brüssel geplant ist. Das wird allerdings die Politiker vermutlich nicht daran hindern, weiter zu versuchen, Wahlen mit populistischen Parolen nach Begrenzung der Einwanderung zu gewinnen, schließlich kennt jeder das Problem (Go Europe!). Für die älteren Wähler mag dies tatsächlich eine Option sein, für die jüngeren aber könnte die Weiterführung der Festung Europa zum Problem werden.