Flanieren in den Datennetzen

Seite 3: Der neue Raum des Flanierens

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Waren die schnell wachsenden Städte des 19. Jahrhunderts die neu entdeckten Dschungel der Moderne, waren sie der Schauplatz, auf dem sich neue Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen vorbildhaft einschrieben und in dem die Technik und die von ihr erforderte Lebensweise am deutlichsten zu Tage trat, so haben die miteinander vernetzten Computer am Ende des 20. Jahrhunderts einen Raum hervorgebracht, der viele Merkmale der Urbanität besitzt und einen neuen Typus des Flaneurs hervorbringt.

Telepolis, die Stadt der Netze, die Stadt am Draht, ist noch weitgehend eine Baustelle, aber ihre bebaute Fläche erweitert sich stündlich durch neue Bruchbuden, Privatgelände, Villen, Freizeitanlagen, Firmen- und Staatsgebäuden und Edge Cities an.

In seinem Science-Fiction "Snow Crash" hat Neal Stephenson die Zukunft des Cyberspace als digitale Stadt ausgemalt, die bereits Schritt für Schritt Wirklichkeit wird. Im "Metaversum", der virtuellen Stadt, gibt es wieder eine gemeinsame Lebenswelt, in der sich Millionen von Menschen gleichzeitig aufhalten, während in der Wirklichkeit die lokalen Gemeinschaften zerfallen. Doch auch in dieser virtuellen Welt spiegeln sich die gesellschaftlichen Brüche der wirklichen Welt. Nur wer Geld oder Programmierkompetenz besitzt, kann sich in dieser Parallelwelt frei bewegen, sich private Grundstücke kaufen oder sich in einem maßgeschneiderten Avatar repräsentieren.

Wie überall muß man Baulizenzen erwerben und, wenn man nicht selbst Programmierer ist, sein Haus von Spezialisten erbauen lassen. Plätze direkt an der Hauptstraße sind am teuersten. Hier findet man Werbung, Geschäfte und Freizeitparks. Es ist eine durch und durch kapitalistische Welt. Im Metaversum darf man nicht unsichtbar sein und man muß seinen Avatar durch die virtuellen Räume bewegen, die auch wieder öffentliche und geschlossene oder private Räume kennen. Es gibt eine öffentliche Einschienenbahn, aber auch Software für Autos, Flugzeuge oder Motorräder, um schneller an andere Orte des Metaversums zu gelangen.

Öffentliche Plätze und Straßen dieser Art mehren sich ebenso wie die elektronischen Heime, genannt Home Pages. Sie aber sind keine privaten Heime mehr, sondern Arenen der Selbstdarstellung und Lockmittel der Kommunikation. Die Einwohner und Durchreisenden wachsen in Telepolis sprunghaft an, aber es gibt neben den öffentlich zugänglichen Stellen auch immer mehr verschlossene Bereiche, die man nur durch Anmeldung, die Entrichtung von Gebühren oder als Angehöriger einer Institution betreten kann, da sich im Internet immer mehr Intranets ansiedeln, die sich mit einer neuen Burgmauer, dem Firewall, umgeben. Noch immer kursiert zwar die Metapher vom Cyberspace als globales Dorf, die von McLuhan stammt, aber in seiner Unübersichtlichkeit und der in ihm möglichen Anonymität, in seiner globalen Ausdehnung und seinem Wildwuchs, erinnert er mehr an die neuen Megacities mit ihren vielen Millionen Bewohnern.

Telepolis, die Stadt am Netz, ist anders als die geschichtlich gewachsenen Städte, die einen verdichteten Kern mit alter Straßenführung und historischen Gebäuden besitzen, sich in der Peripherie ausdünnen, in der sich Wohnanlagen, Einzelhäuser, Bürogebäude, Einkaufszentren und Grünflächen befinden, und schließlich im Land auslaufen. Telepolis gleicht eher den Edge Cities dieses Jahrhunderts, einer Stadt wie Los Angeles, die sich endlos, ohne wirkliche Innenstadt, verteilt auf viele Zentren, hinzieht. Aber auch dieses Bild hinkt, wenn man sich im World Wide Web aufhält, einem computergenerierten Raum von Räumen, die dicht beieinander liegen, sich zwar immer mehr in dreidimensionale Räume verwandeln, die man auch durch eine grafische Repräsentation seiner selbst, einen Atavar, betreten kann.

Benjamin beschrieb den Flaneur der neuen Großstädte des 19. Jahrhunderts noch als Privatier, der sich demonstrativ müßig und in Vorahmung des Detektivs durch die Straßen als Figur des Übergangs bewegt.

