Flanieren in den Datennetzen

Seite 2: Die Verödung des urbanen Raums

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Der Flaneur der Städte versucht, die letzten Splitter des Lokalen dem Untergang zu entreißen und läuft damit doch nur der Musealisierung des geschichtlich Gewordenen hinterher, das in den Innenstädten als Attraktion und als Oberfläche für die Touristen zu erhalten gesucht wird, denn die historischen Innenstädte sind bereits zu einer Art Stealth Bomber geworden, in deren Inneren sich die globale Kultur ansiedelt.

In gewissem Sinne hat sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit mittlerweile verkehrt. Ist man früher aus dem Haus getreten, um in die Öffentlichkeit einzutauchen, und hat man sich aus ihr zurückgezogen, in dem man Türen und Fenster hinter sich schloß, so haben die Medien Schritt für Schritt die Wände durchlöchert: im Inneren ist man mittlerweile direkter an das Außen und die Öffentlichkeit angeschlossen als in den beschränkten lokalen Räumen einer Stadt, in denen man vor allem die Einsamkeit übt - wie im Schweigen während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Durcheilen der Fußgängerzonen oder Warentempel. Im Inneren der privaten Räume vom Außen abgeschnitten zu sein, eröffnet heute für die meisten Menschen keinen Ort mehr einer beschützten Intimität, sondern nur noch Öde und Langeweile. Erträglicher ist die Überschwemmung mit Informationen allemal, als diese suchen oder erzeugen zu müssen. Nichts fürchtet man mehr, als an einen Ort verbannt zu sein, nicht mehr durch den Raum zappen zu können.

Obgleich man sich vielleicht länger als jemals zuvor in seinen Räumen aufhält, bewohnt man sie im eigentlichen Sinne immer weniger. Das Pendeln zwischen außen und innen, zwischen öffentlich und privat, hat bislang auch das Leben in der Stadt geprägt und es stimuliert.

Die Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.

Vilém Flusser

Doch nun scheint man sich immer weniger nach außen begeben zu müssen, um in Abenteuer einzutauchen, wird das Haus selbst mehr und mehr zu einem Parabolschirm, um Abenteuer für den Bewohner einzufangen, wobei sich gleichzeitig auch dessen räumliche Lage im Netz der Gewohnheiten verändert.

Noch ganz traditionell lokalisierte Flusser, der sich verzweifelt darum bemühte, aus seinem Schicksal der Vertreibung und der Emigration ein attraktives Vorbild für eine nomadische, heimatlose Existenz zu gestalten, seine Wohnung im Vertrauten.

Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohntem Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher - die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum.

Vilém Flusser

Gewohnt aber sind stets nur gewisse Orte und Wege zwischen ihnen in der Nahumgebung, während man oft mit fernen Orten und Ländern, die man häufig aufsucht, bereits viel vertrauter ist, man sich dort wirklich oder virtuell mehr aufhält als in der eigenen Region - und sei es nur über das Fernsehen. Es gibt keine parallel zur Entfernung mehr verlaufende kontinuierliche Abnahme der Vertrautheit. Schon um die nächste Straßenecke oder im nächsten Stadtviertel, vielleicht schon im nächsten Haus oder in der benachbarten Wohnung beginnt das Unvertraute, das einem verschlossener ist als weit entfernte Orte.

Selbst wenn die Pioniere der Netzwerke auch noch im Raum mobil sind, so könnte doch in Zukunft, wenn der Aufenthalt im Außen, auf den Straßen, Plätzen oder Parks, in den Freizeiteinrichtungen, Geschäften, Kneipen oder sogar an den Urlaubsorten immer weniger attraktiv werden: Verschmutzung, Lärm, Sicherheitsrisiken, Staus, Menschenmengen, denen man nicht auskommt, könnten aus dem Medienflaneur tatsächlich ein Net-Potatoe machen, das nur deshalb interaktive und immersive Medien benötigt, um die fehlenden Reize und Handlungsangebote zu kompensieren. Besonders die Kinder in der Stadt scheinen bereits an Körperlichkeit, an körperlicher Mobilität, zu verlieren, während die Feinmotorik und jene kognitiven Fertigkeiten, die man benötigt, um mit den Schnittstellen zum Cyberspace zurecht zu kommen, besser ausgeprägt werden.

Die modernen urbanistischen Visionen der körperlichen Betätigung auf dem begrünten Flachdach finden heute bereits mehr und mehr im Inneren der Häuser statt, in Schwimmhallen und Fitness-Studios, auf Home-Trainern und in der virtuellen Realität, wo man auf stationären Fahrrädern oder auf Skiern durch eine simulierte Umwelt fährt. Der gepflegte, fit gehaltene, gesunde und schöne Körper, der immer mehr durch gezielte Stimulantien, chemische Mittel und medizinische Eingriffe zu einem künstlichen Gegenstand der Sorge wird, könnte ein Übergangsphänomen darstellen, bis man sich an die virtuellen Körper und ihre Steuerung gewöhnt hat, bis man damit zurechtkommt, Erlebnisse in der virtuellen Welt als gleichwertig mit solchen in der realen Welt zu halten. Vorläufer dazu könnten all die künstlichen Erlebniswelten sein, in die besonders die Kinder gedrängt werden, während die Realitätssüchtigen noch den thrill in Ereignissen suchen, die den Tod heraufbeschwören und mit ihm spielen - am Gummiband in die Tiefe springen, ungesichert steile Felswände hinaufklettern oder kopfüber am Seil ein Hochhaus hinunterlaufen.

