Flurfunk in der Krise

Wie ein Beitrag öffentlich-rechtlicher Sender auf "Instagram" zur Impfquote in Ostdeutschland in die Irre führt

"Funk" ist keine Kleinigkeit, auch wenn die Eigenschreibweise im vorliegenden Fall funk lautet. Gemeint ist das gleichnamige öffentlich-rechtliche Online-Content-Netzwerk, welches – unter Federführung des Südwestrundfunkes (SWR) aus Mainz – die ARD zu zwei Dritteln und das ZDF zu einem Drittel finanzieren.

Funk richtet sich an Personen im Alter von 14 bis 29 Jahren, die ansonsten kaum tradierte Medien und damit auch selten sonstige Angebote der öffentlich-rechtlichen Anstalten nutzen.

Auf der zum Meta-Platforms-Konzern (bis vor kurzem Facebook) gehörenden Plattform Instagram hat funk derzeit knapp eine Million Follower.

Die Reichweite von funk ist also auf Instagram und auch auf anderen ähnlichen Plattformen in der Zielgruppe der etwa 20-Jährigen also durchaus beträchtlich.

funk widmet sich dieser Tage der Frage "Warum ist die Corona-Impfquote im Osten so niedrig?" und hatte für seine Darstellung dazu bereits wenige Stunden nach der Veröffentlichung über 25.000 Likes erhalten.

Die funk-Sicht zum Thema erreicht offenbar viele vor allem jugendliche Mediennutzer und wird auch relativ häufig gutgeheißen.

Die Leute von funk schreiben:

Der Osten von Deutschland liegt bei vielen Impfungen vorn. Darunter Grippe, Diphtherie, Tetanus, HPV oder Polio – nur bei den Corona-Impfungen bilden die östlichen Bundesländer das Schlusslicht. In Sachsen sind aktuell zum Beispiel nur ca. 58 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft." Wichtig sei, schreibt funk, dass es nicht DEN einen Grund gebe für die niedrige "Impfquote" (gemeint hier "natürlich": "Corona-Impfquote", SeK) im Osten von Deutschland. Eine Rolle spiele aber beispielsweise "die tief verankerte Skepsis gegen den Staat".

Aus dem Beitrag von funk auf Instagram

Darauf sei auch der Zusammenhang zwischen hohen AfD-Wahlergebnissen und der niedrigen Impfquote zurückzuführen – beides sei Ausdruck eines "generellen Misstrauens in Regierung und Politik."

Die funk-Leute führen im Beitrag dann sechs Aspekte thesenhaft an, die als Faktoren zum Gesamtbild "Niedrige Corona-Impfquote in Ostdeutschland" gelesen werden könnten.

DDR in Bayern und Baden-Württemberg?

Erster Aspekt: In der DDR habe es 20 Pflichtimpfungen gegeben. Es könne jetzt die Gegenreaktion geben, dass sich Menschen nicht vom Staat zum Impfen zwingen lassen wollten. Diese Menschen fassten Ablehnung als Teil ihrer Identität auf.

Dazu wäre zu sagen: Inwiefern sollte gleich der erste Einfluss-Faktor gleichsam "von außen" kommen, also hier letztlich aus DDR-Verhältnissen? Entgegen landläufiger Mythen hat es in der DDR laut dem Berliner Sozialmediziner und Gesundheitspolitiker Heinrich Niemann genau eine Pflichtimpfung für alle gegeben, jene gegen Pocken, die es zugleich übrigens auch in der Bundesrepublik gegeben hat.

Niemann zufolge ist es ausgesprochener "Quatsch", dass die niedrigeren Corona-Impfquoten noch Ausdruck der DDR-Diktatur seien. Man betrachte dazu nur auch die niedrige Impfquote in weiten Teilen Bayerns und Baden-Württembergs.

Zum Unterschied zwischen den Impfkampagnen in DDR und der BRD sagt Niemann:

In der Bundesrepublik gibt es eine Liste mit Impfempfehlungen. In der DDR gab es eine praktisch gleichlautende Liste mit Pflichtimpfungen für Kinder. Aber wenn Eltern partout nicht wollten, haben sie unterschrieben und das Kind wurde nicht geimpft. Dann habe das Kind allerdings nicht in den Kindergarten gedurft.

