FAZ schaltet lieber ab: "Propaganda, Verachtung und Hass"
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Für die Süddeutsche sind Leserforen angeblich wegen der "x-mal durchgekauten" Debatten langweilig, die Zeit hat die Leser-Empfehlungen für Kommentare wieder ausgeschaltet
Teil 1: Der Kampf um die Leserforen
Unmittelbar während der per Email geführten Korrespondenz mit dem Chefredakteur von Spiegel Online wurden (siehe Teil 1) überraschend mehrere Leserforen zum Thema zum Kommentieren geöffnet - bei Artikeln, die bereits einen bzw. vier Tage zuvor erschienen waren. Diese spontane Öffnung der Leserforen hatte er mir gegenüber zunächst nicht erwähnt. Ich entdeckte sie zufällig. Darauf angesprochen erwiderte der SPON-Chef: "Unter den von Ihnen genannten Artikeln haben wir nachträglich - nach Ihrem Hinweis - Foren geschaltet, weil sie sich gut für eine Debatte eignen."
Bei der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, FAZ.net, gab es keine Kurskorrektur. Dort erschienen im gesamten Monat Juni 19 Artikel zum Konflikt zwischen der Nato und Russland, von denen lediglich 2 (!) durch Leser kommentiert werden konnten. Eine Anfrage an den Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron, wie er sich das nahezu vollständige Fehlen von Leserforen bei diesem brisanten Thema erkläre, erbrachte nur eine indirekt formulierte Antwort.
Zunächst erklärte Blumencron - der vor seinem Wechsel an die Spitze von FAZ.net Chef bei Spiegel Online gewesen war - ausführlich einige seiner Leitlinien. Der Leserdialog sei der Redaktion "sehr wichtig". Deshalb halte man die Kommentarfunktion auch "grundsätzlich offen" und habe "ein ganzes Team zur Betreuung der Kommentare im Netz und auf Facebook aufgebaut". Die Kollegen seien kürzlich zur besseren Abstimmung in den Newsroom verlegt worden, was ein großer Fortschritt sei. Doch die konkrete Frage hatte ja gelautet, warum die Artikel zum Nato-Russland-Konflikt sich zu 90 Prozent nicht kommentieren ließen. Hierzu erläuterte Blumencron nur allgemein, nicht speziell auf das Thema bezogen, es gäbe "Grenzen des Machbaren":
Bei einigen Themen ist ein nicht unerheblicher Teil der Kommentierenden nicht an einem Austausch von Argumenten gelegen, sondern an einem Krieg mit Worten. Das kann andernorts geschehen, aber nicht auf unseren Seiten. Sie sind Räume der Diskussion, aber keine Schlachtfelder. Unter unseren Artikeln ist kein Raum für Propaganda, für Missachtung anderer, für Intoleranz, Verachtung und Hass.
Es sind übrigens ganz häufig gerade nicht die regelmäßigen Leser, die eine Debatte torpedieren, sondern Schwärme der Unvernunft, die sich rationaler Argumentation verschließen. Dies ist leider nichts Neues und gilt immer wieder für zwei Kernthemen der Politik: Nahost und Russland. Zuweilen allerdings versuchen wir auch bei diesen Themen eine Debatte aufrecht zu erhalten. Es bedarf dann mindestens der gleichen Energie auf Redaktionsseite, die in Recherche und Schreibe des eigentlichen Artikels geflossen sind. Das geht leider nur in unregelmäßigen Abständen.
Mathias Müller von Blumencron
Soll also ein Übermaß unflätiger Kommentare die Erklärung für das weitgehende Fehlen der Leserforen sein? Können die Forenmoderatoren bei FAZ.net tatsächlich den Schwall von Beiträgen voller "Propaganda, Verachtung und Hass" beim Thema Nato/Russland nicht mehr bändigen und werden daher die Leserforen dort vorsichtshalber gar nicht erst eingeschaltet?
"Grenzen des Machbaren" oder unbequeme Auseinandersetzung?
Direkt sagte Blumencron das zwar nicht, doch er legte es nahe. Die Angaben sind schwer überprüfbar. Ist es der Forenmoderation bei diesem Thema wirklich kaum mehr möglich, einen halbwegs zivilisierten Diskurs zu ermöglichen? Handelt es sich tatsächlich um "Grenzen des Machbaren"? Oder ist die Auseinandersetzung mit all den laut und teilweise schrill widersprechenden Äußerungen der Leser für die Redaktion auf Dauer einfach nur unbequem, so dass man lieber von vornherein den "Ausschaltknopf" drückt?
