Filmreifes Ende einer langen Geiselhaft
Der kolumbianischen Armee gelang mit einer spektakulären Operation die Befreiung von Ingrid Betancourt und weiteren 14 Entführten
Sechs Jahre und vier Monate dauerte das Martyrium der Ingrid Betancourt in Geiselhaft der FARC-Guerilla (Die Herren der Selva). Am Mittwoch kam sie neben drei US-Amerikanern und elf Soldaten und Polizisten frei, nachdem die Armee die Rebellen nach monatelanger Spitzelarbeit und ohne Gewaltanwendung überrumpelte. Für die FARC-Guerilla gilt die Freilassung als weiterer Tiefschlag, nachdem hohe Köpfe der Rebellen durch Militäroperationen, Meuterei oder einfach natürlichem Tod in den letzten Monaten ums Leben gekommen sind.
Mit einem kleinen Rucksack und einer Armeemütze auf dem Kopf stapfte (Video) eine abgemagerte und schmalgesichtige, aber lächelnde Ingrid Betancourt am Mittwoch Nachmittag die Treppe des Armeeflugzeugs herab, das sie von einer Militärbasis in Zentralkolumbien auf den Luftwaffenstützpunkt in der Hauptstadt Bogotá brachte.
Die vielen Jahre Geiselhaft im kolumbianischen Urwald hatten die 46-Jährige zwar sichtlich physisch mitgenommen, aber nichts an ihrer persönlichen Stärke einbüssen lassen. Noch wenige Monate zuvor wurde über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand spekuliert. Sie sei schwer erkrankt und psychisch am Ende, warnten Angehörige und Freunde. Davon war nichts mehr zu spüren: Mit spitzem Humor erklärte sie vor dutzenden Journalisten, dass sie nach mehr als sechs Jahren Geiselhaft einen Doktortitel in Kenntnissen über die FARC-Rebellen errungen hätte und erklärte detailliert und gefasst den Ablauf der Befreiungsaktion, die sie wenige Stunden zuvor durchlebt hatte. „Die Operation war perfekt“, sagte Betancourt in einem Ton, als handle es sich dabei um ein Kunstwerk.
Den Entführern die Geiseln entführt
Weit entfernt davon war die Operation "Schach" (Video) im militärischen Sinne nicht. In spektakulärer Weise gelang es der kolumbianischen Armee, die FARC-Guerilla hinters Licht zu führen und eine weltweit wohl einzigartige Befreiungsaktion, bei der nicht ein Schuss fiel, in einen Erfolg zu verwandeln.
Die Armee, die offenbar bereits seit Anfang des Jahres über den Aufenthaltsort der Geiseln Bescheid wusste, schleuste mehrere Spitzel in die Rebellengruppe ein, die mit der Zeit das Vertrauen des zuständigen Rebellenchefs gewinnen konnten. Laut dem Verteidigungsministerium hätten sich die Streitkräfte dabei die prekäre logistische Situation der FARC zunutze gemacht. Diese hätten angebliche Befehle des FARC-Sekretariats zur Konzentrierung und Verlegung der Geiseln durch Hubschrauber gestreut, ohne dass der Rebellenkommandant die Anweisungen wegen unterbrochener Kontakte zwischen den Fronten und zum Sekretariat bestätigen lassen konnte.
Am frühen Morgen des vergangenen Mittwochs schlug die Armee schließlich zu: Zwei getarnte Helikopter der Armee näherten sich dem Rebellencamp in einem unzugänglichen Gebiet im Osten Kolumbiens, um die Geiseln zu verlegen. „Als ich die Besatzung mit ihren Che Guevara-Shirts sah, war ich sicher, dass es wieder nur Guerilleros waren“, so Betancourt, die noch zuvor hoffte, dass es sich um eine internationale Delegation handelte.
In Handschellen mussten sie die Maschinen besteigen, die für die Entführten kein Ende ihres Martyriums bedeuteten. Nachdem ihr Hubschrauber jedoch abhob, sah sie plötzlich den FARC-Kommandanten von der Besatzung überrumpelt und geknebelt auf dem Boden liegen. „Wir sind die kolumbianische Armee und Sie alle auf dem Weg in die Freiheit“, erklärten diese den verblüfften Passagieren. „Wir wären fast abgestürzt, so sehr sprangen, weinten und schreiten wir vor Freude in dem Hubschrauber“, erzählte Betancourt aufgelöst wenige Stunden später in Begleitung ihrer Mutter und ihres Ehemanns.
USA an Operation beteiligt
Neben der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin, die am 23. Februar 2002 entführt wurde, fanden elf Soldaten und Polizisten sowie drei US-Amerikaner die Freiheit wieder. Die US-Botschaft in Bogotá organisierte die umgehende Ausreise der Privatsöldner, die im Jahr 2003 bei einem Aufklärungsflug in einer Cessna von der Guerilla abgeschossen und verschleppt wurden, in die USA. „Wir haben mit der Befreiungsaktion nichts zu tun“, erklärte deren Botschafter William Brownfield in Bogotá und schob die volle Verantwortung der kolumbianischen Seite zu, die er für den Erfolg beglückwünschte.
Allerdings gab Gordon Johndroe, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in Washington zu, dass die US-Regierung bei der Operation geholfen habe. „Wir haben spezifische Hilfe geleistet“, so Johndroe, der keine genaueren Angaben über Details machen wollte, jedoch klar stellte, dass Washington seit der Entführung vor fünf Jahren eng mit Bogotá zusammen gearbeitet habe.
Die Vermutung liegt nahe, dass auch die letzten schweren Schläge gegen die Guerilla nicht allein durch die kolumbianische Armee zustande kamen. Anfang März attackierten die Streitkräfte ein Guerillacamp auf ecuadorianischem Territorium, bei dem der Vizechef der FARC, Raúl Reyes, umkam, und eine schwere regionale Krise ausgelöst wurde (Kolumbien riskiert den Krieg). Lokalisiert wurde dessen Position durch ein abgehörtes Satellitentelefonat, wofür es der kolumbianischen Armee an der benötigten Technik fehlt. Zudem sollen bei dem Angriff Bomben benutzt worden sein, die nur den US-Streitkräften zur Verfügung stehen (Ecuador und Kolumbien erneut auf Konfrontationskurs).
FARC-Guerilla steckt in Krise
Mit oder ohne US-Unterstützung: Die Befreiung von Betancourt versetzt die gescholtene FARC-Guerilla nun in eine schier ausweglose Lage. Die französisch-stämmige Politikerin galt neben den US-Amerikanern als bedeutendster Faustpfand gegenüber der kolumbianischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft für die Suche nach einen Gefangenenaustausch und Friedensgespräche. Erst kürzlich machte sich eine Delegation auf, um den Kontakt mit den FARC zu reaktivieren, nachdem diese durch den Tod von Reyes abgebrochen waren. Doch nach der Befreiung wurde die Liste „Auschtauschbarer“ auf Seiten der FARC auf 25 Entführte dezimiert, für die sich eine schnelle friedliche Freilassung in Luft aufgelöst haben dürfte.
Mit dem Befreiungsschlag vom Mittwoch ist zu erwarten, dass die Regierung in Bogotá kein Bedürfnis für Gespräche sieht und auf Militäroperationen setzt, die schon in der Vergangenheit zum Tod zahlreicher Verschleppter geführt hatten. Zwar dankte Betancourt ausgiebig Kolumbiens Präsident Uribe für seine Courage, appellierte jedoch indirekt an das Schicksal der Zurückgelassenen: „Dieser Moment der Freude soll uns nicht vergessen lassen, dass andere sterben mussten.“