Exzellente Entqualifizierung

Seite 2: Bildungsstandort Deutschland: Die große Illusion

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Was sich eröffnet, ist ein System, das unter dem Exzellenz-Label sein herangezogenes Potential im großen Stil verschleudert und das volkswirtschaftlich Harakiri betreibt, indem es sich praktisch weigert, seinen Bildungsauftrag zu erfüllen. Ich bin zum Glück nicht die Erste, die das sagt. Seit Jahren weisen Resolutionen und Abschlussberichte wissenschaftlicher Verbandstagungen auf den eklatanten Widerspruch hin, der zwischen der zunehmend mangelnden Ausschöpfung eines Reservoirs ausgebildeter Wissenschaftlerinnen und der immer stärkeren Befüllung dieses Reservoirs unter dem Mantra "Wir brauchen mehr Studierende, wir brauchen mehr Akademiker" besteht.

Es ist offensichtlich, dass die Zahl der Studierenden zunehmend die tatsächlichen Investitionen in das Bildungssystem ersetzt, vor allem in deren Unterricht. Viele Studierende machen sich gut im Image des vielbeworbenen "Bildungsstandorts Deutschlands" (das seit Jahren auf dem drittletzten Platz der OECD bei den Bildungsinvestitionen liegt, das heißt von über 30 Ländern). Es darf nur keiner fragen, unter welchen Bedingungen das Studium abläuft (und wofür es eigentlich gut sein soll).

Interessanterweise tut das auch kaum jemand, am wenigsten die Studierenden selbst, die größtenteils gar nicht wissen, dass ihre Dozentinnen nicht bezahlt werden. Weil es ihnen niemand sagt und weil sie nicht fragen. Viele nicht nur deshalb, weil sie immer rasanter durchs Studium gepeitscht werden, um schnell "fit für den Arbeitsmarkt" zu sein, sondern auch deshalb, weil ihre Vorstellungskraft nicht ausreicht. Sie kommen nicht darauf - und man muss ihnen das irgendwie zugute halten -, dass sie tatsächlich weitgehend unentgeltlich ausgebildet werden, solange sie nicht selbst massenhaft in unbezahlten Praktika sitzen.

Wenn es ihnen jemand öffentlich sagt, wie mein ehemaliger Professor am Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, Peter Grottian, der vor zwei Jahren erstmals deutlich auf die massenhaft unbezahlte Lehre hinwies und es auf den Punkt brachte, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen in Deutschland behandelt werden "wie der letzte Dreck"1, dann hat das allerdings kaum einen Effekt, auch unter den betroffenen "Nachwuchswissenschaftlerinnen" nicht. Man duckt sich lieber weg. Vielleicht komm ich ja doch noch irgendwie durch. Wenn einer es nicht mehr aushält, dann veröffentlicht er seine eigene Leidensgeschichte lieber anonym, sagt aber ganz offen, dass er das tut, weil er um seine letzten Chancen im System fürchtet.2 So funktioniert Entsolidarisierung.

Demonstrieren und streiken, wie kürzlich die Lecturers in England, die trotz Festanstellung und monatlichen Gehalts ihr Leben aufgrund rabiater Kürzungspolitik an den Universitäten nicht mehr finanzieren können: in Deutschland bislang undenkbar. Das liegt unter anderem daran, dass gewerkschaftliches, solidarisches Denken im Bildungssektor auch während der weitreichenden Verbeamtung im Nachkriegs-Wohlstands-Deutschland systematisch, und tatsächlich in Verletzung demokratischer Grundrechte, unterbunden wurde. Beamte durften, und dürfen, nicht streiken. Staatsdiener haben dem Staat (demselben, der nun seinen Bildungsauftrag verweigert) zu dienen und ihn nicht zu kritisieren. Folglich gibt es, über eine weitgehend folgenlose GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) hinaus, keinerlei Tradition von Studierenden- und Universitäts-Gewerkschaften, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, an denen die Bundesregierung ihre pompöse Werbekampagne für das Bildungssystem ausrichtet, allen voran den USA selbst.

Trotzdem hat es zu brodeln begonnen im zunehmend luftleeren Raum unbezahlter Lehre, unsicherer Drittmittel und, abgesehen von der Professur, ausschließlich befristeter, und immer kürzer laufender Projekt- und Mitarbeiterinnenstellen. Allerdings brodelt es bislang hauptsächlich hinter den schicken Kulissen, in einer Privatisierung des Leids, am Rande von Konferenzen und Tagungen, in persönlichen Gesprächen. Die drehen sich schon lange nicht mehr um den informellen fachlichen Ideenaustausch, sondern fast ausschließlich um die Bedrohung der akademischen Existenz: Wie lange läuft Deine Stelle/Dein Projekt noch?, Was machst Du dann?, Wie willst Du das schaffen?, Was für eine Scheiße alles. - So funktioniert wissenschaftliche Entleerung.