Er erkundet das Terrain, ist wach, ein Sucher, erforscht die dunklen Ecken und hält sich auf den Märkten und in den Vergnügungsvierteln auf, durchwandert die Stadt, in der das Laben auch nachts nicht mehr erlischt, erlebt die Stadt als einen Themenpark. Das Bild vom Flaneur, das wohl jedem sich eingeprägt hat, der seine Schriften kennt, ist die skurrile Gestalt von jenen, die einst mit einer Schildkröte durch das schnelle Leben schlenderten. Davon freilich will der Flaneur in den Netzen nichts wissen.

Groß geworden mit der technisch geprägten Lebenswelt, die Geduld nicht kennt, weil jede Maschine ein Apparat der Beschleunigung und Vervielfältigung ist, kennzeichnet ihn vor allem der Schreck vor der Langsamkeit, der er ständig ausgesetzt ist, wenn er sich, unbewegt vor dem Monitor sitzend, durch das riesige Labyrinth des World Wide Webs klickt und, trotz immer schnellerer Techniken, darauf wartet, daß die von ihm gefundenen Texte, Bilder, Töne oder Videos sich aufbauen, um meist gleich wieder weggeklickt zu werden.

Gleichwohl ist der Netzflaneur ein Experte der Orte wie der Flaneur der Städte. Stets auf der Suche nach dem Unbekannten, kennt er alle schmutzigen, dunklen, extravaganten und innovativen Winkel des Cyberspace, der sich stets in Bewegung befindet und immer größer wird. Und natürlich ist er auch ein Kenner der Techniken, die ihm das Surfen durch die Orte und die flüchtigen Begegnungen ermöglichen. Ohne spielen und basteln zu wollen, ist einem das Netz verwehrt und hinkt man stets hinter der Avantgarde hinterher, der man als Netzflaneur angehören will.

Nostalgie kennt man nur als special effect. Der Netzflaneur ist sicher zerstreut, wenn man seine hektischen Bewegungen beobachtet, gleichzeitig ist er wie ein Zapper voller Aufmerksamkeit im Raum der Attraktionen, in dem ihm nichts entgehen soll.

Auch der Netzflaneur bewegt sich in einem Raum, der unübersichtlich ist, zu groß, um jemals erforscht zu werden, der detektivischen Spürsinn verlangt, um seine wenigen Geheimnisse zu offenbaren, der aber auch stets für Überraschungen und unverhofften Begegnungen mit anderen Flanierenden sorgen kann.

Der Flaneur der wirklichen Städte war zwar anonym, aber er mußte sich doch mit seinem Körper durch den Raum bewegen, war präsent und verletzlich, eine Gestalt, deren Identität sich trotz allen Spiels nicht verheimlichen ließ. Der Netzflaneur hat den Vorteil, sich in keiner Weise mehr preisgeben zu müssen, hinter einer nahezu unabreißbaren Maske bewegen zu können, weil er nicht nur immer unter einer fiktiven Identität auftreten kann, sich je nach Kontext einen anderen Namen oder ein anderes Erscheinungsbild seiner selbst in Form eines Avatars zulegen kann, sondern vor allem, weil der Cyberspace eine Stadt ist, die sich über die gesamt Welt erstreckt, in der alles nur einen Klick weit entfernt ist, in Wirklichkeit aber Tausende von Kilometern.

Die Dauer der Wege, die er durchschreitet, hängen nicht von der räumlichen Entfernung, sondern nur von den jeweiligen Schnittstellen ab: der Art des Netzes und seiner Übertragungsgeschwindigkeit, des Modems und des Prozessors. Der Netzflaneur hält nichts von der Schildkröte, sein Traum ist nicht einmal ein Jaguar oder ein Düsenjet. Auch wenn seine Bühne die mehr oder weniger öffentlichen Räume im Cyberspace ist, mag er die Straßen nicht, er liebt die Plätze und das Prinzip der Echtzeit, also überall immer gleich sein zu können, ohne sich bewegen und dadurch warten zu müssen. Wie in den Computerspielen, die gleichfalls meist ein Labyrinth darstellen, durch das man sich mit hoher Konzentration und größter Geschwindigkeit bewegen muß, hätte er am liebsten das Mittel der Teleportation zur Verfügung.

Aber er will nicht ganz, mit Haut und Haaren sofort an einem anderen Ort auftauchen, nur sein Vertreter soll dort sein und er telepräsent, jederzeit zum Rückzug oder zum Zappen bereit, wenn es langweilig oder zu klebrig wird. Der Netzflaneur wahrt die Privatheit, die sein letztes Bollwerk ist.