Fake News von oben? Wie seriöse Medien die Wahrheit verzerren
Medien bewerten Musk, Wagenknecht und FPÖ-Wähler. Dabei fehlen oft Maßstäbe für Urteile. Wertungen ohne Beleg sind allgegenwärtig. Woran messen wir eigentlich?
Jede Nachricht braucht eine Wertung, andernfalls bliebe sie eine belanglose Information. Diese Wertung muss bei journalistischen Nachrichten – wie auch bei privat übermittelten – keinesfalls immer vom Überbringer stammen. Meist ist es allein die Aufgabe des Rezipienten, seine individuelle Wertung vorzunehmen.
Die Ankündigung im Wetterbericht, es solle morgen regnen, schneien, heiß oder kalt werden, mag ein jeder unterschiedlich werten – aber die Nachricht wird eben bewertet.
Bei manchen Nachrichten ist es hingegen notwendig, dass sie selbst Wertungsvorschläge übermitteln. Daraus ergibt sich dann erst, warum eine Nachricht veröffentlicht wird: weil sich Menschen darüber freuen oder aufregen, weil sie kommentieren, fordern, warnen.
Deshalb gehört die Darstellung verschiedener Meinungen zur Vollständigkeit einer Nachricht oder eines Berichts. Meinungen bieten Hinweise für die Einordnung und damit für die individuelle Bewertung.
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Meinungsvielfalt ist unabdingbar
Wertungsmaßstäbe?
Stammen die Wertungen in Artikeln oder Sendungen nicht von Dritten (Politikern, Wissenschaftlern, Lobbyvertretern, Bürgern auf der Straße etc.), sondern von den Journalisten selbst, sollten sie ihre Wertungsmaßstäbe deutlich machen. "Das Buch ist toll" in einer Rezension kann nicht genügen.
Informationswert bekommt die Aussage erst mit ihrer Begründung. Je genauer diese ausfällt, umso eher können Rezipienten einschätzen, ob sie diese Bewertung wohl teilen würden, lägen ihnen alle nötigen Informationen vor (beim Buch: hätten sie es gelesen).
"Charakterloser Wirrkopf" Elon Musk
Auf Übermedien hat Johannes Franzen eine Kolumne geschrieben unter dem Titel: "Elon Musk ist kein 'Genie', sondern ein charakterloser Wirrkopf mit viel Geld".
Die Beweise dafür "stapeln sich seit einigen Jahren in unermessliche Höhe", meint Franzen. "Seine Ausfälle passieren vor einem Publikum von fast 200 Millionen Followern auf seiner eigenen Plattform. Und was sich hier abspielt, wirkt alles andere als genial".
Franzen verweist mit wenigen konkreten Beispielen auf öffentliche Äußerungen von Elon Musk, insbesondere auf X.
Allein angesichts der Output-Menge ließe sich vermuten, so Franzen, "dass dieses angebliche Unternehmergenie eigentlich nichts anderes mehr macht, als auf seinem eigenen Sozialen Netzwerk Zeit zu verschwenden".
Hört man sich hingegen Musk mal selbst an, etwa im Podcast von Lex Fridman (bei dem er schon wiederholt zu Gast war), kann man auch auf die Idee kommen, der Mann beschäftige sich noch mit anderen Dingen als seinen eigenen X-Posts.
Was ist hier der Maßstab, mit dem die "Zeitverschwendung" von Elon Musk bewertet wird?
Musks Äußerungen auf X seien "größtenteils Flirts mit den dunkelsten Gestalten der amerikanischen Rechten, Verschwörungstheorien über die angeblich gestohlene Wahl sowie rassistische und transphobe Hetze".
Für die Wertung "transphob" wäre wiederum ein Hinweis auf den Maßstab hilfreich. Denn anders als die Meisten, wohl auch die meisten Journalisten, ist Elon Musk an dieser Stelle persönlich in die Debatte um und Realität von Transsexualität involviert, nämlich über seine Tochter, die mal sein Sohn war, worauf Franzen nicht verweist.
Relevanter aber ist die Wertung, dass Franzen Musk jegliches Genie abspricht. Woran misst er das?
Über die unternehmerischen Tätigkeiten geht der Autor schnell hinweg: Musk würde zwar "seit ewigen Zeiten behauptet, er würde nun bald Menschen auf dem Mars ansiedeln", davon sei er aber nach wie vor weit entfernt.
