Fragiler Frieden in Berg-Karabach

Seite 3: Erst Erdbeben dann Krieg um Berg-Karabach

Zu den Flüchtlingen, die im Hotel wohnen, gehört auch Hasmek Babekjan, eine Frau aus Schuschi. Die nur ein paar Kilometer von Stepanakert gelegene Stadt ist seit Anfang November in der Hand der aserbaidschanischen Armee.

Es ist schon die zweite Katastrophe im Leben von Hasmek. Die etwa 50 Jahre alte Frau stammt eigentlich aus Guymri, wo es 1988 ein schweres Erdbeben gab. Nach dem Krieg zwischen Aserbaidschan und Karabach Anfang der 1990er Jahre zog Hasmek in die nicht weit von Stepanakert gelegene Stadt Schuschi. Dort arbeitete sie als Buchhalterin in einem Museum.

Hasmek erzählte, als Ende September 2020 die Angriffe der aserbaidschanischen Armee begannen, "habe ich erst gar nicht verstanden was los ist. Wir dachten das ist ein Feuerwerk. Dann kam mein Mann. Er sagte, man hat Stepanakert bombardiert und wir müssen in den Keller umziehen. Die Stadtverwaltung brachte uns zu Essen. Die Drohnen flogen unaufhörlich. Ende Oktober entschied ich dann mit meinem Mann, dass wir nach Stepanakert fliehen. Später haben wir dann gehört, dass man Schuschi aufgegeben hat". Ihr Stimme bricht ab und Hasmek weint. "Wer trägt die Verantwortung: Ich weiß nicht. Vielleicht die Regierung, der Präsident? Ich weiß nur dass ich alles verloren habe. Und die Regierung hat vermutlich Alles, ein Haus eine Wohnung. Immerhin können wir kostenlos im Hotel wohnen. Das bedeutet sehr viel für uns."

Ich fragte, hätte man den Krieg ohne die russischen Friedenstruppen stoppen können? Nein, meinte Hasmek. "Wir hatten nur noch wenig Waffen. Auf unsere Seite kämpften junge Soldaten mit wenig Erfahrung. Die Aserbaidschaner wurden von Israel und der Türkei unterstützt."

Ob Russland Verantwortung trägt, für das passiert ist? "Das kann ich nicht sagen. Russland ist ein anderer Staat." Schuschi werden wir zurückgewinnen." Warum? "Ich weiß nicht. Ich warte, dass ich mein Haus wiederbekomme." Wie sie zu den Aserbaidschanern stehe? Das seien "keine Menschen, das seien Tiere", antwortete Hasmek. "Sie haben schwangere Frauen getötet und Köpfe abgeschnitten."

Die einzige Verbindung - ein fünf Kilometer breiter Korridor

Die russische Friedenstruppe ist seit dem Waffenstillstand Anfang November mit 2.000 Soldaten in Nagorni-Karabach - die Armenier sagen "Arzach" - präsent. Als wir von Jerewan durch den Latschin-Korridor nach Stepanakert fuhren, sahen wir, dass die Friedenstruppe alle paar Kilometer Stellungen aus mit Sand gefüllten Kisten und Schützenpanzerwagen aufgebaut hat. Über schwere Waffen verfügt die Friedenstruppe nicht.

Zu den Aufgaben der meist jungen russischen Soldaten gehört unter anderem der Schutz des fünf Kilometer breiten Latschin-Korridors, der einzigen Verbindung, die es noch zwischen der Republik Armenien und Arzach gibt.

Die jungen russischen Soldaten, hatten eine Kalaschnikow umgehängt. Wegen der Kälte im Gebirge, trugen sie eine Gesichtsmaske. Sie fragten, wohin wir fahren und wie viele wir sind. Dann notierten sie die Nummer unseres Minibusses und weiter ging es.

Kurz hinter einem der Kontrollpunkte sahen wir am Straßenrand einen ausgebrannten Schützenpanzer, der offenbar von einer Drohne getroffen worden war. Der Panzerturm war 30 Meter weiter ins Gras geschleudert worden. Die Besatzung hatte wohl nichts von der Bedrohung aus dem Himmel geahnt.