Der mobile Mensch verwandelt alles, einschließlich seiner selbst, in Transitzonen mit wechselnden Kulissen, aber immerfort stößt er an die Grenzen des Zappens und Navigierens, realisiert er trotz aller Individualität jene langweiligen Umgebungen, in die er sich nicht einfinden kann, an deren gestylten Flächen er abgleitet. Orte des Transits und des flüchtigen Aufenthalts gleichen sich aneinander an, verlieren jene Differenz, die aus der Seßhaftigkeit und Lokalität erwachsen: Hochhaussiedlungen, Flughäfen, Einzelhäuser in den Vororten, Tankstellen und Autobahnraststätten, Bürogebäude, Kaufhäuser, Bahnhöfe, Hotels, Supermärkte, Restaurants, Flüchtlingslager und Ferienorte erscheinen als Varianten einer gleichen Grundform, die sich über die gesamte Erde ausbreitet. Hier scheint man überall zuhause zu sein, weil man sich in den Standards auskennt, mit ihnen vertraut ist, aber gleichzeitig hält man es immer weniger dauerhaft dort aus.

Nicht Ankommen ist der Traum, sondern überall und immer die Möglichkeit des Aufbruchs zu besitzen und jede Verankerung hinter sich zu lassen. Doch gleichzeitig scheint die Angst zu wachsen, sich in den Labyrinthen des Gleichartigen, des monotonen Spektakels, zu verlieren. Allergisch reagiert man auf das Fremde, entwickelt Panik vor dem Unvertrauten, dem man sich nur noch in den simulierten Welten stellt, gräbt sich in Schutzburgen ein, um sich vor dem Andrang des Anderen zu schützen, um ihn nur aus der Ferne, etwa als aufgeheiztes Spektakel des Bösen, zu beobachten.

Und dort, wo sich die Menschen drängen, die unbeweglich und von der Informationsgesellschaft ökonomisch und technisch abgehängt sind, die also noch lokale Gemeinschaften bilden, findet man heute eher die neuen Gettos und Slums der gesellschaftlich Deklassierten, die sich mit den meist armen Immigranten aus anderen Ländern ihre Lebenswelt teilen. Die Innenstädte leben noch von den Büros, den Geschäften , Kaufhäusern, kulturellen Einrichtungen, Restaurants und anderen Orten der Freizeitgestaltung, aber es ist absehbar, daß durch das dezentralisierende Potential der Kommunikations- und Informationstechnologien viele dieser noch auf urbane Dichte angewiesenen Funktionen in die suburbanen Regionen und in den Cyberspace abwandern und so die Städte bestenfalls noch vom Tourismus oder der Freizeitindustrie leben oder zum Gefängnis der von der Informationsgesellschaft Ausgeschlossenen, der Alten, Armen, Ausländer, Alleinerziehenden oder Arbeitslosen werden, während die jungen und wohlhabenden Familien sich mehr an den öden Rändern der Städte ansiedeln, die Flaneur in den Straßen nichts als Langeweile zu bieten haben und so wiederum das Flanieren in den Medien und Netzen verstärken.

Viele Prognosen sagen, daß die Städte sich weiter gentrifizieren, daß sie sich in duale Städte umwandeln werden mit Gettos, die man ohne ernsthaften Grund nicht freiwillig betritt, und Zitadellen, die sich gegen Eindringlinge schützen und absperren.

Heute werden Städte ähnlich in einer geschützten und umschlossenen, meist durch und durch kommerzialisierten Version entweder als Themenparks wie in Disneyland nachgebaut oder im Cyberspace simuliert. Das dem vergleichbar, wie der erste durch und durch digitalisierte Film "Toy Story" noch einmal nostalgisch das Flair der alten Spielzeuge gegen den Schrott aus Plastik mit allerlei elektronischen Effekten hochhält. Im Film versöhnen sich alte und neue Welt, doch die alte Welt ist gleichzeitig nur noch eine Simulation. Woody, die Cowboy-Puppe, gelangt schließlich mit seinem Freund Buzz, dem Space Ranger, wieder vereint zurück in die heile Welt ihres Besitzers, in dem Woody eine Rakete auf dem Rücken von Buzz anzündet und sie beide gemäß dem Wahlspruch von Buzz - und von Disney - "In die Unendlichkeit und noch weiter fliegen."

Um die Unendlichkeit geht es nicht, aber um gut gesicherte Stadtsimulationen an der Peripherie, die den Flaneur zum Touristen oder Einkaufenden bzw. umgekehrt machen. Shopping Malls wie die West Edmonton Mall im kanadischen Alberta versuchen, die ganze Welt in ihren Mauern einzuschließen.

Suchte der Flaneur der alten Städte in deren Straßen nach Erlebnissen, so sind die analogen, simulierten oder virtuellen Städte reine Erlebniszonen, die dicht gepackt dem hungrigen Blick der jetzt zu Fußgängern mutierten Autofahrern die Attraktionen offerieren. Aber sie befinden sich nicht mehr wie einst die Kaufhäuser und Passagen im Zentrum der Städte, sondern irgendwo nahe an verkehrsgünstigen Standorten mit riesigen Parkplätzen.