"Europäisches Strafrecht durch die Hintertür"
Interview mit dem Juristen Michael Rosenthal über seine Verfassungsbeschwerde gegen den Europäischen Haftbefehl
Am 13. und 14. April verhandelt das Bundesverfassungsgericht über den Europäischen Haftbefehl, der seit August 2004 die Auslieferung von Verdächtigen zwischen den EU-Mitgliedsländern erleichtert. Auf der Tagesordnung steht die Diskussion darüber, wo die Integrationsgrenzen der EU liegen und ob eine "schrittweise Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompotenzen" stattfindet. Eine Entscheidung des Gerichts "könnte im europäischen Integrationsgefüge so einschneidend wirken wie eine Kettensäge im Fachwerkhaus", schrieb jetzt die Zeit.
Der Karlsruher Rechtsanwalt Michael Rosenthal vertritt Mamoun Darkazanli ("Schlüsselfigur" von al-Qaida in Europa) in seiner Eigenschaft als Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Auslieferungsverfahren ist er sein Beistand. Darkazanlis Beteiligung an Terroranschlägen konnte der Generalbundesanwalt bis heute nicht nachweisen. Seine Auslieferung nach Spanien stoppten die Karlsruher Verfassungsrichter in letzter Minute, nachdem Rosenthal die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte (Präzedenzfall vereitelt). Er hat außerdem die Terrorverdächtigen Ihsan Garnaoui und, gemeinsam mit Gül Pinar, Abd el Ghani Mzoudi verteidigt.
Für Telepolis sprach Christiane Schulzki-Haddouti mit ihm über seine Verfassungsbeschwerde gegen den Europäischen Haftbefehl, für den der im Grundgesetz verankerte Schutz deutscher Staatsbürger vor der Auslieferung ins Ausland geändert wurde.
Der Europäische Haftbefehl ist nicht demokratisch legitimiert
Inwieweit ist der Europäische Haftbefehl bei der Bekämpfung des Terrorismus sinnvoll und nützlich?
Michael Rosenthal: Der Europäische Haftbefehl wurde nicht 2001, sondern bereits auf der Konferenz von Tampere 1999 konzipiert. Die Ereignisse vom 11. September haben dann seine Umsetzung beschleunigt. Wir haben 113 Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Europäischen Haftbefehl gesichtet. Nur in einem einzigen Fall, nämlich im Fall von Mamoun Darkazanli, war von Terrorismus die Rede. In den meisten Fällen handelte es sich um den Vorwurf der kriminellen Vereinigung, aber auch um Delikte wie Körperverletzung oder Diebstahl.
Anfangs sahen Sie den Haftbefehl als nützliches Instrument an. Warum haben Sie nun eine Verfassungsbeschwerde erhoben?
Michael Rosenthal: Der rechtliche Anlass ergibt sich aus der Entstehung des Gesetzes. Der Europäische Haftbefehl ist demokratisch nicht legitimiert, da sich der Gesetzgeber in der Umsetzung nicht frei fühlte. Dies ist aus den Bundestagsprotokollen zur Beratung des Umsetzungsgesetzes zu entnehmen (97. Sitzung, 11.3.2004). Die Redner waren der Ansicht, dass der Haftbefehl einen Flurschaden für Deutschland darstelle und dass sie dies nur abnicken könnten. Denn mit dem Europäischen Haftbefehl gelten nun in Deutschland ausländische Rechtsnormen, an deren Entstehung deutsche Volksvertreter nicht mitwirken konnten.
Es gibt für die Verfassungsbeschwerde auch einen menschlichen Anlass: Der EU-Haftbefehl ist eine Rechtshilfe. Doch er wurde missbraucht. Im Fall Darkazanli suchte der Staatsanwalt nach Ausschreibungen im Schengen-System. Als er fündig wurde, betrieb er das Verfahren von sich aus. Da der Generalbundesanwalt schon lange gegen Darkazanli ermittelt, ihm aber nichts nachweisen kann, veranlassten die Justizbehörden in Hamburg seine Überstellung nach Spanien mittels des Europäischen Haftbefehls.
Das geht so einfach?