Heinrich Niemann

Zudem sei eine Ordnungsstrafe möglich gewesen, "das wurde aber nie gemacht in der DDR".

Es erscheint an der Stelle wichtig: Versuche von Schuldzuweisungen an die DDR-Vergangenheit wie hier gleich im ersten funk-Faktor lassen Selbstkritik an den jetzigen ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnissen tendenziell überflüssig erscheinen. Oder wie es Niemann sagt: Es solle vor allem entschuldigen, "dass man nichts machen muss".

Zweiter Aspekt der funk-Faktoren: die Hypothese eines Zusammenhanges von Impfablehnung und AfD-Nähe, die eine Studie der TU Dresden belege. Sofern sich auf die MIDEM-Studie der TU Dresden bezogen wird, so werden schon in deren Zusammenfassung vor einem etwaigen Zusammenhang zwischen Impfskepsis und AfD-Nähe demographische Faktoren genannt, etwa geringes Einkommen und relativ niedrige formale Bildung, Aspekte also, die direkt mit der sozio-ökonomischen Wirklichkeit hier und heute zu tun haben.

Das zu thematisieren und zu problematisieren wäre vermutlich aufwendiger als das Etikett "AfD-nah".

Hatten die Sachsen beim "anfänglicher Impfwillen" die DDR vergessen?

Dritter Aspekt der funk-Faktoren: Organisatorische Schwierigkeiten im Ablauf der Impfkampagnen: Das Bundesland Sachsen zum Beispiel habe "im Frühjahr 27.000 Corona-Impfdosen zu wenig erhalten". Das könnte einen "anfänglichen Impfwillen" – wo sollte der denn hergekommen sein? – ausgebremst haben.

Dieses nur scheinbar selbstkritische Motiv von gelegentlichen Organisations- und Kommunikationsproblemen findet sich nicht nur hier, sondern oft, wenn Kritik und Kontrolle der gegenwärtigen Verhältnisse medial eher simuliert werden. Tenor: Im Großen und Ganzen stimme alles, aber hier und da gebe es halt Pannen. Auch dies entlastet von womöglich nötiger Grundsatzkritik.

Vierter und fünfter Faktor: Die dritte Welle sei zwar stark gewesen, aber viele dürften in ihrem Umfeld damals eher harmlose Corona-Verläufe erlebt haben. Zudem lagen die Corona-Zahlen im Sommer 2021 in den jetzt besonders betroffenen Regionen eher unter dem Bundesdurchschnitt, wie funk schreibt: "Zusammen mit Lockerungen könnte der Ernst der Lage so in Vergessenheit geraten sein."

Diese Phänomene sind sicher nicht von der Hand zu weisen, aber das fragwürdige Narrativ bleibt auch hier: Die (einzelnen) Leute kapieren es halt nicht, und damit sind sie letztlich verantwortlich. Die Ebene von "Gesellschaft" und deren Verantwortung für die Lage taucht kaum auf.

Wie schon Margaret Thatcher als eine der politischen Pionierinnen des Neoliberalismus gesagt haben soll: "There is no such thing as society.".

Last but not least funk-Faktor Nummer sechs: In Ostdeutschland gibt es nur wenige Konzerne und sonstige große betriebliche Organisationen. Daher seien auch weniger Betriebsärzt:innen vor Ort, wodurch diese als Bestandteil von Impf-Infrastruktur kaum eine Rolle spielten (im Unterschied zu Westdeutschland).

Auch dieses Phänomen ist treffend beobachtet, doch auch hier nicht ansatzweise soziale Reflexion: Warum ist Ostdeutschland in weiten Teilen deindustrialisiert, inwiefern wurden Polikliniken systematisch abgewickelt, weshalb gibt es kaum noch "Gemeindekrankenschwestern"?

Insgesamt erscheint dieser funk-Beitrag als typisch für viele Erklärungsversuche in reichweitenstarken und etablierten Medien: Als problematische Vermischung von oberflächlich wahrgenommenen Phänomenen, von Über-Individualisierung der Verantwortung und von Ost-West-Schieflagen. Von Eigentums- und Machtverhältnissen nicht zu reden.