Ex oriente lux?

Seite 3: Ritterburgen, Plüschponys und ein Plan

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Beispiel Guangdong: Es ist die wirtschaftlich stärkste Provinz Chinas. Wer hier Arbeit in den Knochenmühlen der Textil- oder Spielzeugindustrie hat, verdient im Durchschnitt 70 bis 120 Euro im Monat. Die Anforderungen an die Qualität der Produkte sind gleichwohl hoch. Der Focus schilderte Impressionen nach einem winterlichen Arbeitstag einmal so:

Eine durchgehende Kolonne von Lkws zieht sich in den Monaten vor Heiligabend von den Herstellern bis zum Hafen in Hongkong, Stoßstange an Stoßstange, Barbiepuppen, Ritterburgen und Plüschponys. Die Luft ist beißend, der Himmel smogverhangen. Schwarze Rauchfahnen streichen über einen eisengrauen Horizont.

Guangdong gilt auf dem Weg in den Kapitalismus als fortgeschritten. Die Provinz repräsentiert auch aus ausländischer Sicht den chinesischen Wirtschaftsboom - und blickt als Industriezentrum an der Küste des Südchinesischen Meeres auf eine lange Handelstradition zurück. Neben der Spielzeugfabrikation zählen die Elektronikbranche und die Textilindustrie zu den besonders arbeitsintensiven Sparten der chinesischen Produktion; hier gibt es Arbeitsplätze, es vermehrt sich der Reichtum, aber es entstehen auch neue soziale Bruchlinien. Krasse Einkommensunterschiede in China sind schon gang und gäbe, in den privilegierten Küstenprovinzen wie Guangdong konkurriert jedoch das neue Subproletariat der Städte (Schätzungen gehen von rund 100 Millionen Menschen aus) mit der alten Arbeiterklasse, die offene Gewerkschaften nicht kennt. Die existierenden Betriebsgewerkschaften sind in der Regel von oben verordnet und sind lediglich darauf aus, Konflikte zu verhindern - echte Interessenvertretung und Tarifverhandlungen Fehlanzeige.

Shenzhen. Bild: Joe.H.K. (Public Domain)

Zu den leistungsstarken südchinesischen Industrien im Perflussdelta gehört Shenzhen. In die Schlagzeilen geriet der Apple-Zulieferer Foxconn, nachdem sich zehn Mitarbeiter auf dem Fabrikgelände in Shenzhen das Leben genommen hatten. Die Gehälter wurden daraufhin um bis zu 65 Prozent angehoben. Der Vorgang wirft jedoch ein Licht auf die Arbeitsbelastung der chinesischen Arbeiter und Angestellten. Auch aus anderen Teilen des Landes gibt es immer wieder Berichte über frustriertes und ausgelaugtes Personal - die Kehrseite des Booms. Die Maloche am Fließband frisst während der Sommermonate, wenn für Weihnachten vorproduziert wird, täglich bis zu 18 Stunden. Und die Regierung in Peking, so viel ist sicher, fürchtet kaum ein Unding mehr als soziale Unruhen. Wenn die Löhne (und, wie zuletzt, auch noch die Transportkosten) steigen, wird es für westliche Firmen eng. Mehr und mehr europäische Firmen denken schon darüber nach, die Produktion wieder in die Heimat zurückzuverlagern.

Foxconn-Fabrik in Shenzhen. Bild: Steve Jurvetson. Lizenz: CC-BY-2.0

Hilft da ein Plan? Jedenfalls wurde wieder einer verabschiedet. Der Volkskongress in Peking nahm den neuen Fünfjahresplan der Regierung unter Premier Wen Jiabao in der Großen Halle des Volkes im März 2011 mit großer Mehrheit an. Der Plan - der zwölfte in einer Reihe von Entscheiden seit 1953 - zielt auf die volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Riesenreiches. Die neuen Rahmenrichtlinien betreffen den Zeitraum bis 2015.

Wen Jiabao beim World Economic Forum in Davos (2009). Bild: Remy Steinegger/World Economic Forum. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Die Regierung will den Binnenmarkt ankurbeln und damit ein Stück weit unabhängiger vom Export werden. Das Bevölkerungswachstum soll eingefroren werden und unter der Marke von 1,4 Milliarden bleiben, das überhitzte Wirtschaftswachstum will man - ein neuer Anlauf - drosseln, es soll von derzeit rund 11 auf 7 Prozent kommen, der Erfolg scheint fraglich. Positiv machen sich auf den ersten Blick die Aussagen zur Schaffung neuer Jobs und zur Bereitstellung von Wohnraum für Geringverdiener vor allem in den Städten aus, auch die beabsichtigte Senkung des Energieverbrauchs klingt einleuchtend. Auf der anderen Seite steht der Bau von Dutzenden weiterer Kernreaktoren auf der Tagesordnung - hier lässt China keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen, das Land auch nach Fukushima beharrlich hochzurüsten. Was nicht unbedingt im Plan steht: Der Renminbi strebt den Rang einer Weltwährung an, Gold könnte der Schlüssel dazu sein.

Historie trifft Moderne

Der Berufene sucht auch Dinge, die sich erzwingen lassen, nicht zu erzwingen, darum bleibt er frei von Aufregung. Die Menschen der Masse suchen Dinge, die sich nicht errzwingen lassen, zu erzwingen, darum sind sie fortwährend in Aufregung. Weil sie ihrer Aufregung freien Lauf lassen, so haben sie immer etwas zu machen und zu erstreben. Die Aufgeregtheit aber richtet sie auf die Dauer zugrunde.

