Ex oriente lux?

Seite 4: Vollgas voraus? Mit Zentralverriegelung!

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Kunden bei Starbucks in Peking mögen zwischen Latte macchiato, Espresso, Cappucino und Frappucino wählen können, an den Wahlurnen sind derartige Freiheiten bislang noch nicht angekommen.

James Kynge

Wohin steuert das Reich? Von brisanter innenpolitischer Bedeutung ist die Frage, wie die erkennbaren Ansätze einer Zivilgesellschaft - Starbucks ist sicherlich dafür nur ein sehr oberflächlicher Beleg - mit den Realitäten der autoritären Staatsmacht in Einklang zu bringen sind. Beobachter sehen durchaus die Gefahr einer Desintegration, die das Riesenreich politisch spalten könnte; dann entstünde auch die Frage, was mit dem Nuklearpotenzial geschieht, wer darüber die Kontrolle behält, sollte keine Zentralinstanz mehr das Sagen über die chinesischen Atomwaffen haben.

An der Nostalgie-Kampagne des chinesischen Politikers Bo Xilai, der mit zweifelhaften Methoden die "rote Kultur" der Mao-Zeit wiederbeleben will und den Leuten dazu das Singen revolutionärer Lieder schmackhaft macht, ist die Gefahr einer nationalistischen Rückwendung ablesbar, die den Aufbruch des Landes ideologisch und möglicherweise auch ökonomisch ausbremsen würde.

Zunächst aber heißt es in Fernost: Ab ins automobile Zeitalter! China wird sich in den nächsten fünfzehn Jahren zum zweitgrößten Automobilmarkt der Welt entwickeln. Die Zahl der Autos, die 2004 noch bei 23 Millionen lag, hat gerade die 100-Millionen-Marke überschritten und wird sich nach Einschätzung der Regierung in Peking binnen zehn Jahren verdoppeln. Und die Staatsmacht in China setzt mittlerweile auf den Erfolg der Märkte, nämlich da, wo nur diese in der Lage sind, den "Fortschritt" zu sichern. Mobilität gehört als großes Zukunftsthema dazu, und dazu passt absolut, dass man hierzulande Meldungen über angestrebte Beteiligungen lediglich zur Kenntnis nimmt, zumal die oft sowieso nur in den schmaleren Spalten der Wirtschaftsnachrichten landen.

Den Chinesen ist das egal; ihnen geht es um die Sache als solche. Und da handeln sie, wenn auch ohne großes Aufsehen, doch immer strategisch unbeirrt. So zuletzt bei der Übernahme des weltgrößten Herstellers von Kfz-Türschlössern, einer Firma nahe Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen, bekannt als Erfinder der Zentralverriegelung. Das Pekinger Unternehmen Hebei Lingyun Industrial hat hier zugeschlagen, nur ein weiteres Indiz dafür, dass China sich den Kauf von Firmen und Technologien im Westen zum Ziel gesetzt hat und seine Absichten auch verwirklicht. Dabei beweisen die Asiaten wieder ihren langen Atem.

Also mit Vollgas in die Zukunft? Allerdings hat gerade in Bezug auf langfristige, strategische Ambitionen der Chinese dem Westler etwas voraus: Die westliche Devise "Sieg oder Niederlage" nämlich ist dem asiatischen Gemüt in dieser rabiaten Form gänzlich zuwider. Man sieht es als weitaus geschickter an, den Gegner mit Taktik und Verstand auszutricksen. Im ältesten Spiel Chinas, dem Weiqi, im Westen bekannt unter dem japanischen Namen "Go", geht es darum, den Gegner auf immer wieder neuen Teilen des Spielbretts einzukreisen und durch wohl austarierte Entfaltung der eigenen Stellung einer Umzingelung zuvorzukommen. Diese Strategie - die ultimative Entscheidungsschlacht nach westlichem Muster zu vermeiden - spiegelt die über 2000 Jahre alte legendäre "Kunst des Krieges" wieder, die heute auch in der Ökonomie Anwendung findet.

Logisch dennoch, dass China dabei ist, sein Militär weiter aufzurüsten: Offiziell um 11,2 Prozent sollen die Ausgaben 2012 steigen. Die tatsächlichen Aufwendungen dürften erheblich höher liegen, wie das Stockholmer Institut für Friedensforschung (Sipri) meint, weil militärische Forschung und Entwicklung und die paramilitärische Bewaffnung von Polizeieinheiten unter anderen Haushaltsposten rangierten. Dies allerdings gehört zu den Spielen im globalen Machtbalancing dazu; und auch, dass der Drache sehr wohl Zähne zeigt, wenn es um seinen direkten, unmittelbaren Einfluss geht, etwa in Territorialstreitigkeiten vor den eigenen Küsten.

Der gerade abgehaltene Volkskongress - im Herbst steht ein Generationenwechsel an - liefert bei all dem üblichen Reformtheater auch Hinweise darauf, dass China damit beschäftigt ist, die inneren Machtverhältnisse zu justieren: Das Gespenst der Kulturrevolution wird beschworen ebenso wie die drohende Gefahr durch Staatsfeinde, "Terrorismus" nennt man das im verschärften Strafrecht, und die Angst der Autoritäten vor Revolte ist unübersehbar.

Nochmal die Experten: China-Spezialist Markus Taube vom Lehrstuhl für Ostasien-Wirtschaft an der Universität Duisburg spricht für viele, wenn er - interessanterweise - die Metapher des Jünglings bzw. Zöglings aufgreift: "Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, dass wir neben den etablierten Playern auf der globalen Bühne jetzt einen neuen jungen Erwachsenen haben. Die Chinesen wollen mitspielen und haben jedes Recht dazu."

Das klingt gut. Richtig ist aber auch, dass China gar kein Mitspieler zu werden braucht, weil es längst einer ist. Und zwar einer, der auf eine lange Tradition zurückschauen kann, eine Tradition und Geschichte, die den Westen mit seinen gönnerhaften Empfehlungen mitunter ganz schön onkelhaft aussehen lässt.

Ex oriente lux? China ist weder Knabe noch Zögling, und im Sinne Hegels vermutlich auch nicht der Weise. Roh und ungebärdig können das Land und seine Machthaber sein, rücksichtslos in seinen Zumutungen an die eigene, vor allem die ärmere Bevölkerung wie im Umgang mit der Natur, zynisch in seiner Leugnung der Menschenrechte. Ist China dann vielleicht doch der Drache, noch dazu mit Hirn und Biss? Und wird der Drache unter all den Voraussetzungen zu einer strategischen und ökonomischen Bedrohung werden - oder zu einem berechenbaren und kooperativen Partner?

Eine offene Frage. Die Strategen im Westen sind herausgefordert.

Literatur