Immerhin: Interessant ist nicht nur, dass und ob öffentlicher Protest ausbleibt, sondern vor allem, dass das bereitwillige Schlucken des neoliberalen Grundsatzes - "Schuld an Deinem Problem bist nur Du selbst" - heute nicht mehr ganz so geschmeidig klappt. Gerade Wissenschaftlerinnen waren vielleicht besonders anfällig für die Internalisierung dieses Grundsatzes, denn der Zweifel und Selbstzweifel - Bin ich wirklich gut genug?, Ist meine Arbeit wirklich überzeugend?, Habe ich wirklich alles getan, was nötig und verlangt war?, Arbeite ich wirklich genug? - sind der akademischen Arbeit inhärent und müssen es sein.

Wenn man aber all diese Fragen guten Gewissens immer wieder mit Ja beantworten kann, ist es gerade das Training wissenschaftlicher Arbeit, das einen die Ursache des Problems zwangsläufig anderswo erkennen lassen muss (damit ist nicht gesagt, dass das nicht jeder vernunftbegabte Mensch auch außerhalb der Wissenschaft verstehen würde, und dort wird ja auch tatsächlich gestreikt).

Ausländische Wissenschaftlerinnen - Requisiten in einer Imagekampagne?

Zunehmend unruhig werden inzwischen nicht nur deutsche "Nachwuchswissenschaftlerinnen" - ein Begriff, der mittlerweile bis zur unsicheren Rente reicht -, sondern auch viele Doktorandinnen und Postdoktorandinnen aus dem viel umworbenen Ausland. Sie hatten sich anlocken lassen von den vergangenen Exzellenzinitiativen des Bundes und der in sozialen Netzwerken euphorisch verbreiteten Saga eines Deutschlands ohne Studiengebühren: Deutschland nimmt Flüchtlinge auf, Deutschland ermöglicht freie Bildung, Deutschland ist cool. Nun realisieren sie, dass sie nach Ablauf ihrer befristeten Anstellung in einem massiv unterfinanzierten und knallhart hierarchischen System oft ohne abgeschlossene Forschung und ohne Perspektive dastehen.

Eine junge Historikerin aus Indien, wo ich seit vielen Jahren unter zunehmend prekären Bedingungen forsche, sagte kürzlich in einem Gespräch am Rande einer Tagung: "Deutschland schien eine echte Alternative zu bieten. Aber hier gibt es ja überhaupt keine Aufstiegsmöglichkeiten, man ist entweder Professor oder gar nichts. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen und hatte ein ganz anderes Bild von Deutschland. Ich weiß nicht, wohin ich als Nächstes gehen soll, es wird überall immer schwieriger. Aber ich frage mich auch, was ich hier eigentlich mache. Ich habe das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein."

Die junge Historikerin und unzählige andere internationale Forscherinnen, mit denen ich über die vergangenen Jahre Kontakt hatte, scheinen tatsächlich nicht mehr (gewesen) zu sein als Requisiten in einer Image-Kampagne der Bundesregierung - gemeinsam mit den unzähligen deutschen Wissenschaftlerinnen, deren (Projekt-)Verträge über immer kürzere Laufzeiten gehen (mittlerweile sind sechs bis acht Monate keine Seltenheit), und den massenhaft abgestürzten Juniorprofessorinnen (zwei Drittel dieser Stellen wurden teilweise trotz positiver Evaluation nicht in eine Professur überführt).

In hübschen Broschüren und bunten Internet-Auftritten firmieren sie als Ausweis eines weltoffenen, international anschlussfähigen und forschungsfreundlichen Deutschlands, tatsächlich aber werden sie zum Opfer eines an Drittmitteln erblindeten Durchlauferhitzers, einer zutiefst verfehlten Hochschulpolitik, die manisch zu "Spitzenleistungen" antreibt, ohne das Grundproblem in Augenschein zu nehmen. Und das funktioniert eben nicht, weil es in Deutschland immer noch besser läuft, sondern weil es anderswo genauso schlimm oder noch schlimmer ist.

Für viele, und besonders für die große Zahl der ausländischen Wissenschaftlerinnen, für die mit ihrer befristeten Stelle auch meist ihr Visum abläuft, bleibt am Ende nur noch, sich bedingungslos unter die Patronage einer Professur zu stellen, um irgendwie eine zumindest kleine Anstellungsverlängerung zu bekommen, die Abwanderung in ähnlich prekarisierte Unisysteme oder das Ausscheiden aus der Wissenschaft. Für die anderen, wenn sie nicht schamhaft bei Familie oder Partner unterkriechen können oder wollen (und das gilt natürlich wieder einmal hauptsächlich für Frauen), bleibt am Ende nur Hartz IV - und die Zwangsentqualifizierung.