Dschuang Si

Das liest sich wie ein guter Rat an die Weltmacht von gegenüber. Die Souveränität, die bei Dschuang Si anklingt, ist Ausdruck einer kulturellen Mentalität, die tief in der Tradition wurzelt und mit der technisch-rationalen Manier westlicher Prägung nicht unbedingt kompatibel ist. Dabei ist es oft auch nur die eigene Wahrnehmung, mit der China an ein Erbe anknüpft, das Jahrhunderte zurückreicht. Die Jugend in den Wirtschaftszentren an Chinas Küsten sucht auf ihre Weise eine Verschmelzung von Moderne und Historie, testet die Überlieferung der Eltern und Großeltern und übt sich darin, den neuen, aufregenden "way of life" mit der Achtung vor althergebrachten Sitten zu harmonisieren. Da kann schon mal die rituelle Anrufung der Ahnen während der Mittagspause anstehen - zehn oder fünfzehn Minuten Auszeit in Gemeinschaft mit den Seelen der Verstorbenen, die doch schließlich dem Glauben zufolge mit verantwortlich sind für das persönliche Glück und auch für Karriere und wirtschaftlichen Fortgang.

Und es sind die jungen, smarten und wohlhabenden Chinesen, die in den urbanen Zentren vormachen, wie das neue Leben geht. Sie bilden den neuen Mittelstand, den es früher, im alten China unter Mao, nicht gab und nicht geben konnte; sie setzen auf gute Jobs, auf Bildung und Karriere, und sie definieren Chinas Kultur neu. Mit ihrer Einstellung zu einem konsumorientierten Lebensstil drehen sie das Schwungrad des neuen Sozialismus chinesischer Prägung und beschleunigen das Tempo, bei dem viele auf der Strecke bleiben.

17 Prozent der chinesischen Bevölkerung müssen mit einem Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen, 47 Prozent existieren mit weniger als zwei Dollar am Rand des Existenzminimums.

Hunderttausende verloren ihre Häuser und Wohnungen, Millionen sind arbeitslos, ein Heer Unzufriedener und ins Abseits Gedrängter: Das sind sie, die Verlierer des Umschwungs, die mit der Öffnung Chinas nicht Schritt halten können oder die aus den Städten verdrängt werden, weil korrupte Baubosse sich als willige Ausführungsinstanz der Partei-Strategen gebärden und mit radikalen Methoden Einwohner aus den alten Stadtvierteln vertreiben. Da kann es schon mal vorkommen, dass Bauarbeiter zusammen mit Polizisten vor der Tür stehen, sämtliche Möbel beschlagnahmen und die Wohnung besenrein zum Abbruch freigeben. Rechtsbeistand nach westlichem Muster, der hier helfen oder im Nachhinein Ansprüche ausgleichen könnte, gibt es in China nicht.

Europa braucht sich aber keineswegs überlegen zu fühlen, wie ein Blick in die Geschichte zeigt; und andererseits, Uncle Sam hat es nicht nötig, im Pazifik die Muskeln spielen zu lassen. Oder doch?

Chinas Entwicklung selbst birgt genügend Spannungen und Gefahren in sich: Die rasante Metropolisierung enthält sozialen Sprengstoff und rückt die ungelösten Fragen im Energie- und Umweltmanagement der Volksrepublik ins Licht, bringt aber auch das Thema der sozialen Polarisierung wieder auf die Tagesordnung. Mit dem fortschreitenden Bedeutungsverlust staatlicher Bevormundung und dem Rückgang der kollektiven Wirtschaftsweise (Stichwort Entkollektivierung) geht für viele auch ein Identitätsschwund einher. Das macht in Verbindung mit der Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile vor allem in den Boomtowns ein erhebliches Konfliktpotenzial aus. Schließlich gibt es im bevölkerungsreichsten Land der Erde auch noch 55 nationale Minderheiten, allein 10 Millionen "chinesischer Muslime", Abkömmlinge arabischer und persischer Kaufleute. Hier ist eine ungeheure Integrationskraft gefragt.

Wohnhäuser am Perlfluss in Guangzhou. Bild: Daniel Berthold. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Wachsende Umweltzerstörung, eine radikal industrialisierte Landwirtschaft und explodierende Ballungsräume sind nur Schlagworte. Man denkt auch an Auswüchse wie den Organhandel, an die mächtige chinesische Mafia der "Triaden", deren Mitglieder auf 250.000 geschätzt werden (zum Vergleich: Zur japanischen Yakuza zählen nach Schätzungen rund 86.000, zur italienischen Cosa Nostra etwa 4.000 Mitglieder), an China als Weltrekordhalter in Produktpiraterie. Man denkt an Todesstrafe und Hinrichtung, an die Unterbindung einer freien Kultur, wie wir sie verstehen.

Unterdessen wächst der Verkehr in den chinesischen Städten ins Ungeheuerliche, Kriminalität, Wasserversorgung und Müllbeseitigung sind Dauerbrenner der urbanen Problemfelder der Metropolen, die dazu unter ungesteuertem Flächenwachstum zu leiden haben. Wie wird das Gesicht der Städte in zehn oder zwanzig Jahren aussehen? Darüber zerbrechen sich nicht nur Stadtplaner und Architekten die Köpfe. Trockengefallene Flüsse im chinesischen Kernland, verschwundene Wälder (an deren Stelle Ödland), das sind Spuren einer "modernen" Zivilisation und Kosten auch einer ungelenkt ausgreifenden Urbanisierung. Unter den zehn schmutzigsten Städten der Welt finden sich nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank (Asian Development Bank, ADB) acht in China.