"Falsch, schlecht und übel!"
Marcel Reich-Ranicki, Thomas Gottschalk und die Debatte über Qualität im Fernsehen
Eigentlich war das Fernsehen auf dem besten Wege in Frieden zu sterben. Wie die Musik-CD oder die SPD. In den letzten 40 Jahren war aus einer Zeit der Informationsarmut eine des Überflusses geworden. DSL oder DVD machen heute Drawn Together, House M.D. oder Dexter flexibler, schneller und nicht in misslungenen Synchronfassungen zugänglich. Bei den Untersuchungen zur Nutzung verlor das Medium dem entsprechend seit Jahren immer mehr an Bedeutung.
Auch, dass das Programm immer schlechter wurde, war zumindest außerhalb des Fernsehens selbst seit langem Konsens. Großes Aufsehen erregte diese Entwicklung allerdings nicht. Dann kam der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und sprach diese eigentlich triviale Wahrheit auf einer erst durch ihn ins Licht einer breiteren Öffentlichkeit gerückten Veranstaltung aus. Nachdem er sich offenbar mehrere Stunden Ausschnitte aus prämierten Sendungen wie "Deutschland sucht den Superstar" und Auftritte von "Comedians" ansehen hatte müssen, gab er der versammelten TV- und Politprominenz zur Kenntnis, dass er seiner Ansicht nach nicht in diese Reihe von "Blödsinn" gehöre, weshalb er den ihm zuerkannten Fernsehpreis nicht annehmen werde.
Die mit der Ablehnung ausgelöste Debatte beschäftigte trotz Finanzkrise und Billionen-Subventionen für Pleitebanken nicht nur die Feuilletons, sondern schaffte es auch auf die Titelblätter der Boulevardzeitungen, in Blogs, Foren und Social Networks. Ein Grund hierfür war sicherlich, dass sich zahlreiche andere Personen in die Diskussion einklinkten: Von Ranickis "Nachfolgerin" Elke Heidenreich über Dieter Bohlen bis hin zu seinem altem Erzfeind Günter Grass, der öffentlich verlautbarte, der unfreiwillig Prämierte habe mit seiner Show "Das literarische Quartett" die Literaturkritik "trivialisiert" und würde nur das kritisieren "was auf ihn selber zutrifft".
In zahlreichen Sendungen auf öffentlich-rechtlichen Kanälen wurden Rundfunkbürokraten nicht müde, die im internationalen Vergleich angeblich hohe Qualität ihrer eigenen Anstalten zu loben. Tatsächlich waren es vor allem ARD und ZDF, die im letzten Jahrzehnt nicht nur mit einer "Degetoisierung", sondern auch mit Propagandaskandalen auf sich aufmerksam machten: Sei es mit der Krankenhausserie "In aller Freundschaft", bei der die Pharmaindustrie an Handlungssträngen und Dialogen mitgeschrieben hatte, oder mit den Privatisierungs-Werbefilmchen eines Günther Ederer, die von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" finanziert worden waren. Und es waren gerade jene vermeintlich "kritischen" Magazine wie "Frontal21", "Panorama" oder "Report München", die beispielsweise in ihrer Berichterstattung zu Computerspielen oder zur Vorratsdatenspeicherung gröbere Falschinformation lieferten als die Privatsender.
Unterhaltung und Analyse
Schon während der Preisverleihung hatte Thomas Gottschalk, der die Gala moderierte, Reich-Ranicki angeboten, mit ihm eine Sondersendung zu machen. Am gestrigen Freitag wurde dieses "Aus gegebenem Anlass …" betitelte Gespräch im ZDF ausgestrahlt. Was den Unterhaltungswert betraf, konnte der ehemalige FAZ-Autor mit seinen schon aus seiner Zeit als Literaturkritiker gewohnten apodiktischen und pointierten Formulierungen durchaus überzeugen ("So etwas darf man nicht zeigen!", "Diese Leute sind nicht berufen, Preisrichter zu sein!"). Erfrischend war unter anderem sein mangelnder Respekt vor dem Musikclown Helge Schneider, den er offenbar unabsichtlich mit dem gar nicht so unähnlichen (aber in den Feuilletons weit weniger geschätzten) Soziolektkomiker "Atze Schröder" zu einer Figur vermengte.
Mut, so der alte Mann, wäre für das, was er bei der Preisverleihung gesagt habe, nun wirklich nicht notwendig gewesen: "Es gibt doch keine Gestapo mehr – was für einen Mut braucht man, um zu sagen: 'Das Programm ist schlecht!'". Möglicherweise ist es aber tatsächlich ein besonderer Mut alter Männer, der den paradoxen Effekt zu Folge hat, dass ihre Äußerungen häufig zum Erfrischendsten zählen, was das Fernsehen zu bieten hat. Möglicherweise auch deshalb, weil sie sich jenseits aller Karriere-Rücksichten Sachen an- und auszusprechen trauen, die sonst mit TV-Tabus belegt sind: Seien es weltpolitische Wahrheiten jenseits eines naiven Interventionismus-Wunschdenkens (Peter Scholl-Latour), die Inhalte des EU-Vertrages (Peter Gauweiler) oder eben die Qualität des Trägermediums selbst, die Reich-Ranicki zum Thema machte.
