Flanieren in den Datennetzen

Was unterscheidet den Flaneur der Städte von dem der Netze? Nicht mehr die Städte sind die faszinierenden Räume der Gegenwart, sondern die virtuellen Welten. Es heißt Abschied nehmen, von einer vertrauten Figur der Moderne.

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Der Flaneur und die modernen Großstädte

Der Flaneur in den Straßen der Städte war einst der abenteuersuchende oder gelangweilte Zapper durch die Nischen und Winkel dieser ersten künstlichen Welten in der Geschichte der Menschheit, die im 19. Jahrhundert bekanntlich explodiert sind. Immer mehr Menschen wurden durch die Industrialisierung der Landwirtschaft und des Handwerks zu den großen Fabriken der Städte gezogen. Die alten Strukturen zerbrachen und es setzte eine gewaltige Landflucht ein. Es war das Zeitalter der Massen, der Massenproduktion, der Massenverkehrsmittel, der Massenmedien, der Faszination an und der Angst vor den Massen, in denen sich der Flaneur als vereinzelter bewegte.

Erstaunt und entsetzt erlebten viele Menschen im letzten Jahrhundert die riesigen Metropolen, die gesellschaftlichen Laboratorien der Moderne, die sich der Steuerbarkeit entzogen und in denen man, zumindest als Passant, als Fremder unter Fremden lebte.

So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen ..., ist doch ein eigen Ding. ... Diese Hunderttausende von allen Klassen und Ständen, die sich da an einander vorbeidrängen, ... rennen an einander vorbei, als ob Sie gar nichts gemein, gar nichts mit einander zu thun hätten ... Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Prvatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.

Friedrich Engels

Zugleich mit den Stadtlandschaften und ihrer von Massen bevölkerten, pulsierenden, gefährlichen, glitzernden, freizügigen und die gängige Moral sowie die familiären Beziehungen zersetzenden Lebenswelt entwickelte sich auch ein mit der Kritik an der Großstadt verbundener Kulturpessismus, die Bewegung der Gartenstädte, eines Zurück aufs Land.

Neue Wissenschaften entstanden in Reaktion auf die urbane Lebenswelt: die Soziologie, um die Massengesellschaft zu begreifen, und als romantischer Gegenentwurf die Ethnologie, mit der das Ferne, vor allem das nicht oder vorurbane, in kleinen sozialen Einheiten sich abspielende und klar geordnete Leben von vertrauten Gemeinschaften gegen die urbane Welt zum Vorbild erhoben wurde. Dazwischen bewegt sich die Psychologie, die sich mit den Konflikten des einzelnen gegenüber der Gesellschaft und den Gemeinschaften bewegt.

Der Widerspruch von Gesellschaft, mit der man die Stadt meinte, und Gemeinschaft wurde zu einer Reibefläche, an der sich die großen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts entzündeten und die noch immer für Unruhe sorgt - von den nationalistischen Einigelungen bis hin zu schichtenspezifischen Einbunkerungen.

Der den Städten seit je eigene Kosmopolitismus bricht die lokale Gebundenheit auf, da Städte stets nicht nur regionale Zentren, sondern auch Knoten überregionaler, nationaler und globaler Netzwerke waren. Großstädte waren so auch Motoren der Befreiung aus der Klammer der Tradition und trugen das permanente Versprechen von individueller Freiheit in sich. Sie waren eine zwar verwirrende, riskante und komplexe, aber deswegen auch chancenreiche Welt, in der man sich in der Menge verstecken und neue Verhaltensweisen ausprobieren konnte, in der alles möglich schien, in der die Individuen sich herausbildeten, die ja in ihren Verhaltensweisen keineswegs singulär sind, wohl aber nicht mehr getragen durch die selbstverständliche Rückbindung an Traditionen oder Normen von Gemeinschaften.

Das Nebeneinander und Durcheinander von unterschiedlichen Menschen, Schichten, Arbeitsformen und Lebensstilen, die Anbindung der Stadt an die Welt, der Durchzug des Fremden, der schnelle Wechsel der Moden, aber auch die stets herausfordernde Unwirtlichkeit der Stadt erzwingen einen Relativismus und eine Toleranz gegenüber Unterschieden, fördern aber auch die Bereitschaft zur Revolte und zur Bildung von Minoritäten jedweder Art.

Der Flaneur der alten Städte ist das Vorbild eines solchen modernen und mobilen Individuums, das sich durch die Masse, die Stadt und die Angebote des Marktes treiben läßt, sich seine Orte selbst konstruiert, aber sich auch nirgendwo niederläßt, getrieben von der Angst, etwas zu verpassen, von der Lust, stets auf Neues und Fremdes zu stoßen, und vom Ungenügen, es bei sich selbst auszuhalten. Darin eben gleicht der Flaneur dem Zapper, der durch die Medienangebote eilt, oder denjenigen Ready-made-Künstlern, die aus Vorgefundenem gleich welcher Herkunft sich ihre eigene Welt zusammensamplen.

Der Flaneur, nicht in die romantische Innerlichkeit flüchtend, weiß, daß sich das Exotische erschöpft, während er gleichzeitig vom weiterhin bestehenden Bedürfnis nach ihm Zeugnis ablegt. Deswegen versucht er, gegen den Strom der Masse schwimmend, aus dem Nahen und scheinbar Alltäglichen oder Banalen, aus dem, was in Reichweite liegt, einen Zauber zu schlagen. Vielleicht ist das aber schon als Rettungsversuch eines Untergehenden zu verstehen, das als lokales Überbleibsel noch Aura zu spenden vermag, während die Welt und vor allem die Städte immer mehr in eine ununterscheidbare Gleichförmigkeit versinken, gerade die global Cities sich immer angleichen und zur Umwelt einer weltumspannenden Gesellschaft werden.