Ex oriente lux?

Seite 2: Ideologie trifft Pragmatik

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Seit dem Tode Maos (Mao Tse-tung starb am 12. September 1976) gestaltete sich die Politik des asiatischen Riesen mehr und mehr nach ökonomischen Leitlinien statt nach ideologischen Zwangsvorstellungen: An die Stelle von Maos Erziehungsdiktatur ist ein effizientes Staatswesen getreten.

Die Epoche der beginnenden Modernisierung ist mit dem Namen Deng Xiaoping verbunden. Gewaltige Projekte wurden in Angriff genommen, der Ausbau der Verkehrswege und der Aufbau von Infrastruktureinrichtungen bekamen oberste Priorität. Es wurden Gesetze geändert und 1979 erstmals Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, private Betriebe und der Zustrom ausländischen Kapitals wurden zugelassen. Die Ergebnisse sind greifbar: Mitte 2011 erreichten Chinas Exporte das Rekordniveau von umgerechnet 22,2 Milliarden Euro; Europa ist der größte Abnehmer.

Deng Xiaoping (1979). Bild: Executive Office of the President of the United States

China könnte umgekehrt 2012 seinerseits größter Abnehmer für die EU-Exporte werden: Jeden Tag werden zwischen Europa und China Waren im Wert von über einer Milliarde Euro gehandelt. Die Zeichen stehen auf Wachstum: Allein im vergangenen Jahr legten die europäischen Ausfuhren nach China um über 20 Prozent zu.

Und Peking hat viel, sehr viel Geld, das investiert werden will. China besitzt die höchsten Währungsreserven der Welt; seit April 2011 liegen sie bei mehr als drei Billionen Dollar. Dem stehen aber auch Hemmnisse gegenüber. Ein Teil der chinesischen Konzerne ist anhaltend fest in staatlicher Hand. Und der chinesische Markt unterliegt einer strengen behördlichen Überwachung; Quoten hindern ausländische Firmen daran, aktiv zu werden

Der chinesische Weg: Beispiel Afrika

In der eigenen Wahrnehmung knüpft das geschüttelte Land an seinen über Jahrtausende behaupteten Platz als "Reich der Mitte" an. Die Identität beruht auf einem starken Zusammenhörigkeitsgefühl, dabei spielt bedingungslose Loyalität auch heutzutage eine Rolle. Persönliche Beziehungen zählen: Berühmt sind die Geschäftsnetze ethnischer Chinesen, die auf harte Arbeit, Tradition und Familien bauen. Spötter nennen sie auch Bambus-Netzwerke, mit einem Unterton von Respekt.

Auf dieser Tradition gründet Chinas strategisches Engagement in Afrika. Hier setzen die Chinesen auf die uralte Gepflogenheit aus Arbeit und Gegenseitigkeit; längst werden chinesische Ingenieure und Manager in Afrika als die wahren Freunde des Kontinents betrachtet, die nicht auf Raubbau aus sind, sondern den Menschen helfen, ihr eigenes Potential zu entfalten.

Und Chinas Engagement macht sich bezahlt: Schon heute geht jeder zweiter afrikanische Auftrag der öffentlichen Hand an chinesische Unternehmen. Ob in den vergessenen Landstrichen der Armen oder in den turbulenten Küstenregionen Afrikas, die Chinesen haben bei Projekten die Nase vorn, die Europäer sind vielerorts abgehängt. Während Europa in afrikanischen Dörfern Brunnen baut und Hilfsgüter verteilt, tüfteln chinesische Experten zusammen mit afrikanischen Beamten und Technikern an Konzepten für Afrikas Zukunft als Wirtschaftsmacht. Nicht nur im subsaharischen Afrika, an den Küsten, wo der schwarze Kontinent über Unmengen von schwefelarmem und lukrativem Tiefsee-Öl verfügt, setzt China auf zukünftige Märkte, auf Tourismus und gemeinsame Erschließung von Ressourcen.

Es ist die Einstellung zu den Menschen, gepaart mit einem langen Atem und dem Denken in Strategemen, die dem Riesen aus Fernost hier entscheidende Vorteile verschaffen: China ist dabei, dem Westen den Rang abzulaufen. Wichtigster Öllieferant für China ist derzeit Angola, aber großes Interesse besteht am Ausbau der Beziehungen zu Nigeria, das noch mehr Öl produziert.

