Folter in Genua?
Gestern ist der erste Schub der in Genua während des G8-Gipfels Verhafteten nach Deutschland zurück gekehrt. In München gaben sie zusammen mit der Roten Hilfe e.V./Ermittlungsausschuss eine Pressekonferenz. Sie berichteten von Misshandlungen und Polizeiterror
Immer lauter wird der Protest gegen die brutalen Polizeieinsätze in Genua rund um den G8-Gipfel. Telepolis hatte bereits ausführlich und von vor Ort berichtet (Genua: "Diese Dinge geschehen", Angriff auf unbequeme Journalisten in Genua). Die meisten Medien berichteten inzwischen auch über Willkür und extrem hartes Vorgehen der Polizei. Nachdem die Abgeordneten Annelie Buntenbach und Hans-Christian Ströbele die Inhaftierten in Italien besucht und mit ihnen gesprochen haben, fordern die deutschen Grünen die Einsetzung einer unabhängigen internationalen Kommission zur Untersuchung der Polizeieinsätze in Genua (Vgl. Schockierende Einzelheiten über das brutale Vorgehen der italienischen Polizei). Die PDS hat sich der Forderung angeschlossen. Auch die Rote Hilfe, deren international vernetzter Ermittlungsausschuss sofort für die deutschen Gefangenen aktiv wurde, fordert eine sofortige Freilassung aller nach dem G8-Gipfel Inhaftierten und eine internationale Untersuchungskommission.
Amnesty International äußerte sich ebenfalls kritisch und forderte die italienische Polizei auf, ihr Verhalten zu überdenken.
In Italien lehnte der Ausschuss für Verfassungsangelegenheiten des italienischen Parlaments die Forderung nach einem Untersuchungsausschusses zur Klärung der Vorfälle in Genua ab. Es regiert Silvio Berlusconi - und von seinem Politikstil (Vgl. Über den Rubikon) ist nicht jeder begeistert.
Update
Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi hat heute gegenüber dem Parlament versichert, dass die Vorwürfe gegen Polizei untersucht werden würden: "Wenn es Übergriffe gegeben hat, werden die nicht gedeckt werden, die das Gesetz verletzt haben." Man dürfe aber nicht verwechseln, "wer das Recht und die Ordnung verteidigt und wer gegen Recht und Ordnung verstoßen hat."
Nach der italienischen Senatorin Tana De Zulueta hatte es zu lange gedauert, bis in Italien die schlimmsten Bilder der Ausschreitungen in die Medien kamen: "Das macht uns schmerzhaft auf die Tatsache aufmerksam, dass die Medien in diesem Land der direkten Kontrolle des Ministerpräsidenten unterstehen ... Es gab keine ernsthafte Auseinandersetzung, es gab keine genaue journalistische Berichterstattung, zumindest im Fernsehen, über das, was geschehen ist."
In einem Artikel der gestrigen Ausgabe der Zeitschrift La Repubblica äußerte ein italienischer Polizist schwere Vorwürfe gegen die Einsatzleitung der Polizei. Angehörige der Spezialeinheit Gruppo Operativo Mobile (GOM) hätten aus Rom den Auftrag erhalten, Leute auch ohne Grund festzunehmen. "Was in der Schule geschah und hier in Bolzanetto gemacht wurde, war eine Verletzung der Menschenrechte, ein Bruch mit der Verfassung. Ich habe versucht, mit den Kollegen zu sprechen, und wissen Sie, was sie geantwortet haben? Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, weil wir gedeckt werden."
Die Verhafteten wurden in dem "Lager" nach Angaben des Polizisten systematisch geschlagen und gedemütigt. Man stieß ihren Kopf gegen die Wand, manche Kollegen hätten auf Verhaftete uriniert, den Frauen sei Vergewaltigung mit dem Schlagstock angedroht worden.
Noch sitzen zwischen 50-100 Personen in italienischen Gefängnissen, viele wurden erst nach dem G8-Gipfel verhaftet, unter anderem 3 junge Männer aus Leipzig aus Leipzig, deren Auto kontrolliert wurde, als sie Genua verlassen wollten. Auch ein Münchner, der unter den selben Umständen wie alle anderen in der Schule verhaftet wurde, ist noch in Haft. Momentan ist noch unklar, warum er nicht mit den anderen frei gelassen wurde. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes waren insgesamt 70 Deutsche in Haft, von denen inzwischen die meisten frei sind, noch sind 15 Personen in Italien unter Arrest. Vier Verletzte werden in Krankenhäusern behandelt.
Auf der Pressekonferenz in München berichteten zuerst Fritz Burschel von der Süddeutschen Zeitung und Ralf Homann, Medien-Professor an der Bauhaus-Universität in Weimar, als Augenzeugen. Sie waren nicht verhaftet wurden, haben aber die Stürmung der Schule direkt beobachten können. Manche der Kollegen hätten das Vorgehen wie er abgelehnt, aber sie seien nicht energisch genug gewesen. In der Polizei gäbe es noch viel Faschismus.
