Fragiler Frieden in Berg-Karabach

Seite 2: Baku meldet neue Gebietsansprüche an

Der Zwischenfall im Gadruzki-Bezirk ereignete sich exakt einen Tag nach einer großen Siegesparade in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Auf der Parade behauptete der Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, in seiner Rede, Armenien habe Aserbaidschan angreifen wollen.

Weiter behauptete Präsident Alijew, mehrere Gebiete im Zentrum der Republik Armenien seien "historisch unser Land". Unter anderem nannte Alijew die Gegend um den 74 Kilometer langen Sevan-See und die Gegend um die armenische Hauptstadt Jerewan. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan verurteilte die Behauptungen von Alijew.

Auf der Militärparade in Baku sprach auch der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan. Er erklärte, "heute freut sich der Geist von Enver Pasha". Pasha war Kriegsminister des Osmanischen Reiches und gilt als Hauptverantwortlicher für den Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915.

Zur Regelung der Sicherheitsfragen im Südkaukasus will der aserbaidschanische Präsident Alijew nun eine Gespräch-Plattform mit sechs Staaten der Region bilden. Zu der Plattform gehören sollen Aserbaidschan, Georgien, die Türkei, Armenien, Russland und der Iran. Die westlichen Staaten spielen, seitdem von Russland initiierten Waffenstillstandsabkommen, politisch nur noch eine geringe Rolle in der Region.

Eingeladen von Armeniern

Ich war mit vier Journalisten aus Tschechien, Polen und Russland nach Berg-Karabach gereist. Armenier, die in Moskau leben, hatten uns eingeladen, damit wir über die Kriegsfolgen in Berg-Karabach berichten. Unsere Journalisten-Gruppe war in Stepanakert in einem einfachen Hotel untergebracht. In dem Hotel wohnt auch eine armenische Flüchtlingsfamilie aus Mardakert, einem Grenzbezirk von Karabach. Die Familie hatte zehn Kinder im Alter von drei Monaten bis 16 Jahre und wohnte in zwei Hotelzimmern.

Der Familienvater Hamlet Bagajan wirkte wütend aber auch gefasst. Seine Arbeit hat er verloren. Er arbeitete im Goldbergbau und verdiente im Monat 400 Euro. Doch der Betrieb ist jetzt stillgelegt, weil Aserbaidschan die Wasserversorgung abgestellt hat.

Wie man mit so vielen Personen in zwei Zimmern leben kann?, fragte ich Hamlet. "Ich nehme drei Kinder und gehe mit ihnen in der Stadt spazieren. Wenn es dunkel wird, gehen wir nach Hause."

Ein Flüchtling: "Man hat uns verkauft"

"Man hat unsere Erde an die Türken verkauft", schimpfte Hamlet. Hier muss ich erklären: Viele Armenier nennen die Aserbaidschaner herablassend "Türken" und sprechen ihnen ab, dass sie eine eigene Nation sind. Doch das ist noch nicht alles. Aserbaidschaner seien "keine Menschen", hörten wir von Armeniern immer wieder. Ich wandte ein, dass es wohl auch unter Aserbaidschanern vernünftige Menschen gibt. Doch mein Einwand wurde überhört. Der Krieg hat die Seelen verhärtet. Hamlet erzählte, er habe schon 1992 für die Unabhängigkeit von Karabach gekämpft. Seinem Bruder hätten Aserbaidschaner damals den Kopf abgeschnitten.

Hamlet schimpfte: "Der Präsident von Karabach hat keine Schuld. Paschinjan (der Ministerpräsident von Armenien, U.H.) hat die Schuld. Er hat nachts online unterschrieben, dass der Boden an Aserbaidschan übergeben wird."

Paschinjan habe so viel falsch gemacht. "Warum hat Paschinjan nicht rechtzeitig zwei der sieben Bezirke an Aserbaidschan zurückgegeben?", fragt Hamlet. "So hätte man vielleicht verhindern können, dass 5.000 Menschen sterben."

Diese Aussage bedarf einer Erklärung. Im Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 wurde festgelegt, dass Berg-Karabach die seit 1993 besetzten Gebiete rund um Arzach an Aserbaidschan zurückgibt. Die Gebiete wurden 1993 von den Armeniern besetzt, um Beschießungen der von Arzach zu verhindern. Sie sollten als Schutzzonen fungieren.

Hamlet äußerte sich widersprüchlich. Einmal sagte er, er wolle keinen neuen Krieg. Dann sagte er, "ich meine, man muss unser Land zurückholen. Wo du auch gräbst, stößt du auf unsere Chadschkar". Das sind uralte, in Stein gehauene Kreuze.

Kinder flüchteten vor israelischen und türkischen Drohnen

Wie seine Kinder auf den Krieg reagierten, fragte ich Hamlet. "Sehr schlecht. Sie haben Angst. Die kleinen Kinder schlafen nachts, aber meine 16jährige Tochter schläft nachts nicht. Sie sagt, Papa, ich habe Angst, dass nachts die Türken kommen. Ich sage ihr, solange ich hier bin, hab' keine Angst."

Die Kinder gucken bedrückt auf uns Journalisten. Nur wenn einer der Journalisten einen Witz machte, huschte ein Lachen über die Gesichter der Kinder, verstarb aber schnell wieder.

Die Familienmutter, Hemine, eine kleine Frau mit gütig-lächelndem Gesicht, erzählte uns, was am 27. September passierte. Drohnen türkischer und israelischer Produktion begannen zu schießen. Sie habe ihre Kinder versammelt und sei geflüchtet, über die Städte Latschin und Goris bis nach Jerewan. Dort wohnte die Familie bei der Schwester von Familienvater Hamlet.

Als der Krieg zu Ende war, kam die Familie zurück, aber nicht in ihr Heimatdorf, das jetzt von aserbaidschanischen Truppen besetzt ist, sondern nach Stepanakert.

Die Familie von Hamlet und Hemine lebt jetzt von 170 Euro. Das ist die Gesamtsumme, welche die Eltern an Kindergeld von der Regierung in Karabach im Monat bekommen.

Was ist mit dem heimatlichen Haus, frage ich Hamlet. "Dort sitzen jetzt Leute und trinken Tee", sagt er mit einem bitteren Gesichtsausdruck. Warum hat Paschinjan nicht unterschrieben, dass Hamlet 10.000 US-Dollar bekommt, damit er Farmer werden kann?", sagt der Familienvater in bitterem Ton.

Große Hoffnung setzt Hamlet auf Russland. "Wenn Wladimir Putin will, werden wir wieder in unserem Haus leben."