Fall Amri: Manipulationen durch die Polizei ziehen immer weitere Kreise

Seite 4: Fluchtweg immer noch nicht lückenlos rekonstruiert

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Auch sein Fluchtweg von Berlin über Emmerich und Frankreich nach Italien ist nicht lückenlos rekonstruiert. Unklar ist vor allem, wie er von Berlin nach Emmerich an der niederländischen Grenze gekommen ist, wo er eine Wohnung hatte.

Dennoch soll Amri in Deutschland keine Helfer oder Mitwisser gehabt haben. Auch im Kreise von Personen nicht, mit denen er zum Teil seit Jahren in Kontakt stand oder die mit dem IS sympathisierten. Zwei von ihnen wurden danach nach Tunesien abgeschoben. Unterstützung und Anleitung soll Amri möglicherweise aus dem Ausland erhalten haben, so BAW-Vertreter Beck. Er stand mit IS-Aktivisten in Libyen in Kontakt. Die Kommunikation liege aber nur bruchstückhaft vor, weil Löschungen vorgenommen wurden. Das Video Amris, in dem er einen Treueeid auf den IS leistet, haben die Ermittler weder auf seinem Handy noch in "seiner Cloud" gefunden.

Ob V-Leute Kontakt zu ihm hatten und ob Amri selber eine Quelle war, diese Aspekte thematisierte Terrorfahnder Thomas Beck nicht.

An den Attentäter knüpft sich unverändert eine Unmenge von Fragen. Was war er? Ein überzeugter islamistischer Mörder, der allerdings bis wenige Wochen vor dem Anschlag Drogen verkaufte, selber nahm und Pornos konsumierte, ehe er sich kurzerhand zum Salafisten gewandelt haben soll? Jedoch: Genau das soll er nach Einschätzung der Behörden bereits schon einmal gewesen sein. Im Frühjahr 2016 galt er als religiöser Fundamentalist und Gefährder, der sich dann im Sommer 2016 ent-islamisiert haben müsste, um sich ganz säkular Sex, Drugs und Rock n Roll zu widmen - ehe er sich im Herbst erneut islamisierte? Seltsame Wendungen.

Ausreisen oder nicht ausreisen?

Warum handelte Amri, wie er handelte? Wollte er weg aus Deutschland oder wollte er bleiben? Im April 2016 äußerte er gegenüber einem Freund, der Amris Reisepass in einer Moschee fand, er brauche den Pass nicht mehr. Doch im Juli 2016 brauchte er ihn auf einmal wieder. Er wollte er aus Deutschland ausreisen und wurde von der Bundespolizei daran gehindert. Später hieß es, man habe ihn abschieben wollen, aber keine Handhabe gehabt.

Warum handelten die Sicherheitsbehörden, wie sie handelten?

Der scheidende Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele (Bündnisgrüne) äußerte, gestützt auf Informationen unter anderem aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium, das für die Geheimdienste zuständig ist, folgenden Verdacht: War der Tunesier eine Quelle, mittels der auch die US-Sicherheitsbehörden Informationen über den IS erlangten? Amri soll konkret mit zwei IS-Aktivisten in Libyen in Verbindung gestanden sein. Nahm die deutsche Polizei den Gefährder nicht fest, weil dadurch sonst der IS gewarnt worden wäre? Und stand der Militärschlag der US-Armee im Januar 2017 gegen den IS in Libyen in Zusammenhang mit diesen Informationen?

Ströbele wörtlich: "Wer hält und warum all die Zeit seine schützende Hand über Amri?" Sollte sich seine These bewahrheiten und es hätte eine Absprache zwischen deutschen und amerikanischen Behörden gegeben, dann hätte auch die Polizei in Berlin sicher nicht ohne Rückendeckung von oben, sprich: die politische Führung, so gehandelt wie sie gehandelt hat.

Am Donnerstag beschließt das Abgeordnetenhaus die Einrichtung eines Amri-Untersuchungsausschusses.