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Seite 2: 2.) "Wiedervereinigung"

Dieser Terminus "Wiedervereinigung" klingt sehr positiv, harmonisch und gleichsam natürlich, ja selbstverständlich. Er ist aber in vieler Hinsicht mehr als fragwürdig.

1.) Die beiden Gebiete und Länder, also die beiden deutschen Staaten BRD und DDR, deren staatliche Einheit am 3.10.1990 hergestellt wurde, waren so, in dieser Gesamtgröße, vorher tatsächlich noch nie zusammen. Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte. Allein deswegen ist es sprachlich und logisch falsch, von "Wiedervereinigung" zu sprechen.

2.) Aber dieses Wort hat, genau betrachtet, eine Tendenz zur historischen Einebnung und zur Stärkung von Nationalstolz: Lasst uns (eher) nicht reden vom deutschen Faschismus und von dessen Vernichtungskriegs-Verbrechen, von den Konferenzen der Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam, lasst uns vergessen, dass die Währungsreform am 20.6.1948 nur in den drei westlichen Besatzungszonen, in der "Trizone", in Kraft trat.

Dass die BRD nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai 1949 dann spätestens mit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 7.9.1949 deutlich eher gegründet wurde als die DDR. Dass die sogenannte "Stalin-Note" vom 10.3.1952, mit der die Sowjetunion – warum auch immer – dem Westen ein einiges und neutrales Deutschland anzubieten versuchte, nicht zuletzt von Adenauer massiv zurückgewiesen wurde. Und so weiter.

"Wiedervereinigung" hingegen klingt nach: Warum und wie auch immer Deutschland geteilt war – es habe ja so kommen müssen wie dann mit der "Wiedervereinigung". Es sei gut, dass es so kam, das Ganze sei alternativlos gewesen.

Denn es sei ja gleichsam der ursprüngliche oder eben Normalzustand erneut hergestellt worden. An diesem "Wieder" ist meines Erachtens historisch und philosophisch ein "Telos" zu kritisieren, also ein vermeintlich vorgegebener, dem Lauf der Geschichte schon immer eingeschriebener höherer Zweck, der sich gleichsam wie ein Naturgesetz oder göttlicher Wille durchsetzte.

Solche Teleologie als angeblich (zu) geschlossene Modellierung wird übrigens von (Neo-)Liberalen gerne vorwurfsvoll in Stellung gebracht gegenüber sonstig systematischem Herangehen (wie z.B. jenem von Hegel oder Marx).

Statt "Wiedervereinigung" mehr oder weniger bewusstlos wiederzukäuen, sei hier faktizierend argumentiert: Es war am 3.10.1990 nüchtern betrachtet ein Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach dessen Artikel 23. Relativ sachlich ließe sich reden von "deutscher Einheit" im Sinne einer staatlich-politischen.

Kritisch wird gesprochen von Anschluss oder Übernahme, von Kolonialisierung oder – mit Blick auf den damaligen Kanzler – von "Kohlonialisierung".

Gegen die Mär einer "Wiedervereinigung" spricht nicht zuletzt, dass das Grundgesetz, welches ja seinerzeit in den drei westlichen Besatzungszonen ausdrücklich als Übergangslösung entstanden war, weiterhin gilt und zum Beispiel weder eine (neue) Verfassung zustande kam noch eine alte "wieder" in Kraft gesetzt worden wäre.