Exzellente Entqualifizierung

Seite 4: Akademischer Kannibalismus und der Verlust an kritischer Intelligenz

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Es fällt schwer, in dieser Logik nicht eine Spielart des Angriffs auf die Wissenschaft zu erkennen, der sich im Zuge der Verschärfung neoliberaler Politik weltweit beobachten lässt. Diese Verschärfung besteht in der Essenz darin, immer mehr Menschen Stück für Stück die Lebensgrundlage zu entziehen und sie unter der Rhetorik nationaler Superlative aufeinanderzuhetzen - um die daraus resultierenden Aggressionen und Ressentiments dann allein auf die Rechten zu schieben, als kämen sie aus dem Nichts.

In der Wissenschaft, neben Sport und Wirtschaft wichtigstes nationales Aushängeschild, zeigt sich dieser Prozess nicht nur in der Verweigerung von Gehalt und der gezielten Entsolidarisierung im Kampf um zu wenige befristete Stellen. Er zeigt sich auch in dem, was ein weiterer Kommentator der Petition gegen die Exzellenzinitiative als "akademischen Kannibalismus, also nicht die wissenschaftliche Konkurrenz, sondern die ökonomische Vernichtungskonkurrenz zwischen den Disziplinen" bezeichnet - oft zudem praktiziert unter dem modischen Label der Interdisziplinarität. Dies betrifft besonders das immer ungleichere Verhältnis zwischen den - quantitativen - Natur-, Wirtschafts- und Technikwissenschaften auf der einen und Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite.

Wenn in den Medien in letzter Zeit Kritik an der kaum noch zu ignorierenden Universitätsmisere formuliert wurde, dann überwiegend unter dem mahnenden Hinweis, dass "die besten Köpfe" drohen, in die Wirtschaft abzuwandern. Das heißt, es wird die Normalität eines Nexus zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gespiegelt, auf den die herrschende Bildungspolitik zunehmend ausschließlich ausgerichtet ist. Es wird gar nicht mehr gefragt, wohin denn wohl die Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen "abwandern", denn damit lässt sich kein Druck mehr aufbauen. Tatsächlich sollen gerade sie in der freien Wirtschaft landen, nur unfreiwillig und im Unterbauch der Mindestlohn-(Re-)Produktion, mit minimaler staatlicher (Umschulungs-)Förderung, um sie endlich aus der Verantwortlichkeit des Staates zu drängen.

Mit ihnen entledigt sich der demokratische Staat auch eines guten Teils seiner eigenen gesellschaftspolitischen Reflexion und der kritischen Distanz zu sich selbst. Und dies gerade in Zeiten, da die Grenzen des neoliberal-enthemmten Umverteilens von unten nach oben nicht nur von Wissenschaftlerinnen (außerhalb Deutschlands, etwa von Thomas Piketty) eindrücklich nachgewiesen, sondern sogar vom Internationalen Währungsfonds wiederholt eingestanden worden sind4, während die gravierende Zunahme faschistischer Bewegungen, autoritär-populistischer Politik und die Produktion weltweiter Gewalt, Vertreibung und Hoffnungslosigkeit die Folgen täglich erfahrbar machen.

Mit solch einem Angriff auf die Wissenschaft steht Deutschland anderen Ländern wenigstens in der Tendenz in nichts nach. Dort aber ist die politische Drangsalierung von Universitäten entweder bereits unmissverständlich geworden (Ungarn, Türkei, Indien, Brasilien), wenn sie nicht gleich in Diktaturen stattfindet (Singapur), oder die (Ent-)Bildungspolitik wird zumindest transparent gemacht und steht in der öffentlichen Debatte (wie die massiven Kürzungen und Privatisierungen in Großbritannien und der Einbruch des Tenure Systems in den USA, wo das prekäre Überleben von Wissenschaftlerinnen auf befristeten, unterbezahlten Adjunct-Stellen sowohl Weblogs als auch die wissenschaftlichen Beilagen großer Zeitungen beschäftigt).

Wenn auch Enttäuschung und Frustration hierzulande immer mehr die Runde machen, gelingt es Deutschland dagegen bislang immer noch, faktische Kürzungspolitik und massive Ressourcenverschwendung als Exzellenz zu verkaufen und sich angesichts schwindender Alternativen und einer mangelhaft informierten, immer emotions- und affektgeleiteteren Öffentlichkeit im In- und Ausland als attraktiven und demokratisch überlegenen Wettbewerbsstandort zu inszenieren.

Es wurde höchste Zeit, dass die früheren, akademisch dominierten, autoritativen Debatten zu Staat und Gesellschaft einer viel stärkeren Partizipation breiterer Bevölkerungsschichten Platz machen mussten. Es hat zweifellos eine Demokratisierung der Öffentlichkeit(en) gegeben. Wie nicht zuletzt der Brexit gezeigt hat, muss diese allerdings zunehmend mit der gleichzeitigen Verengung realer politischer und wirtschaftlicher Wahloptionen konkurrieren - und verliert dabei zusehends.

Nun zeigt man sich gerne entsetzt, wenn das Internet vielfach Ausweis dafür wird, dass der Krieg zwischen Staaten sich längst wieder in die Gesellschaften verlagert hat, wo sich Anhänger verschiedener Gruppen und politischer Interpretationen zum Teil gnadenlos bekämpfen bzw. stärkere die schwächeren völlig enthemmt angreifen. In solch einer Situation ist es hochproblematisch, wenn Wissenschaftlerinnen - und überwiegend eben in Form natur- oder wirtschaftswissenschaftlicher Professorinnen - nur noch gelegentlich als Expertinnen in, wiederum zunehmend aggressiven, TV-Talkshows oder als kurze Soundbites in Nachrichten und Reportagen auftauchen. Damit dokumentiert sich nicht nur ein Entzug der Möglichkeit, größere Zusammenhänge kritisch aufzuzeigen, sondern auch eine bemerkenswerte Entfremdung der Universität von der Gesellschaft - und von sich selbst. Gerade weil Universität selbst immer stärker in die Hierarchisierung und Prekarisierung der Gesellschaft eingebunden ist, kann und soll sie diese nicht mehr wahrnehmen und schon gar nicht öffentlich darstellen.