Michael Rosenthal: Die Deutschen setzten ihn fest und teilten den Spaniern mit, sie hätten ihn. Die Spanier besorgten dann den Europäischen Haftbefehl. Der Fall zeigt also deutlich, dass man den Europäischen Haftbefehl offensichtlich missbrauchen kann.
Der EU-Haftbefehl geht auf einen Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten des Ministerrates zurück. Halten Sie das Instrument des Rahmenbeschlusses für demokratisch unbedenklich oder leitet er nicht eine Entdemokratisierung?
Michael Rosenthal: Staaten treffen Vereinbarungen untereinander. Allerdings wurden verschiedene Rechtshilfeabkommen nicht umgesetzt, weil die nationalen Parlamente nicht mitmachten. Mit dem Europäischen Haftbefehl sollte wieder etwas Bewegung in die Sache kommen. Aber es war vorgesehen, dass er nach einer gewissen Zeit überprüft werden soll. Die EU wartete jedoch nicht ab, wie sich die Sache entwickelte, sondern hat schon jetzt viele neue Projekte in Gang gesetzt. Meines Erachtens handelt es sich dabei um eine schädliche Entwicklung, die ausgebremst werden muss.
Warum?
Michael Rosenthal: Ein Europäisches Strafrecht muss durch die Vordertür kommen. Hier wird jedoch europäisches Strafrecht durch die Hintertür eingeführt - über einen Beschluss der Verwaltung. Das ist eine Dekretwirtschaft, die demokratisch nicht legitimiert ist. Außerdem könnte es sein, dass der Rahmenbeschluss zu weit geht. Er soll nämlich laut EU-Vertrag nur Ziele vorgeben, die Umsetzung aber bleibt den Staaten überlassen. Dies müsste jedoch der Europäische Gerichtshof überprüfen, nachdem ihm das Bundesverfassungsgericht diese Frage von sich aus vorgelegt hat.
Möglichkeiten von Willkürentscheidungen und Missbrauch
Sie empfinden die "schrittweise Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompotenzen" an die Verwaltung für bedenklich. Wie sehen denn die weiteren Schritte aus?
Michael Rosenthal: Der nächste Schritt steht bereits mit der Europäischen Beweisanordnung, dem European Evidence Warrant, vor der Tür. Noch bin ich mir nicht sicher, ob diese so bedrohlich wie der Haftbefehl ist. Viele Stellungnahmen sagen, es würden Privilegien wie Schweigerechte unterlaufen. So dürfen etwa anwaltliche Notizen in Deutschland nicht beschlagnahmt werden. Wenn ein Beschuldigter nicht Auskunft geben will, ist das in manchen Ländern strafbewehrt.
Das Beispiel hierfür wurde vor Jahren diskutiert: Beschuldigte müssen in Großbritannien das Passwort für ihren privaten Kryptoschlüssel offenbaren oder sie riskieren Haft.
Michael Rosenthal: Wenn diese Privilegien unterlaufen werden würden, wäre das bösartig.
In welchen Aspekten sehen Sie die Identität des deutschen Verfassungsstaates verletzt?
Michael Rosenthal: Es handelt sich um mehrere Aspekte. Wie sie unsere Grundrechte unterlaufen, möchte ich an zwei Beispielen hervorheben. In einer Zeit, in der man nur Ausländer ausliefern konnte, gab es immer wieder Auslieferungshindernisse, über die die Oberlandesgerichte entschieden haben. Ein vorläufiges Auslieferungshindernis war etwa ein laufendes Verfahren. Auch beurteilte das Oberlandesbericht humanitäre Aspekte, die eine Auslieferung hätten verhindern können. Nach der Verfassungsänderung ist dafür nicht mehr das Gericht, sondern die Verwaltung verantwortlich. Damit wollte man erklärtermaßen Deutsche vor der Auslieferung ins Ausland schützen. Was passiert aber nun, wenn eine Behörde willkürliche Entscheidungen trifft? Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde ist unanfechtbar. Es gibt keine Willkürkontrolle mehr. Das ist ein schwerer Verstoß gegen die Grundrechte und gegen die Rechtsstaatlichkeit.
