Fragwürdige UN-Mission: Droht in der Karibik ein neues Besatzungsregime?

Seite 2: "Bis zum letzten Tropfen Blut"

Eine der wichtigsten kriminellen Gruppen in der haitianischen Hauptstadt ist die "G9". Dabei handelt es sich um ein Bündnis mehrerer bewaffneter Banden. Ihr Boss Jimmy Chérizier, genannt "Barbecue", will sich im Interview mit Al Jazeera als sozialer Retter präsentieren: "Ich bin kein Gangster, ich kämpfe gegen das System", sagt Chérizier mit einem Sturmgewehr um den Hals.

Er fordert den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry – und verspricht, das drängende Problem der blockierten Treibstoffversorgung im Handumdrehen zu lösen. Sein Spitzname "Barbecue" kommt von seiner Mutter, die gegrilltes Hühnchen verkaufte. Eine andere Theorie besagt, dass er seine Gegnerinnen und Gegner gerne bei lebendigem Leib verbrennt. Das bestreitet er.

Bandenchef Chérizier wehrt sich mit deutlichen Worten gegen ausländische Einmischung. Gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press sagte er vor rund einem Monat, man werde ausländische Truppen notfalls "bis zum letzten Tropfen Blut" bekämpfen. Es werde ein Kampf des haitianischen Volkes sein, um seine Würde und sein Land zu verteidigen.

Chérizier gibt gerne Interviews. Oft geht der Ex-Polizist durch die Armenviertel. Die Menschen grüßen ihn, er grüßt sie, manchmal drückt er ihnen Geld in die Hand – und produziert damit genau die Bilder, die er senden will.

Die UN spricht von 200.000 Binnenflüchtlingen in Haiti. Fast die Hälfte der haitianischen Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. In einem UN-Bericht vom September heißt es, dass in Port-au-Prince Scharfschützen von Dächern aus wahllos auf Männer, Frauen und Kinder schießen. Zu dem kaum überschaubaren Chaos gesellt sich seit April dieses Jahres die Bürgerwehrbewegung "Bwa Kale".

Kolonialherren wollten Exempel statuieren

Die Geschichte des Landes ist ein besonders brutaler Fall von geopolitischer Intervention und wirtschaftlicher Verstümmelung. 1804 erlangte Haiti die Unabhängigkeit, nachdem 13 Jahre zuvor die französische Besatzungsmacht besiegt worden war. Die französischen Kolonialherren hatten sich damit nicht abfinden wollen.

Die Emanzipation des jungen Staates war mit Reparationszahlungen an die ehemaligen Sklavenhalter verbunden. Allein die erste Zahlung betrug etwa das Sechsfache der gesamten jährlichen Wirtschaftskraft Haitis. Dies wiederum führte dazu, dass die ehemalige Kolonie Kredite bei französischen Banken aufnehmen musste.

Dieses System der "doppelten Schuld" war eine absurde Form wirtschaftlicher Sklaverei. Haitis Wirtschaft konnte sich nie richtig entwickeln. Damit nicht genug: Die USA besetzten Haiti von 1915 bis 1934 mit einer quasi-militärischen Diktatur, zu der Folter, Hinrichtungen und Zwangsarbeit gehörten. Uncle Sam reichte das nicht. Sie unterstützten jahrzehntelang die brutal herrschende Duvalier-Dynastie, in der erst Vater "Papa Doc" und dann Sohn "Baby Doc" mit eigener Geheimpolizei ungestört herrschen konnten.

Die USA unterstützten die Duvaliers, weil sie antikommunistisch waren – anders als der marxistisch orientierte Jean-Bertrand Aristide. Dieser war in den Augen der Weltmacht eine große Bedrohung. Deshalb putschte man den Linken gleich zweimal weg, schickte ihn zweimal ins Exil (1991 und 2004). Die CIA finanzierte die Einheiten für die Putsche.

Später von WikiLeaks veröffentlichte Dokumente zeichnen ein Bild davon, wie die USA auch nach den Staatsstreichen vorgingen. Die Dokumente belegen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um Aristide an der Rückkehr nach Haiti zu hindern und ihn im südafrikanischen Exil zu halten. Hochrangige Beamte der Vereinten Nationen und der USA arbeiteten eng zusammen, um Aristide zu diskreditieren. Er sollte als Voodoo-Praktizierender, Mörder und korrupter Drogenhändler dargestellt werden.

Militärische Intervention aus ganz anderen Motiven?

Doch warum wird nach Jahrzehnten erfolgloser ausländischer Interventionen nun wieder auf eine UN-Mission gesetzt?

Eine mögliche Erklärung liegt in der Außenpolitik der USA und der steigenden Zahl von Migrantinnen und Migranten aus Haiti. "Do not come", so hat US-Vizepräsidentin Kamala Harris 2021 in Guatemala die Formel für den Umgang der USA mit Elendsmigration sehr knapp und präzise ausgedrückt.

Eine andere Erklärung folgt der Spur des Geldes. Mamyrah Prosper spricht in einem Interview mit Democracy Now! von 500.000 illegalen Waffen, die aus den USA nach Haiti gelangt seien. Dieses Detail ist wichtig, denn: Selten wird gefragt, woher die kriminellen Cliquen eigentlich ihr schweres Gerät beziehen. Haiti selbst verfügt über keine eigene Waffenindustrie.

Expertin Prosper betont auch, dass die UN-Truppen ab 2004 eigentlich im Land waren, "um millionenschwere Investitionen zu schützen". Es gehe um wertvolle Bodenschätze. Auch der jetzt geplante Einsatz mit kenianischen Einheiten sei zu diesem Zweck in Haiti.

Offen bleibt vor allem, wie in einem Land mit über elf Millionen Einwohnern, einer komplexen kriminellen Bandenstruktur und gerade einmal 10.000 aktiven Polizistinnen und Polizisten – viele davon korrupt – 1.000 zusätzliche Sicherheitskräfte für Ordnung sorgen sollen. Zudem stand die kenianische Polizei bereits in der Vergangenheit wegen wiederholter Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Tötungen in der Kritik. Die mexikanische Zeitung La Jornada bezeichnet die aktuelle Situation in Haiti als "Formel für eine Katastrophe".

Andrea Steinke vom Berliner "Centre for Humanitarian Action" attestiert der Weltgemeinschaft im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur eine "systematische Ignoranz" gegenüber Haiti. Mit Blick auf Haiti müsse sich "die internationale Gemeinschaft mit ihrem eigenen Versagen auseinandersetzen".

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