Feiern bis zur Depression

Die derzeit nach der kollektiven Depression herrschende Hochstimmung ein künstliches Produkt, bei einer Niederlage der deutschen Mannschaft und am Ende der WM wird sie schnell in sich zusammenbrechen

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Ganz Deutschland scheint momentan auf einer schwarzrotgelben Partywelle zu schwimmen. Als "schwarzrotgeil" betitelte die "Bild" die Stimmung in Deutschland, die selbst die Deutschen erstaunt. Auch die ausländischen Gäste sind überrascht über die neu erwachte Fröhlichkeit der Deutschen, die gar nicht so passt zu den gängigen Klischees, die man im Ausland über Deutschland hat. Sogar die englischen Blätter, normalerweise alles andere als deutschfreundlich, vor allem wenn es Fußballspiele zwischen Deutschland und England gibt, äußerten sich positiv über die Lebensfreude und die Unbefangenheit, mit der die Deutschen neuerdings ihre Nationalflagge schwingen. Doch dieser Hochstimmung könnte bald eine Depression folgen, da es bloß eine künstliche Phase der Freude ist.

Allein auf der Berliner Fan-Meile vor dem Brandenburger Tor versammelten sich 500.000 Menschen, um auf einer Großleinwand das Spiel Deutschland-Ecuador zu verfolgen. Eine Stimmung, die fast an Karneval erinnerte, herrschte auf der Straße des 17. Juni, nur dass die dort versammelten Menschen keine Kamellen und Umzugswagen, sondern Tore der DFB-Elf bejubeln wollten, was sie bekanntlich am Ende dann auch taten. Nach dem Anpfiff kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr –Menschen lagen sich in den Armen, auch wenn sie sich vorher nicht kannten, stießen auf den Sieg mit FIFA-Sponsor kompatiblen Bier an, um dann jubelnd durch die Straßen zu ziehen.

Über diese Welle der Freude, die von Flensburg bis nach Rosenheim das Land überschwappt, sind sogar die ausländischen Gäste überrascht. Selbst die Oberen der FIFA haben mit solch einer guten Laune nicht gerechnet und sind von der in Deutschland herrschenden Stimmung angetan. „Es ist eine beeindruckende WM-Atmosphäre, die wir hier erleben“, sagte FIFA-Präsident Joseph Blatter in Berlin. „Ich habe den Eindruck, dass ich hier zu Gast bei Freunden bin“, fügte er hinzu und dachte dabei vielleicht an die Verbrüderungsszenen, die zwischen deutschen und ausländischen Fans stattfinden. Schließlich soll sich keiner ausgeschlossen fühlen, wenn Deutsche feiern.

Am heutigen Samstag werden sich diese Szenen, zumindest vor dem Anpfiff, wiederholen. In allen deutschen Städten werden sich die Menschen wieder vor Großleinwänden versammeln, um sich mit den aufgemalten Deutschlandfarben im Gesicht das Achtelfinale gegen Schweden anzuschauen. Dabei gehen alle, egal ob Experten oder Fans, von einem Sieg aus, da die Skandinavier bisher in keinem einzigen Spiel überzeugen konnten. Es spricht also alles dafür, dass der Enthusiasmus weiterhin in den Alltag getragen werden wird, und die Deutschlandfahnen, die im Grunde genommen nicht mehr als ein Partysymbol sind, aus den Fenstern und auf den Autoantennen wehen werden.

Doch das Gemeine an der jetzt beginnenden Runde der Fußball-WM ist das K.O-System. Ein aus deutscher Sicht unglückliches Tor und die WM wäre für den Gastgeber, der sich aufgrund der bisherigen Spiele zu einem Geheimfavoriten gemausert hat, zu Ende. „Dies wäre eine Katastrophe“, sagte Jürgen Klinsmann bei einer Pressekonferenz. Der Teamchef meinte dies zwar aus sportlicher Sicht, doch auch für die Stimmung könnte dies der Fall sein, denn bei einer Niederlage droht eine kollektive Depression.