Auch ist die so genannte Rücküberstellung eine merkwürdige Sache: Wenn der eigene Bürger an eine ausländische Jurisdiktion ausgeliefert wird, soll er die Möglichkeit haben, danach die Strafe im heimischen Gefängnis abzusitzen. Wir dürfen aber keine Strafen vollstrecken, die nicht unserem Gesetz entsprechen. Zum Beispiel verurteilt Thailand bis zu 50 Jahren Haft, hier aber sind es maximal 15 Jahre. Auch dürfen hier nur Strafen vollstreckt werden, die hier auch bestraft werden würden. Aber wenn man jemanden wegen Delikten ausliefert, die hier nicht strafbar sind, würde man diesen nicht mehr zurückbekommen. Das hat der Gesetzgeber bewusst als Kollateralschaden in Kauf genommen. Aber das darf nicht sein: Wer nach unseren Vorstellungen nichts Böses getan hat, wird schlechter behandelt als einer, der sich auch hier strafbar gemacht hätte.
Sie sprechen von Willkürentscheidungen und Missbrauch. Welche Beispiele können Sie hierfür anführen?
Michael Rosenthal: Tricksereien im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl gehen in etwa so: Man geht mit dem Vorwurf in das Land, in dem die tatbestandlichen Hürden am niedrigsten sind und der Beweis am einfachsten zu führen ist. Für die Suche nach einem Gerichtsstand, wo alles ganz einfach geht, gibt es übrigens einen Fachausdruck: Forum shopping. Zur Trickserei würde ich es auch rechnen, dass die Bewilligungsbehörde bei Darkazanli auch die Möglichkeit gehabt hätte, ihn hierzubehalten, weil er Deutscher ist. Das haben sie mit einem Satz abgelehnt: "Von dieser Möglichkeit wird kein Gebrauch gemacht." Das meine ich mit Missbrauch: Man kann missliebige Deutsche loswerden, ohne dass - nach aktueller Gesetzeslage - ein Hahn danach krähen könnte.
Terrorprozesse erinnern strukturell an Hexenprozesse
Wie sehen Tricksereien in Terrorverfahren aus?
Michael Rosenthal: Im Fall Garnaoui hat das Bundeskriminalamt getrickst. So machte es für die Verhandlung Garnouis Handy vom Nebenzimmer aus gangbar. Garnaoui hatte das Handy in Südafrika mit einem Simlock und einem bestimmten Providerzugang erworben. In Deutschland konnte er das Handy dann nicht mehr benutzen, womit er sich auch verteidigt hat. Er soll sich daraufhin in einem Motorola-Forum kundig gemacht haben, wie die Simlock zu entsperren ist, und soll erfahren haben, dass dies mittels eines 8-stelligen Codes des Providers möglich sei, dass aber Motorola-Handys diese Freischaltung teilweise nicht überleben würden. Das BKA führte das Handy, das es selbst entsperrt hatte, im Gerichtssaal vor. Garnaoui stand erst einmal als Lügner da, bis der Verteidigung der komplizierte Nachweis gelungen war, dass nicht er, sondern das BKA den SIM-Lock entsperrt hatte. Wie viel Gegenwind wir für diese Behauptung geerntet haben, können Sie sich vorstellen.
Sind die Verfahren gegen mutmaßliche Terroristen also nicht fair?
Michael Rosenthal: Das würde ich so nicht sagen. Sie bekommen faire Verfahren. Das Schlimme aber ist, dass mich die Verfahren strukturell an Hexenprozesse erinnern: Sie dienen vermeintlich einer guten Sache. Die Staatsanwaltschaften deuten und missdeuten belanglose Indizien. Koinzidenzen werden zu Plausibilitäten.
So wurde etwa im Mzoudi-Verfahren behauptet, Mzoudi hätte mit den anderen Attentätern des 11. Septembers zusammengewohnt. Aber aus den Unterlagen ging hervor, dass Mzoudi eingezogen war, als die anderen schon weg waren. Atta gab zwar die Telefonnummer der Wohnung in den USA immer an. Doch in dieser Zeit wohnten zwei andere in der Wohnung - Mzoudi war nach dem eigenen Vortrag der Anklagebehörde in Afghanistan und konnte deshalb auch nicht als Attas Statthalter fungieren. Solche Umstände liegen an sich offen zutage, aber beim Generalbundesanwalt scheint man dafür blind zu sein - aus Angst vor und im Kampf gegen Terror.