Die falsche Fixierung - immer auf die Professur

In diesem Zusammenhang wiederum ist es vielleicht nur folgerichtig, dass die Diskussion über mangelnde wissenschaftliche Stellen, wenn sie denn in den letzten geschützten Bastionen des Bildungsbürgertums einmal geführt wird, sich ausschließlich auf die Professur kapriziert. Die Professur ist die einzig mächtige, weil einzig unbefristete Stelle an deutschen Universitäten, die alle realen Möglichkeiten des beworbenen Systems - risikolose Beantragung großzügiger Forschungsgelder, Forschungsteams und (befristete) Mitarbeiterinnen, Vortrags- und Kongressreisen, internationale Fellowships - auf sich konzentriert. Also, so die Logik, brauchen wir davon mehr, anstatt zu fragen, wie sich diese undemokratische Monopolstellung eigentlich rechtfertigt.

Von Wissenschaftlerinnen selbst, ermüdet durch jahrelangen Kampf und konditioniert auf die einzige Erfolgsoption, kommt besonders in dieser Frage wenig. Vielmehr wird sich artig bedankt - wie kürzlich geschehen in einer Studio-Diskussion von "Campus und Karriere" im "Deutschlandfunk"5 -, wenn wieder eine pompös betitelte Maßnahme ins Leben gerufen wird: diesmal der "Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs", der 1000 neue "Tenure Professuren" bis zum Jahr 2032 bringen soll.

Nicht diskutiert wird dabei darüber, dass diese Stellen nicht ansatzweise die Professuren ersetzen, die in den letzten 15 Jahren faktisch gestrichen worden sind. Seit 2000 ist die Zahl der Studierenden in Deutschland um rund eine Million gewachsen. Im gleichen Zeitraum sind nicht einmal 10 000 Professuren hinzugekommen, das heißt, heute kommen über 100 Studierende mehr auf jede Professur (deren Betreuung natürlich überwiegend von Projektmitarbeiterinnen und unbezahlt Lehrenden gestemmt wird).

Ebenso wenig wird der erneute volkswirtschaftliche Irrsinn thematisiert, dass man diese 1000 Professuren längst hätte haben können, wenn man Juniorprofessorinnen nicht reihenweise wieder aus dem System gekegelt hätte. Diese auch schon als "tenured", als potentiell unbefristete Vorstufe zur Vollprofessur, angekündigten Stellen haben sich vielfach als bessere befristete und letztlich kaputt-evaluierte Mitarbeiterinnenstellen erwiesen, deren ursprüngliche avisierte Zahl von 6000 darüber hinaus nie auch nur annähernd erreicht wurde (es waren letztlich nicht einmal 1000).

Nicht nachgehakt wird schließlich auch, warum die neuen "Tenure Professuren" dasselbe nachweisliche Elend nur wiederholen sollen: wieder nur zunächst eine Laufzeit von sechs Jahren, dann "bei positiver Evaluation" (die wieder ein halbes Jahr braucht, Unmengen von Papier frisst und viele Vorwände liefert) eventuell eine Vollprofessur. Dabei ist schon jetzt klar abzusehen, dass bei unveränderter Exzellenz-Fixierung und unangefochtener Beibehaltung der Habilitation von diesen Stellen am Ende kaum etwas übrig bleiben wird. Ganz abgesehen davon, dass sich von den ehemaligen Juniorprofessorinnen viele gar nicht mehr auf die neuen Stellen werden bewerben können, denn sie sind inzwischen ja schon durch das System gelaufen und abgestürzt - und nun wird sich der Fokus, ganz im Sinne der "Spitzenforschung", auf neue, schnellere, jüngere Kandidatinnen richten, die sich noch fragloser verheizen lassen.

Es ist, als nehme man einem Kind immer wieder den Teddy weg, um ihn dann jedes Jahr ein bisschen abgefranster wieder unter den Weihnachtsbaum zu legen - in der Erwartung, dass es nichts merkt. Wenn das Kind aber doch etwas merkt, wird es ignoriert oder es wird ihm eingeredet, es täusche sich.

Ein Anrufer, der in die selbstzufriedene "Deutschlandfunk-Diskussionsrunde" die Klage über den eklatanten Mangel einer Vielfalt an längerfristigen Stellen an den Universitäten wirft, bleibt denn auch prompt ohne Resonanz. Als ein weiterer Anrufer deutlicher wird und von Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwächen bei vielen seiner Kolleginnen angesichts akuter Existenzangst berichtet, erntet er ein gemütliches Lachen des zugeschalteten Rektors der Exzellenz-Uni Aachen. Also, das könne er sich nun wirklich nicht vorstellen. Der Anrufer solle mal auf seine Webseite gehen, da gäbe es ganz viele spannende Angebote.

Schon wieder einer, der es sich einfach nicht vorstellen kann. Ausdruck eines Unisystems, das sich, im doppelten Sinne, über mangelnde Vorstellungskraft reproduziert und eigentlich schon längst daran zerbrochen ist.

Nächste Woche habe ich eine weitere Vorstellung bei meinem Entqualifizierer im Jobcenter. Ich werde ihm vorschlagen, dass sie mir eine Fortbildung in Gewerkschaftsrecht finanzieren. Das kann er sich bestimmt auch nicht vorstellen.