Psychologisch könnte dies nach Meinung einiger Medienpsychologen jedenfalls eintreten, da die momentan in Deutschland herrschende Hochstimmung ein künstliches Produkt ist. Kampagnen wie "Du bist Deutschland" oder "Initiative Deutschland", versuchten schon vor der Weltmeisterschaft ein neues, positives Gefühl für Deutschland zu wecken. Die Medien mischten dabei kräftig mit. Nicht nur liefen die "Du bist Deutschland"-Spots auf allen TV-Sendern, zudem fanden in den TV-Anstalten und Zeitungen auch Diskussionen über einen neuen Patriotismus statt. So debattierten bei Beckmann noch zwei Wochen vor Beginn der WM Florian Langenscheidt, Til Schwaiger, Gregor Gysi und Matthias Matussek über Gründe, auf Deutschland stolz zu sein. Und der "Berliner Kurier" verteilte als Beigabe vor der WM deutsche Fähnchen, die wegen der hohen Nachfrage heutzutage fast schon eine Rarität in den Geschäften sind.

Eigene Gründe und Erfahrungen, um auf dieses Land voller Enthusiasmus zu schauen, hat in den letzten Monaten dagegen kaum ein Deutscher gemacht. Vielmehr versetzten Arbeitslosigkeit, Hartz IV oder die Angst vor einem sozialem Abstieg die Deutschen noch vor einem Jahr in eine alle Gesellschaftsschichten übergreifende Missstimmung. Die Medien sprachen damals von einer kollektiven Depression, der Psychologe Wolfgang Schmidbauer veröffentlichte ein Buch über das "Lebensgefühl Angst" und vor der Berliner Volksbühne, wurde ein "Depressionsbarometer" aufgestellt – als Symbol für die miese Stimmung der Deutschen.

Spätesten nach dem Finale kehrt der graue Alltag wieder im Sanierungsfall Deutschland ein

Doch seit dem 9. Juni und dem 4:2 Erfolg im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica scheinen alle Sorgen vergessen. Drei gute Spiele von Ballack, Poldi und Klose haben ausgereicht, um die Deutschen in eine bis dahin nie da gewesene Hochstimmung zu versetzen. Diese Siege waren jedoch nur das i-Tüpfelchen auf die Vorarbeit, welche die Stimmungsmacher in ihren Think Tanks geleistet haben. Und die Medien, die jeden Tag über die tolle Partystimmung in Deutschland berichten, tragen mit ihrer Berichterstattung einiges dazu bei, damit es auch so bleibt. Die Freude scheint einfach alles zu beherrschen und die negativen Seiten des Lebens zu verdrängen.

Falls Deutschland gegen Schweden jedoch verlieren sollte, würden die euphorischen Träume von dem vierten WM-Titel einer Depression folgen. Denn der Gegner scheint sportlich gesehen alles andere als gleichwertig. Nur ein knapper 1:0 Sieg gegen Paraguay und eine einzige gute Halbzeit gegen England reichten den Schweden, um sich ins Achtelfinale zu erzittern. Für Netzer, Klopp & Co. zu wenig, um gegen die überzeugenden deutschen Jungs zu bestehen. Wenn die Schweden jedoch das Gegenteil beweisen, würden das viele der heute noch so feiernden Deutschen als eine Schande verstehen. Mit einer Niederlage gegen eine Weltklasse-Mannschaft wie Argentinien, Brasilien oder Italien könnte man noch leben, aber nicht gegen eine mittelklassige Nationalelf aus dem Norden Europas. Diese Niederlage würde den Deutschen vielmehr ihre eigene Mittelklassigkeit, die seit zwei Wochen vergessen zu sein scheint, wieder vor Augen führen, und dies würde wehtun. Man würde wieder die Sorgen, die Probleme und die Ängste des Alltags spüren – die Nation wäre psychologisch depressiv.

Bessere Aussichten erwartet die Nation bei einem Sieg der DFB-Mannschaft gegen Schweden aber auch nicht. Selbst wenn Klinsmann und seine Spieler das Wunder schaffen und sie ins Finale einziehen sollten, droht der Nation nach dem 9. Juli eine Depression, auch bei einem eventuellen Titelgewinn. Denn am 10. Juli wird die in Deutschland stattfindende Party enden. Die Großleinwände, die Bühnen, die bemalten Gesichter und die vielen Gäste werden dann wieder verschwinden und der graue Alltag mit seinen Sorgen und Problemen wieder in Deutschland Einzug halten. Und dieses Erwachen, diese Auseinandersetzung mit der Realität, kann auch in ein psychologisches Loch führen. Ähnliche Phänomene haben Psychologen jedenfalls schon in anderen Ländern und Städten beobachtet, in denen sportliche Großveranstaltungen stattfanden. Die Depression scheint also unvermeidbar.