Das Satellitennetz Starlink, unter anderem im Ukrainekrieg relevant und nicht von einem Staat oder Verteidigungsbündnis, sondern eben einem privaten Unternehmer betrieben, soll keine relevante Leistung, vielleicht eher mit Schreiben einer Kolumne vergleichbar sein?
Recycelbare Raketen, nicht etwa von der NASA entwickelt, sondern von Elon Musks Firma SpaceX, die gerade versucht, zwei Astronauten von der ISS zurückzuholen – regelrecht belanglos?
Musk lasse sich für Leistungen feiern, die er nie erbracht habe, meint Franzen. Er sei "schlicht ein privilegierter Tölpel (...), der im Goldrausch des Tech-Booms als Investor großes Glück gehabt hatte, um danach die nun auch nicht originelle Idee elektrischer Autos für eine progressive Oberschicht attraktiv zu machen".
Die Wertung "ich mag Musk nicht" hätte man auch ohne weitere Ausführungen akzeptieren können – jeder darf nach Belieben mögen oder nicht mögen. Aber für die Wertung, es handele sich bei dieser offenbar ja wenigstens medienrelevanten Person ausschließlich um einen "Wirrkopf" und "Tölpel", wären doch ein paar mehr Hinweise zum Bewertungsmaßstab notwendig.
Schließlich schreiben auch Bundesminister und Kanzler keine Gesetze selbst, entwickeln Vorstände von Pharmafirmen nur selten im Alleingang Medikamente, tragen Star-Dirigenten normalerweise keinen einzigen Ton zur musikalischen Aufführung bei.
Zu viel Wagenknecht?
Im Übermedien-Newsletter machte sich Lisa Kräher Ende September Gedanken darüber, ob es zu viel Sahra Wagenknecht in den Medien gibt.
Wenn man die öffentlich-rechtlichen Dokus über Sahra Wagenknecht aus den vergangenen zwölf Monaten zusammenzählt, kommen 379 Sendeminuten raus. Talkshow-Auftritte bei Maischberger und dergleichen sowie aktuelle Berichterstattung über Wagenknecht und ihre neue Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), sind da noch gar nicht dabei. (...)
Das ist schon beachtlich, wenn man bedenkt, dass Sahra Wagenknecht den Großteil der Zeit, in der sie da mit der Kamera begleitet wurde, einfache Bundestagsabgeordnete war bzw. später Vorsitzende einer neuen Partei, die nur wenige Mitglieder hatte und noch in kein Parlament gewählt wurde.
Übermedien-Newsletter, 28. September 2024
Kräher spricht damit eine geradezu klassische Journalismus-Frage an: Über wen oder was wird zu viel, zu wenig oder angemessen berichtet?
In der Theorie wird hier gerne der sogenannte "Nachrichtenwert" herangezogen. Der misst allerdings keine inhaltliche Qualität, sondern beschreibt schlicht die Verwertbarkeit von News. Dass Wagenknecht hier punktet, zeigen Zugriffe und Einschaltquoten. Aber ist es auch angemessen für den journalistischen Auftrag, Orientierungsangebote zu machen?
Entsprechend fragt Lisa Kräher: "Welcher andere Politiker bekommt als Person so viel Aufmerksamkeit? Mir fällt auf Anhieb niemand ein."
Dabei kann es unter Qualitätsgesichtspunkten allerdings nicht um die Quantität von Nennungen gehen. Weshalb Krähers folgender Einwand auch ohne Unterfütterung nicht greift:
Es ist angesichts dieses Doku-Überangebots auch ein bisschen lustig, dass sich Sahra Wagenknecht in der neuesten, fünfteiligen Doku "Inside Bündnis Wagenknecht", die seit dieser Woche in der ZDF-Mediathek zu sehen ist, darüber beschwert, dass ihre Partei in den Öffentlich-Rechtlichen zu kurz käme.
Übermedien-Newsletter, 28. September 2024
Denn wie schon bei der Diskussion um die Medienpräsenz der AfD angedeutet, müssen die vermittelten Inhalte betrachtet werden.