Auch anderes an der Argumentation erscheint fraglich. Die "Schwärme der Unvernunft", die der FAZ.net-Chefredakteur in den Leserforen in Sachen Nato/Russland verortet, könnte man bei diesem Thema genauso gut in der Politik (und in den Medien) finden - sofern man offenen Auges danach suchte. Doch wer dreht Politikern deswegen das Mikro ab? Wer setzt Journalisten deswegen vor die Tür?
Es lässt sich kaum bestreiten, dass nicht nur in Leserforen bei diesem Thema "ein Krieg mit Worten" stattfindet, sondern ganz real auf der großen politischen Bühne zwischen der Nato und Russland, sowie auch in den Leitartikeln und Kommentaren der Zeitungen. Warum aber sollen die - vergleichsweise machtlosen - Leser nun nicht das dürfen, was die Mächtigen auf der Hauptbühne längst vorexerzieren?
Blumencron ging auf dieses Argument nicht ein. Stattdessen wiederholte er, dass das Leserforum bei FAZ.net kein "Ventil der Wut und des Hasses" sein solle. Man wolle "keine Schlachten mit Propagandisten in unseren Kommentarspalten". Dieser Einwand klingt zunächst verständlich. Doch selbst wenn man dem zustimmt, wo zieht man dann die Grenze? Ab wann ist es keine heftige, vielleicht laute, ja sogar schrille Debatte mehr, die aber womöglich dennoch wichtig für den öffentlichen Diskurs und die Meinungsbildung ist? Ab wann handelt es sich um eine von Seiten der Redaktion präventiv zu unterbindende "Schlacht"?
Man stößt hier auf einen inneren Widerspruch, denn etwas, das von vornherein verhindert wird (sprich: kein Leserforum beim Artikel geschaltet), das kann natürlich auch nicht aus dem Ruder laufen. Der Unterschied ist vergleichbar einem Demonstrationsverbot gegenüber der Einschränkung einer Demonstration. Man könnte daher argumentieren, dass vor das präventive Abschalten von Leserforen eine weit höhere Hürde gelegt werden sollte, als vor das - auch nicht unproblematische - Löschen von Leserbeiträgen.
Wo aber liegt diese Hürde aktuell? Wenn nicht völlig willkürlich entschieden werden soll, nach Stimmung, Tageslage oder womöglich politischer Orientierung der Chefredaktion, dann braucht es dafür transparente Kriterien.
Oder aber, noch einfacher und transparenter: Man lässt das Abschalten der Foren gleich ganz und ermöglicht einen ständigen und offenen Austausch der Leser. Einige Medien, wie etwa Zeit Online (oder auch Telepolis) handhaben es bekanntlich seit Jahren so. Unmöglich ist das also nicht. Die Abschaltung von Foren bedarf einer überzeugenden (!) Begründung, umso mehr, wenn Mitbewerber offenbar ohne größere Probleme, auch bei brisanten Themen, mit den freigeschalteten Foren zurechtkommen.
Süddeutsche: 10 von 10 Artikeln nicht kommentierbar
Den Spitzenplatz in diesem Vergleich holt das Onlineportal der Süddeutschen Zeitung. Der Vergleich ist nicht ganz fair, denn Süddeutsche.de hat bereits 2014 die Leserkommentare unter Artikeln grundsätzlich abgeschafft (Zwischen Lesern und Lobbynetzwerken). Dennoch gibt es dort weiterhin ein Leserforum, wo die Redaktion jeden Tag 1 bis 2 Themen auswählt, über die das Publikum diskutieren "darf". Im Schnitt kamen die Themen dort im Juni auf jeweils 100 Kommentare - für ein Portal mit der Reichweite der Süddeutschen kaum nennenswert.
Im Juni erschienen bei Süddeutsche.de 10 Artikel zum Konflikt zwischen der Nato und Russland. Im Leserforum wurde das Thema im gesamten Monat jedoch nicht ein einziges Mal von der Redaktion als diskussionswürdig ausgewählt. Stattdessen gab es dort 7 (!) separate Leserforen zum Thema Brexit, immer noch 4 zur Fußball-EM sowie beispielsweise das wichtige Leserforum "Ihr Kondolenzbuch für Bud Spencer".