Sie bestätigten, dass bereits die Grossdemonstration mit 200.000 Teilnehmern komplett mit Tränengas umnebelt wurde, obwohl völlig unklar war, ob es überhaupt irgendwo Gewalttätigkeiten gegeben habe. Schon im Vorfeld war ständig von "anreisenden Polit-Hooligans" und "Krawalltouristen" die Rede und entsprechend sei die Stimmung gewesen. Auch rund um die friedlichen Demonstrationen sei die Polizei ständig extrem einschüchternd und brutal durchgreifend aufgetreten, obwohl oft die Gründe dafür nicht ersichtlich waren. Unterwegs auf der Strasse haben die beiden auch einen auf dem Boden liegenden Verletzten gesehen, der stark blutete, die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte und vor Schmerz wie epileptisch zuckte. Die ganze Stimmung in der Stadt sei sehr aufgeladen gewesen, zumal die Einsatzkommandos immer wieder ganze Straßenzüge und Stadtteile unter Tränengas gesetzt hätten. Die Kollegen vom Fernsehen hätten sich von vornherein mit Schutzwesten, Helmen und Gasmasken versorgt.
Die Berichte auf der gestrigen Pressekonferenz bestätigen, dass der Polizeieinsatz bei der Stürmung beider Gebäude sehr exzessiv war. Es handelt sich um zwei einander gegenüber liegende Schulgebäude in Genua. Burschel (der als unabhängiger Journalist vor Ort war) und Homann (der wissenschaftlich die Indymedia-Berichterstattung beobachten wollte) waren Samstagnacht in der Scuola S. Pietro, in der das Indymedia-Zentrum untergebracht war. Zuerst stürmte die Sondereinheit der Polizei dort hinein und zerschlug alle Computer, bzw. beschlagnahmte die Festplatten. Die Anwesenden wurden aufgefordert, sich mit den Händen über dem Kopf auf den Boden zu legen, was sie auch taten. Nachdem die Beamten dort alles kurz und klein geschlagen hatten - wobei sie die Anwesenden in Ruhe ließen -, stürmten sie hinaus und dann in das gegenüber liegende Gebäude, die Scuola A. Diaz. Dort war das Internet-Café untergebracht. Die Scuola A. Diaz war eine offizielle Übernachtungsmöglichkeit des Genoa Social Forum (GSF). Dieser Ort galt auch wegen seiner Nähe zum unabhängigen Pressezentrum als besonders sicher, und viele junge Nicht-Italiener, die Angst vor Randale hatten, waren dorthin gekommen, um in Ruhe vor der Abreise zu übernachten. Manche kamen auch wegen des dort untergebrachten Infocenters, das über Sonderzüge informierte, oder wie zwei der Verhafteten einfach nur kurz zum Zähneputzen.
Von der Scuola S. Pietro aus konnte man gut beobachten, was gegenüber vor sich ging. Burschel ist immer noch entsetzt: "Ich wurde Zeuge des brutalsten Aktes von Polizeiwillkür, den ich je erlebt habe." Die Polizei schlug alles kurz und klein, hieb mit Gummiknüppeln auf die Anwesenden ein, kippte den Inhalt aller Rucksäcke auf den Boden, zerschlug alle Computer.
Eine der gerade aus Italien Abgeschobenen, Jeanette aus Weinheim, berichtete, dass die Carabinieri ohne irgendeine Erklärung wie die Berserker losstürmten und zuschlugen:
Es war eine ganz entspannte Stimmung, viele haben schon geschlafen. Die Fenster waren fest zu, weil es Angst gab vor Tränengas, die Polizei hat ja immer wieder ganze Straßen zugenebelt. Als die reinstürmten, saßen und standen alle sofort mit erhobenen Händen. Die Polizei hat einfach willkürlich drauf los geknüppelt.
Im Erdgeschoss gab es viele Verletzte. Es dauerte sehr lange, bis die erste Ambulanz kam. Jeanette versuchte mit dem Verbandzeug, das sie dabei hatte, notdürftig erste Hilfe zu leisten. Sie berichtet, unter den Verletzungen seien ein Schädelbruch gewesen, viele Prellungen und auch Arm- und Handbrüche.
Insgesamt wurden in der Schule 92 Personen verhaftet, davon waren 50 verletzt. Nach Stunden erst waren die Verletzten abtransportiert und die Verhafteten wurden in einen Kaserne gebracht worden, wo sie ca. 36 Stunden festgehalten wurden, bevor man sie auf die Gefängnisse verteilte.
Sie bekamen in der Kaserne erst am nächsten Nachmittag zu trinken, die Verköstigung bestand aus einigen Brötchen für die ganze Gruppe. Einige mussten bis zu 19 Stunden mit erhobenen Händen stehen, auch Verletzte sollten sich dort mit Gesicht zur Wand aufstellen. Stefan aus Berlin berichtet:
Wir mussten uns mit erhobenen Händen und Gesicht zur Wand aufstellen. Wir wurden beschimpft, von hinten getreten und geschlagen. Mir wurde auch von hinten eine beißende Chemikalie ins Gesicht geschüttet, die Haut ist immer noch extrem gereizt. Jede Bewegung, die einer machte, wurde mit weiteren Schlägen und Tritten beantwortet. Ich musste mich dann wegen einer ärztlichen Untersuchung ausziehen, obwohl den angeblichen Arzt meine Hautreizung im Gesicht überhaupt nicht interessierte. Nackt musste ich mir dann eine Art Folie überziehen, ohne Schuhe wurde ich in die große unmöblierte Sammelzelle geschickt, dort war eiskalter Steinboden.