Was wissen wir Leser, Zuschauer und Hörer aufgrund der Berichterstattung über das "Bündnis Sahra Wagenknecht"? Was wissen wir über Donald Trump, die Erfolge und Misserfolge seiner vierjährigen Präsidentschaft? Was wissen wir über Elon Musk?
Meinungen haben wir zu vielen und vielem - aber woran wir das gemessen haben, dürfte uns in vielen Fällen selbst unklar sein.
Deshalb sei abschließend auf die Beliebigkeit von Vergleichswerten verwiesen - und wir bleiben auch hier zunächst bei Übermedien.
Wie viele Morde sind "viele"?
Ein Beitrag von Annika Schneider beschäftigt sich mit einer Behauptung von Jan Böhmermann zur Entwicklung der Zahl von Morden in Deutschland. In den Kommentaren gibt es dazu unter anderem folgende Reaktion:
Vor allem sind die Zahlen insgesamt furchtbar gering.
User "Thul" auf Übermedien
Verkehrstote 2023: 2.839
Alkohol: ca. 40.000
Rauchen 2017: 126.900
Wer wirklich Menschen retten will, hat andere Zielbereiche.
Das ist nun ein Klassiker in der Argumentation. Es ist kein unzulässiger "Whataboutism" ('Aber was ist mit...'), sondern schlicht ein verkehrter Wertungsmaßstab.
Darauf weist, mit anderen Worten, ein anderer Leser hin, der seinen Beitrag mit den Worten einleitet: "An dem Zahlenspiel ist derartig viel anstößig, dass es auf keine Kuhhaut geht".
Denn die meisten Ermordeten haben sich nicht selbst in eine mörderische Situation begeben, während die Gefahr des Straßenverkehrs jedem oberhalb des Kleinkindalters geläufig sein sollte. Wer Alkohol trinkt oder raucht, gefährdet seine Gesundheit selbst, die Risiken sind jedenfalls auch hier bekannt (und Hilfsangebote für Menschen, die meinen, die Kontrolle über ihr eigenes Leben in diesem Punkt verloren zu haben, vorhanden).
Wertungen ohne Wertungsmaßstab sind allgegenwärtig. Politischer Extremismus, Rassismus, Homophobie, Ausländerfeindlichkeit sind schnell vergebene Label, die keine Tatsachen, sondern Meinungen darstellen. Gleiches gilt für positiv konnotierte Etiketten wie klimafreundlich, weltoffen, liberal oder gar menschlich.
Wann sind Wähler unbeeindruckt?
Aber um mit einem unauffälligeren Beispiel zu schließen: In der Süddeutschen Zeitung war über den Wahlerfolg der FPÖ Folgendes zu lesen.
Zwei Tage vor dem Wahlsonntag bekam dann auch die Debatte über die Nähe der FPÖ zu Rechtsextremen und die Relativierung von NS-Verbrechen noch einmal neue Nahrung, als ein Video öffentlich wurde, bei dem hochrangige FPÖ-Politiker, darunter auch Nationalratskandidaten, ein SS-Lied sangen. Dem Zuspruch der Wähler für die FPÖ tat das offenbar keinen Abbruch.
Cathrin Kahlweit, SZ
Woran misst die Berichterstatterin, die Wähler seien davon unbeeindruckt geblieben? Immerhin schreibt sie selbst, die Stimmen für die FPÖ lägen über allen Prognosen vor der Wahl. Wenn letztlich also mehr Menschen FPÖ gewählt haben, als zuvor von Wahlforschern gedacht, könnten es problemlos auch noch mehr gewesen sein, die sich eigentlich für diese Partei entschieden hätten, wäre da nicht das Video gewesen.
Und natürlich können sich auch Bürger gerade deshalb für die FPÖ entschieden haben. In beiden Fällen wäre aber die Aussage, die jüngste Berichterstattung habe dem Zuspruch "keinen Abbruch" getan, falsch - denn einmal hätte er abgenommen, einmal wäre er erst neu entstanden.
Für die Wertung, die Wähler hätten auf die Berichterstattung nicht reagiert, fehlt die Grundlage, ob nun unbestreitbare Tatsache oder Wertungsmaßstab.
Wiederum ohne jede weitere Ausführung zu akzeptieren gewesen wäre die Wertung: "Ich verstehe diese Wähler nicht."
Wenn das auch von Journalisten eher als Arbeitsauftrag denn als Fazit verstanden werden sollte.