Fix Congress First!
Der Harvard-Jurist Lawrence Lessig will mit einer Verfassungsänderung die Funktionsfähigkeit der US-Demokratie wiederherstellen
Im letzten Jahrhundert kamen Großtheorien nicht nur aus der Philosophie, sondern unter anderem aus der Ethnologie (Lévi-Strauss) und der Soziologie (Luhmann). Im 21. Jahrhundert sieht es so aus, als ob sich aus der Rechtswissenschaft Erkenntnisse entwickeln könnten, die weit über das Fach hinaus Wirkungen entfalten. Einer, der bemerkenswertes Potenzial zeigte, die Denkgrenzen der eigenen Disziplin hinter sich zu lassen, ist der Harvard-Professor Lawrence Lessig.
Ausgehend von der Fragestellung, ob die immer wieder verlängerten und erweiterten Immaterialgüterprivilegien tatsächlich die Zwecke erfüllen, die in der politischen und der öffentlichen Debatte vorgebracht werden, entwickelte er in mehreren Büchern sehr grundsätzliche Gedanken zur Interaktion zwischen Rechts-Code und Software-Code im Internet und zur Veränderung der Kultur durch technische Möglichkeiten, deren Entstehung man eigentlich in der Philosophie oder den Kulturwissenschaften erwartet hätte. Über diese Erkenntnisse aus den letzten zehn Jahren wendet sich Lessig nun in einem in der Nation veröffentlichtem Aufsatz Fragen der Demokratie und ihres Funktionierens zu.
Schien es ihm vor zwei Jahren noch, dass der Jurist Barack Obama, den Lessig seit 20 Jahren persönlich kennt, das Zeug und den Willen haben könnte, die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung im Kongress so grundlegend zu ändern, wie er es im Wahlkampf versprach, so konstatiert der ehemalige Gastdozent am Berliner Wissenschaftskolleg nun enttäuscht, dass der neue Präsident nicht einmal Anstalten machte, das Problem in Angriff zu nehmen und sich nicht wundern muss, dass er andere politische Ziele wie den Aufbau einer Gesundheitsversorgung für alle Amerikaner nicht durchsetzen kann.
Für Lessig liegt die Ursache des Problems weitaus tiefer als bei den Stimmanteilen von Parteien. Und tatsächlich hatten die Demokraten ja durchaus längere Zeit über in beiden Kammern Mehrheiten, mit denen sich Wahlversprechen verwirklichen hätten lassen. Wie Lessig richtig feststellt, lag das Scheitern also weniger an den Republikanern, als an demokratischen Senatoren und Abgeordneten, die erhebliche Wahlkampfzuwendungen von Pharma-, Versicherungs- und anderen Unternehmen und Branchenverbänden erhalten. Im derzeitigen politischen System haben sie kaum eine andere Wahl, als die Zuwendungen anzunehmen, wenn sie ihre Chancen auf eine Wiederwahl wahren wollen.
Nun, so Lessig als advocatus diaboli, könnte es ja sein, dass die Politiker dieses Geld (wie sie selbst immer wieder behaupten) annehmen und trotzdem unabhängige Entscheidungen treffen. Doch er entkräftet diesen Einwand mit der Feststellung, dass es nicht nur darauf ankommt, ob jemand tatsächlich korrupt ist, sondern maßgeblich auch darauf, welchen Eindruck die Bevölkerung hat. Umfragen zufolge verlor nämlich mittlerweile eine deutliche Mehrheit von 55 Prozent der Amerikaner das Vertrauen in den Kongress. Und wenn eine Mehrheit glaubt, dass die Arbeit der Abgeordneten nicht von den Wählern, sondern von Großspendern bestimmt wird, dann wendet sie sich von der Politik ab und bringt ihre Ideen und ihr Engagement anderswo ein.
Entscheidungen von anderen Kriterien als dem Gemeinwohl bestimmt
Zweitens lassen sich zahlreiche in den vergangenen Jahren durch den Kongress gebrachte Gesetzesformulierungen nicht durch ideologische Präferenzen erklären, sondern nur dadurch, dass Abgeordnete und Senatoren entweder dumm sind, oder dass ihre Entscheidungen von anderen Kriterien als dem Gemeinwohl bestimmt waren. Er, so der Lessig pointiert, habe nicht den Eindruck, dass die amerikanischen Volksvertreter dumm sind. Die Schlussfolgerung daraus spricht er nicht mehr explizit aus, sondern überlässt sie dem Leser.
Die Teilung in zwei Parteien und zwei politische Lager ermöglicht es dem Yale-Absolventen zufolge, dass die Fremdsteuerung von Politikern für die Wähler nicht so leicht sichtbar ist. So stritt man beispielsweise in der Gesundheitsdebatte um Strohmänner-Punkte wie eine angeblich drohende Euthanasie, statt um Fragen wie jene, ob für Scheininnovationen Monopolpreise gezahlt werden sollten. Tatsächlich missachteten Lessig zufolge sowohl Republikaner als auch Demokraten in den letzten Jahrzehnten die grundlegenden Wünsche ihrer Wähler grob: Republikaner blähten nicht nur die Budgets, sondern auch den Staat auf, und Demokraten bauten das Ungleichgewicht zwischen Konzernen und natürlichen Personen nicht ab, sondern aus.
Deshalb sollten die derzeit in "rechts" und "links" gespaltenen Protestbewegungen, die Tea Party und MoveOn, auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, ohne das beide Gruppen ihre Interessen nicht durchsetzen können: Eine Änderung der Arbeitsweise des Kongresses: Lessig schwebt hier eine Begrenzung der Wahlkampfspenden auf 100 Dollar pro Person an. Damit Bestechungsgelder nicht zeitverzögert nach dem Abschied aus der Politik ausbezahlt werden, hält er darüber hinaus eine siebenjährige Karenzzeit für nötig, in der Politiker keine Posten annehmen dürfen, die in irgendeiner Weise mit Etwas zusammenhängen, an dem sie während ihrer Amtszeit arbeiteten.
Weil der Supreme Court im Januar juristischen Personen das Recht auf Parteispenden in unbegrenzter Höhe zubilligte, hält Lessig einen neuen Verfassungszusatz für die einzig sichere Methode zur Umsetzung dieser Regeln. Die dafür nötige Mehrheit sieht er nicht in einer Partei oder im Kongress, sondern in einer Volksbewegung, die zwei Drittel der Bundesstaaten dazu bringen könnte, einen Konvent einzuberufen. Inwieweit einem Bundesstaat solch eine Zustimmung per Volksabstimmung aufgezwungen werden könnte, dürfte von den Detailregelungen der einzelnen Staaten abhängen. Bisher existiert lediglich eine Website und eine Petition, die Lessigs Änderungen propagiert.
Möglicherweise werden seine Vorschläge aber auch außerhalb der USA aufgegriffen: Nicht nur die postpolitische Karriere eines Gerhard Schröder oder die Mövenpick-Affäre der FDP zeigten in den letzten Wochen, Monaten und Jahren, dass es die amerikanischen Probleme auch in Deutschland gibt. In Österreich machen aktuell neue Enthüllungen zum Eurofighter-Kauf auf die strukturelle Anfälligkeit eines relativ bestechungsungeschützten politischen Systems aufmerksam und auf EU-Ebene wird das, was der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim "legale Korruption" nennt, nicht einmal mehr problematisiert.