Nato/Russland, wie gesagt: 0 Treffer. Zu unwichtig? Bloß ein Zufall? Oder wieder die Angst vor den schrillen "Wut und Hass"-Postings? Chefredakteur Stefan Plöchinger stand für Fragen offenherzig Rede und Antwort. Er wies zunächst darauf hin, dass der Komplex Nato/Russland zuletzt Anfang Mai Thema im Leserforum gewesen sei. Doch stets, so Plöchinger, würden sich bei diesem Thema die Argumente wiederholen:
Das ist nicht schlimm, aber uns langweilen Redundanzen solcher Kalte-Krieg-Debatten eher, wie auch viele Leser, die sich in derlei Foren dann nur noch selten verirren. (Das war im Übrigen schon so, als man bei uns noch jeden Artikel kommentieren konnte: In diesen Themenbereichen tummelten sich immer nur die Gleichen, die sich sofort mit den immerselben Thesen an den Kragen gingen.)
Wir versuchen im Alltag des Foren-Teams am Newsdesk - wo die Entscheidung über die Debattenthemen des Tages getroffen wird - aus den leicht kalkulierbaren Polter-Pöbel-Schemata rauszukommen und Fragen zu stellen, die von vielen Diskutanten nicht schon x-mal auf dieselbe Weise durchgekaut wurden. Das Thema Russland/Nato ist einer der Klassiker der polarisierten In-Wahrheit-Nicht-Debatte geworden, das stellen wir immer wieder fest. Davon weniger und von Überraschend-Intelligentem mehr zu haben, ist unsere redaktionelle Leitlinie für Foren-Fragen.
Stefan Plöchinger
"X-mal durchgekaut"
Während Harms vom Spiegel also beim Fehlen der Foren noch mit "Zufall" argumentiert hatte, Blumencron von der FAZ mit einem Übermaß an Pöbelei, überraschte Plöchinger von der Süddeutschen mit einer anderen Begründung: "Redundanzen" - zu Deutsch: man langweilt sich bei den immer gleichen "schon x-mal durchgekauten" Debatten, fühlt sich intellektuell unterfordert und vermisst "Überraschend-Intelligentes".
Für ein Blatt, das, wie erwähnt, siebenmal in einem Monat von seinen Lesern den Brexit diskutieren lässt, ist das ein gewagtes Argument. Zudem wird auch hier wieder ein seltsam einseitiger Blick offenbar. Denn tatsächlich sind natürlich nicht bloß Leserkommentare auf Dauer "redundant". Ganz im Gegenteil: Fast der gesamte mediale Politikdiskurs, beinahe alles, worüber Politiker, Journalisten und Leser reden, ist nicht neu, sondern, "x-mal durchgekaut".
Man schaue sich die TV-Talkshows an, Plasberg, Will, Illner. Ständig wird dort mehr oder weniger über das Gleiche geredet, von denselben Personen mit den bekannten Argumenten. Nicht anders im Print: die Leitartikel, Aufmacher, Kommentare - immer wieder das selbe, die gleichen Gedanken, die bekannten Autoren - in Endlosschleife, insbesondere beim Thema Russland.
Nicht schön aber doch wahr: In diesem Umfeld findet Politik und Meinungsbildung nun einmal statt. Was mit der Forenumstellung bei Süddeutsche.de eigentlich durchgesetzt wurde, ist so auch weniger eine Veränderung des Diskurses hin zu einer frischeren, weniger redundanten Debatte, als vielmehr der stärkere Ausschluss der Bürger und Leser von eben dieser Debatte. Das sieht Stefan Plöchinger, Initiator der Umstellung, naturgemäß anders:
Ich würde Ihnen widersprechen, dass wir einfache Bürger ausschließen von der Debatte - wir führen fokussiertere Debatten als andere, aber die einzigen, die wir bitten, sich an den vielen möglichen anderen Orten im Netz auszutauschen, sind jene, die sich nicht an Umgangsformen halten. (…) Wissen Sie, wir haben inzwischen 50.000 Leser, die für die digitalen Plattformen der SZ bezahlen, und deshalb teile ich Ihre Einschätzung nicht, dass wir an den Interessen "der Leute" (die es nicht gibt, jeder Leser ist anders) vorbeischreiben. (…)
Ich will schon im Grundsatz dem Gedanken widersprechen, dass Journalisten auf neue Geschehnisse immer mit denselben Texten mit denselben Argumenten reagieren. Wenn man x-mal dasselbe schreibt, wird man irgendwann nicht mehr gelesen, weil man das Gegenteil von Neuigkeiten bietet.
Stefan Plöchinger
Der letzte Satz ist dabei vielleicht schon eine gute Beschreibung der Gegenwart, wo viele Leser sich in den letzten Monaten und Jahren ja tatsächlich von den etablierten Medien abgewendet haben, da sie nach eigener Aussage den Eindruck gewonnen haben, zu brisanten aktuellen Themen oft einseitige "Propaganda" serviert zu bekommen.