Die Drohnen erkennt man am surrenden Geräusch. Aber nur, wenn es still ist. Im Stadtlärm hört man die Drohnen oft nicht, erzählt mir später die junge armenische Dokumentarfilmerin Silva KhnKanosian, die während des Krieges in Stepanakert gefilmt hat. "Wenn man eine Drohne sieht, hat man drei Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen", sagt die 25 Jahre alte Filmerin, die in Jerewan wohnt. Ihre Mutter habe sie ins Kriegsgebiet fahren lassen unter der Bedingung, dass sie sich regelmäßig meldet und nach drei Tagen wiederkommt.

Erregte Fragen nach den vermissten Soldaten

Im Stadtzentrum von Stepanakert wollten wir im Regierungshaus, einem im Stalin-Stil gebauten, hohen Gebäude, den Pressesprecher des Arzach-Präsidenten treffen. Weil wir noch etwas Zeit hatten, gingen wir in das Hotel Armenija, dass direkt gegenüber vom Regierungsgebäude liegt, um Kaffee zu trinken. In der Kaffee-Bar saßen viele Männer und auch einige Frauen in weichen Sofas und unterhielten sich. Niemand trug eine Maske. Ich fragte eine junge Frau hinter der Theke, warum Niemand eine Maske trägt? Die junge Dame meinte, vor dem Krieg seien Masken noch Pflicht gewesen. Aber jetzt gäbe es eine solche Anordnung nicht. Mir schien, die Menschen in Karabach haben jetzt andere Probleme, als den Corona-Virus.

Was die Menschen sorgt, erfuhren wir, als wir das Hotel verließen. Wir stießen auf eine aufgebracht diskutierende Menge meist bärtiger Männer. Es ging um die vermissten Soldaten. Was sie forderten blieb unklar. Man muss wissen: Bis heute gibt es keine offizielle Zahl wie viele armenische Soldaten getötet wurden und wie viele vermissts werden.

Als ich später im Regierungsgebäude Vahram Poghosyan, den Pressesprecher des Präsidenten von Karabach nach der Opferzahl fragte, wich er aus. Ob es mehr als 2.500 tote Soldaten seien, fragte ich. Der Pressesprecher sagte nur ein einziges Wort. "Ja".

Karabachs Präsidenten-Sprecher Vahram Poghasyan (li.) mit Autor Ulrich Heyden (re.). Bild: Ulrich Heyden, Stepanakert

Als ich unseren Bekannten, den jungen Arzach-Zeitsoldaten Garik, später nach der Zahl der toten armenischen Soldaten frage, nennt er die Zahl von 7.500 Gefallenen. Allein in dem im Süden von Karabach gelegenen Dschebrailski-Bezirk, wo es die heftigsten Kämpfe gab, werden angeblich 700 armenische Soldaten vermisst.

Das Verteidigungsministerium von Aserbaidschan gab am 28. Dezember bekannt, dass 2.823 Soldaten der aserbaidschanischen Streitkräfte im jüngsten Krieg gefallen sind.

Der Soldat - so nervös, als ob er gerade aus der Schlacht kommt

Um den verlorenen Krieg kreisen in Arzach und Armenien alle möglichen Gerüchte. Der 27 Jahre Garik, meint, das armenische Verteidigungsministerium in Jerewan habe aus unerfindlichen Gründen dringend benötigte Munitionslieferung zurückgehalten. Die Stadt Schuschi sei noch in der Hand der Armenier gewesen, aber auf Befehl aus Jerewan "aufgegeben" worden. Nachdem armenische Militärs eine Lücke in der Lenkung der in Israel produzierten Drohnen gefunden hatten, seien diese in kurzer Zeit umprogrammiert worden. Das hätten nur israelische Spezialisten vor Ort machen können.

Dem Zeitsoldaten Garik war anzumerken, dass der Krieg ihn hart mitgenommen hat. Er wirkte nervös, als ob er gerade aus einer Schlacht kommt. Garik hat im Latschin-Bezirk gekämpft, im strategisch wichtigen Gebiet, das Karabach und Armenien verbindet. "Wir holen uns unsere Erde zurück", sagt er. "Wenn die Türkei Aserbaidschan nicht unterstützen würde, wären wir schon in Baku." Mehrmals sagt Garik, "wir haben gesiegt. Drei Millionen Armenier haben 90 Millionen standgehalten." Mit den 90 Millionen sind die Einwohner von Aserbaidschan – zehn Millionen – und der Türkei – 82 Millionen – gemeint.