Es geht dabei um Öl und um Kupfer, es geht um die Märkte von morgen, es geht um strategische Zusammenarbeit und weltpolitischen Einfluss. China, selber noch ein Entwicklungsland? Die geopolitischen und -ökonomischen Realitäten sprechen eine ganz andere Sprache. Von der scheinbaren welthistorischen Peripherie aus ist China gerade dabei, seinen Fuß ins Kerngebiet der bisherigen ökonomischen Giganten zu setzen. China, so scheint es, hat es dabei nicht nötig, mit der Pose des Siegers aufzutreten; man inszeniert sich nicht über die im Westen üblichen Drohgebärden und Lockrufe, man handelt einfach: Im Stillen und doch in aller Öffentlichkeit, lautlos und doch für jedermann sichtbar, im ganz alltäglichen Leben. Netzwerke spielen dabei eine Rolle, der Aufbau von Beziehungen, das Entstehen von Loyalitäten, die auf Gegenseitigkeit setzen.

Das ist etwas Anderes als Unterwerfung und auch etwas Anderes als die Generierung von Abhängigkeiten, so wie der Westen sie gewohnheitsmäßig übt. Es ist der chinesische Weg, der Amerikanern und Europäern gleich fremd vorkommt; der sie zugleich stur und alt aussehen lässt. Hier ist China wohl tatsächlich der "Jüngling", aber in ganz anderer Hinsicht als in der überheblichen Terminologie westlicher Denkungsart. Konkret umgemünzt hat China seine globale Strategie in Afrika in derzeit fünf Wirtschaftszonen, errichtet nach dem Vorbild solcher Zonen im eigenen Land. Gerne betonen chinesische Politiker, dass China aus seinen eigenen Erfahrungen mit den Kolonisatoren der Vergangenheit gelernt hat.

Zweierlei Riesen

Und es spricht einiges dafür, dass aus Pekinger Sicht Washington eine gefährliche, Kreuzzüge unternehmende und pseudoliberale, in Wahrheit imperialistische Macht bleibt, die nicht ruhen wird, bis ihre Ansichten global durchgesetzt sind. Daraus resultiert nicht zuletzt eine kontroverse Debatte um die Zukunft amerikanischer Außenpolitik: China einbinden oder eindämmen?

Die amerikanische Antwort auf diese Frage lässt sich nicht in einen Satz fassen, aber ein klares Signal gibt es 2012 schon: In Australiens tropischem Norden werden amerikanische Marineinfanteristen stationiert, zunächst 250, für später ist von 2.500 die Rede. Kein Zweifel, Uncle Sam hat den Pazifik im Visier. Der 120.000-Seelen-Ort Darwin, 1942 von den Japanern heftig bombardiert, auch als "Tor zu Asien" bezeichnet, soll anscheinend Obamas Hinwendung zum asiatisch-pazifischen Raum für alle sichtbar symbolisieren. Den US-Vorstoß verfolgen die kleineren Staaten der Region, die das Verhalten des chinesischen Riesen in ihrer Nachbarschaft schon länger argwöhnisch beobachten, mit Interesse und teils sogar mit Sympathie.

Zu dem sich räkelnden gelben Riesen gehören urbane Giganten wie Guangzhou, Peking, Shanghai, Wuhan, Chongqing, Lanzhou, Millionenstädte mit schillernden Superlativen. In Guangzhou wurde 2010 der höchste Fernsehturm der Welt eingeweiht, 600 Meter hoch. Die Stadt wird gern auch "Fabrik der Welt" genannt. Lanzhou, Megastadt am Gelben Fluss, gelangte 1998 aufgrund einer sensationellen Luftverschmutzung in den zweifelhaften Ruf der rußigsten Stadt der Erde.

Canton Tower in Guangzhou. Bild: Colin Zhu. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Und immer mehr Menschen zieht es in die Metropolen, das ist der Trend auch weltweit: Schon jetzt wohnt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, bald werden es mehr als zwei Drittel sein. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Sogwirkung der Städte nachlassen könnte; und ganz besonders gilt das für China, das Land mit den meisten Millionenstädten, wo Megacities und die metropolitanen Großregionen, vor allem an den Küsten, täglich Tausende mit dem Versprechen einer besseren Zukunft locken. Shanghai, heute in der Kernstadt bewohnt von 15 Millionen Menschen (im Ballungsraum Shanghai leben an die 25 Millionen), überschritt 1950 als erste Metropole des Südens die 5-Millionen-Grenze. Zwischen damals und heute liegen Welten: In einigen futuristischen Wohn- und Bürovierteln Pekings zahlen die Reichen jetzt schon mal umgerechnet 5.000 Euro für den Quadratmeter exklusiven Wohnraum.