Fragiler Frieden in Berg-Karabach

Seite 4: Eine Händlerin in Stepanakert: "Alle wollen einen russischen Pass"

Auf dem Markt von Stepanakert sprach ich mit der Händlerin Karina. Sie war etwa 55 Jahre alt, trug einen schwarz-weißen Wollmantel und eine dunkle Wollmütze. Karina erzählte, sie komme aus Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Dort habe sie in der Jugend-Handball-Auswahl gespielt. Wegen der anti-armenischen Pogrome in Baku und Sumgait flüchtete sie vor 30 Jahren mit ihrem Mann nach Stepanakert, wo sie bis heute lebt.

Marktfrau Karina. Bild: Ulrich Heyden, Stepanakert

Ob es in Arzach gemischte Ehen gibt? "Ja, aber reine Aserbaidschaner können hier jetzt nicht mehr leben", sagte Karina. Der Krieg habe zu lange gedauert. Und sie sagt - ähnlich wie Familienvater Hamlet - "wenn wir den Boden, den die Aserbaidschaner sich jetzt genommen haben, eher abgegeben hätten, wären nicht so viele armenische Soldaten gestorben." Ob es Gas und Elektrizität in Stepanakert gibt? Gas gäbe es in ihrem Haus zurzeit nicht. Elektrizität gäbe es. Die Regierung von Karabach unterstütze die Bevölkerung. Für die Wohnungsnebenkosten brauche man im Dezember nichts zu zahlen. Im Januar soll es 500 Kilowatt Strom kostenlos geben.

Karina erzählte, sie habe Cousinen in Los Angeles und in Frankreich. Die hätten gegen den aserbaidschanischen Angriff demonstriert. Aber Frankreich und die USA hätten nicht reagiert. Nur Russland helfe. Ich frage, wie viele Menschen russische Pässe beantragen werden? Alle!, sagt Karina.

Die USA beobachten Russlands Aktivitäten im Friedensprozess mit Argusaugen. Der Berater des US-Außenministeriums für militärisch-politische Fragen Clark Cooper erklärte, die Anwesenheit der russischen Streitkräfte in der Konfliktregion bedeute "das Risiko einer Destabilisierung der Situation". Die russische Präsenz sei "eine Herausforderung für alle Parteien und Staaten, die mit der Region zu tun haben."

Präsidenten-Sprecher: Wer schweigt, macht sich mitschuldig

Im dritten Stock des Regierungsgebäudes von Karabach saß Vahram Poghosyan, der junge Pressesprecher des Arzach-Präsidenten, vor einer rot-blau-gelben Fahne der international nicht anerkannten Republik.

Ich wollte von ihm wissen, wie er die Rolle der Nato beurteilt. Pogosyan antwortete, "wenn das Nato-Mitglied Türkei vor den Augen der ganzen Welt Terroristen aus Syrien hierherbringt und die Führung der Türkei jeden Tag ihre Unterstützung für die Aggression gegen Karabach erklärt, während Aserbaidschan zivile Objekte bombardiert und unsere Kirche mit Geschossen der Nato angegriffen wurde, haben wir das Recht, die Nato zu kritisieren. Alle Mitgliedsländer der Nato machen sich mitschuldig, wenn sie schweigen und zusehen, wie das Nato-Mitglied Türkei beim Angriff auf Karabach hilft."

Dass tatsächlich auch armenische Kirchen von den aserbaidschanischen Streitkräften angegriffen wurden, bestätigt "Vater Andreas", den wir in der "Kirche der Heiligen Anna" in Stepanakert trafen. "Vater Andreas" war Kirchenvorsteher der "Heiliger-Retter-Kirche" von Schuschi und Augenzeuge von zwei aserbaidschanischen Luftschlägen auf seine Kirche am 8. Oktober 2020. Die Kirche wurde beschädigt. "Vater Andreas" musste flüchten.

Berg-Karabach jetzt mit "ausgefranster" Grenze

Berg-Karabach war bis 1991 ein vorwiegend von Armeniern bewohntes autonomes Gebiet innerhalb der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbeidschan. Ab 1991 wurde Berg-Karabach zur international nicht anerkannten Republik Arzach. Durch den verlorenen Krieg hat sich das Territorium von Arzach verkleinert.

Berg-Karabach hat nicht nur die im Krieg 1991 bis 1994 eroberten "Schutzzonen" verloren, sondern auch Teile seines angestammten Gebietes. Die Grenze von Arzach ist durch die Vorstöße der Aserbaidschaner stark ausgefranst, wie man auf der Karte der russischen Friedenstruppe sehen kann.

An einem Abend in Jerewan – kurz vor meinem Abflug nach Moskau – traf ich einen armenischen Militär-Berater. Er erzählte, was er bei der Festlegung der neuen Grenze in den Bergen von Karabach erlebte. Bei einer dieser Grenz-Festlegungen war ein Offizier der russischen Friedenstruppe und ein Offizier Aserbeidschans zugegen. Im Hintergrund wartete eine Kolonne aserbaidschanischer Militärlaster. Die Laster hätten alle aufgeklebte türkische Flaggen gehabt. Er habe als Vertreter Armeniens gefordert, dass die türkischen Flaggen abgenommen werden, erzählte der Militär-Berater, sonst müsse er dem armenischen Generalstab melden, dass sich eine türkische Militär-Einheit auf die armenische Grenze zubewegt.

Die türkischen Flaggen wurden abgenommen. Nach der vernichtenden Niederlage der armenischen Streitkräfte war der Militärberater sichtlich stolz auf seinen kleinen Erfolg.