Die analytische Tiefe der Diskussion zwischen ihm und dem Quotenkönig hielt sich dagegen in Grenzen: Schon, dass sich die beiden Teilnehmer duzten, zog die Auseinandersetzung auf eine unnötig infantile Ebene. Gottschalk, der in Frisur und Kleidung gar nicht so weit entfernt von dem als Symbolfigur des Schlechten gebrandmarkten "Atze Schröder" war, stellte den stetigen Qualitätsabfall als Sachzwang dar und warnte vor angeblich noch schlimmeren Untiefen im Internet. Reich-Ranicki wollte dagegen das Quotenargument für gebührenfinanzierte Sender nicht gelten lassen und sah die Verantwortung bei Intendanten, Managern und Preisrichtern.
Möglicherweise war es tatsächlich die von der Goldbären-Werbefigur angesprochene Konkurrenz des Privatfernsehens, die eine Abwärtsspirale in Gang setzte, auf der sich auch die öffentlich-rechtlichen Sender nach Unten bewegten: Kaum sendete RTL mit "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" die erste Daily Soap, versuchte die ARD schon mit "Marienhof" und "Verbotene Liebe" das Niveau zu unterbieten. Mit anderen Formaten lief es ähnlich. So verschwamm das Fernsehprogramm aller großen Sender mehr und mehr zu einer Meta-Reality-Soap, in der immer die gleichen "Promis" auf verschiedenen Kanälen in handlungs- und aufwandsfreien Produktionen zu sehen sind.
Die Schuld der Landesmedienanstalten
Allerdings hatte man sich bei der Einführung des Privatfernsehens nicht für ein wildes Drauflos-Sendenlassen oder für eine Versteigerung der Frequenzen entschieden, sondern für ein Genehmigungsmodell über Landesmedienanstalten, die genau solch eine Abwärtsspirale verhindern sollten, aber in ihrer Aufgabe offenbar noch mehr versagten, als die Finanzaufsichtsbehörden in der derzeitigen Bankenkrise (die wenigstens eine mangelnde internationale Regulierung als Entschuldigung vorbringen konnten). Das Problem liegt deshalb möglicherweise nicht allein bei den Chefs von ARD und ZDF, sondern bei diesen Landesmedienanstalten, die Sendern Lizenzen erteilten, bei denen die Polizei sofort einschreiten müsste, wenn sie ihr Geschäftsmodell nicht auf öffentlich verteilten Frequenzen, sondern als Hütchenspieler am Straßenrand darbieten würden.
Wie Fernsehen sein könnte (und wie es offenbar einmal war), das konnte man vor einer Woche spätnachts auf Phoenix sehen: in einer Wiederholung des 1966 von August Everding inszenierte Dokumentarspiels "Der schwarze Freitag". Ein Stück, in dem der Zuschauer bemerkenswert viel über das erfahren konnte, was in den gefühlten tausend Talkshows und "Informationssendungen" zur Finanzkrise auf der Strecke blieb: Nach welchen Strukturen der Finanzmarkt funktioniert, welches Handeln, welche Motive und welche Ideologien er hervorbringt und begünstigt.
In den "aktuellen" Beiträgen zur Finanzkrise sah man dagegen ganz überwiegend jene ewiggleichen Gesichter, die Jahrzehnte lang in Rosenkranzmanier die Deregulierung forderten, welche nun als Ursache der Misere ausgemacht wird: Hans-Werner Sinn (der noch 2005 warnte, "dirigistische Eingriffe in die Kapitalmärkte [würden] die Funktionsweise der westlichen Wirtschaftsordnung unterminieren"), Michael Glos (der öffentlich beklage, dass den Deutschen durch ihre Zurückhaltung am Aktienmarkt "enorme Chancen" entgehen würden, weshalb sie vom Staat zu ihrem Glück gezwungen werden müssten), Peer Steinbrück (der mit einem "Deutschlandfonds"-Modell die Rente von Börsenschwankungen abhängig machen wollte), Friedrich Merz, Hans-Olaf Henkel, Dieter Hundt oder Hilmar Kopper. Da fragte sich möglicherweise nicht nur ein Marcel Reich-Ranicki, wie sehr jemand daneben liegen muss, um in solchen Sendungen nicht mehr als "Experte" zu gelten. Dass solche Programme dann entsprechend ernst genommen werden, darf eigentlich auch Intendanten und Programmdirektoren nicht verwundern.
Wir haben zu diesem Thema eine Umfrage gestartet: Welche Sendungen sollten für einen sofortigen Lizenzentzug reichen?