Alle froren, waren verängstigt und hörten Geräusche, als würden Leute verprügelt. Keiner sagte ihnen, wo sie seien, weswegen sie verhaftet worden waren, Verletzte wurden nicht versorgt, es gab keine Belehrung über die Rechte, Dolmetscher wurden genauso verweigert wie der Kontakt zum Konsul oder zu Anwälten.
Vor allem in der ersten Nacht durften manche sich nicht einmal setzen. Ein Junge, der zusammenbrach, wurde gezwungen, sich nach draußen zu schleppen, keiner weiß, was weiter mit ihm passierte. Manche legten sich frierend auf den kalten Boden oder versuchten im Sitzen zu schlafen. Zwei Nächte und einen Tag waren sie dort, bevor sie auf Gefängnisse verteilt wurden.
Dort gab es wenigstens zu essen und zu trinken sowie ein Bett. Aber auch dort wurden die Verletzten nicht adäquat versorgt. Jeanettes gebrochene Hand steckt in einem vorsintflutlich aussehenden Gips, die Finger sind blau.
Am Dienstag durften alle einen Brief an den Botschafter schreiben und um Unterstützung bitten. Insgesamt waren sie vier Tage absolut ohne Kontakt zur Außenwelt. Die Anschuldigungen erfuhren sie dann erst vor dem Haftrichter, vorher durften sie nicht einmal die Anwälte sehen. Die Anklagen für alle lauteten auf Waffenbesitz, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung "Schwarzer Block". Die Waffen waren Baumaterialien aus der Schule (die gerade renoviert wird), Schweizer Taschenmesser und Reisebestecke. Widerstand hatte bei der Stürmung keiner geleistet. Die Terrorgruppe "Schwarzer Block" muss wohl erst noch gegründet werden.
Die Aktion des Carabinieri-Sonderkommandos war wahrscheinlich widerrechtlich, da weder akute Gefahr im Verzug noch ein Durchsuchungsbefehl vorlagen. In Genua läuft bereits eine Klage. Bei allen, die in München ankamen, wurden diese Anklagen fallen gelassen und der Beschluss gefasst, sie abzuschieben. Ein Einreiseverbot für 5 Jahre wurde für jeden verhängt. Stefan wird wie alle anderen dagegen klagen.
Das muss man sich mal vorstellen, wir haben keine Straftat begangen, sind verprügelt worden und dürfen jetzt 5 Jahre lang nicht nach Italien!
Formal frei wurden sie am Mittwochabend vom Gefängnis aus direkt in die Präfektur verbracht und dann mit Polizeibewachung in einen Bus zum Brenner gesetzt, dort stiegen sie in einen Zug um. Sie werden auch alle gegen die Deportation klagen, ebenso gegen die Polizei wegen Misshandlung und wegen Diebstahls, denn jede Menge Wertsachen wurden nicht wieder ausgehändigt.
Fritz Burschel war direkt nach der Stürmung im Haus und bezeugt, dass alles voller Blut war, auch in Ecken und an Wänden. Er formuliert seine Meinung deutlich: "Die Polizei ist da reingestürmt und hat alles und alle brutal zusammen geschlagen. Brutalst. Ich scheue mich nicht, das Folter zu nennen!" Ralf Homann sieht das genauso: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie man es anders nennen soll als Folter, wenn Leute in Schlafsäcken blutig geschlagen werden." Die Anti-Folterkonvention der UN von 1984 könnte so gedeutet werden, erklärte eine Rechtsanwältin aus München.
Burschel und Homann vertreten die These, dass dieser Polizeieinsatz der "Nachbeschaffung von Öffentlichkeitsarbeit" dienen sollte. Die massive Berichterstattung über Krawalltouristen fordert, dass ausländische Gewalttäter festgenommen werden, was aber bis Samstag praktisch nicht der Fall war. Erst nach Ende des Gipfels begann die italienische Polizei gezielt ausländische Globalisierungs-Kritiker zu verhaften, auch von der Straße oder bei Verkehrkontrollen. Im Raum steht auch der Verdacht, dass massiv die unabhängige Berichterstattung unterbunden werden sollte, zumal die "Gegenjournalisten" bereits angekündigt hatten, Beweise für V-Leute der Polizei im so genannten schwarzen Block vorzulegen. Einem verhafteten Journalisten wurden Kamera und alle Filme abgenommen und nicht wieder ausgehändigt.
Offensichtlich ist, dass alle Computer zerstört oder die Festplatten beschlagnahmt wurden. Wozu zerstört ein Sondereinsatzkommando Computer? Es wurden in der Schule auch Journalisten verhaftet, die ihren Presseausweis vorzeigten. Die Ignoranz gegenüber der Freiheit der Presse scheint im Land des Medienmoguls Berlusconi stark ausgeprägt.