Frankreich: Ausgedehnte Sozialproteste

Seite 2: Der Protest der Studierenden

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Rund fünfzehn von insgesamt siebzig Universitäten in Frankreich sind seit Ende März/Anfang April mit Vorlesungsboykotten, Blockaden und zum Teil protestbedingten Prüfungsverschiebungen konfrontiert.

Worum geht es dabei? Ein Gesetz unter dem Kürzel ORE (Abkürzung für "Orientierung und Erfolg der Studierenden", orientation et réussite des étudiants), beschränkt ab dem kommenden Herbst den Hochschulzugang. Es wurde, nachdem es im Februar 2018 durch beide Parlamentskammern verabschiedet worden war, am 08. März dieses Jahres von Staatspräsident Emmanuel Macron unterzeichnet und ist damit in Kraft.

Allerdings findet es derzeit noch keine Anwendung, da keine Auswahl beim Hochschulzugang im bereits laufenden Schuljahr (2017/18) mehr stattfindet. Ab dem Frühsommer 2018, wenn die Auswahl-Vorverfahren und -Verfahren beginnen, wird der durch dieses Gesetz vorgesehene Auswahlmechanismus über die Internetplattform Parcoursup (abgekürzt für "Hochschullaufbahn", parcours d’enseignement supérieur) dann greifen.

Streit über die Zugangskriterien

Zunächst führten ihn derzeit einige Fachschaften auf freiwilliger Basis ein. Andere boykottieren die Einführung und bewerten etwa alle Kandidaten mit exakt derselben Punktzahl. Über die Zuteilung von Studienplätzen sollen dabei Algorithmen entscheiden.

Angeblich ganz objektiv nach Eignungsvoraussetzungen. Noten sollen nicht mehr genügen. In eine Datenbank eingespeist werden sollen so erkennbare subjektive Elemente wie "die Bewertung (von Abiturientinnen) durch den Schuldirektor und den Klassenlehrer".

Kritiker halten das Ganze eher für eine Art Lotterie. Man muss dazu sagen, dass im laufenden Studienjahr vor dem Hintergrund einer zu knappen Zahl bereitgestellter Studienplätze tatsächlich buchstäblich ein Losverfahren durchgeführt wurde.

Die neue "Reform" wird in der Öffentlichkeit just damit verkauft, dass dem unwürdigen Losverfahren nun durch eine vorgeblich objektive Kriterien gehorchende Prozedur ein Ende bereitet worden sei. Auf diesem Argument reitet die amtierende Hochschulminister Frédérique Vidal immer gerne herum, um ihr Projekt propagandistisch zu rechtfertigen.

Neben Regierung, Universitätsleitungen und Polizei haben die protestierenden Studierenden jedoch vielerorts einen zusätzlichen, entschlossenen Feind gefunden. Am 22. März fand eine gewalttätige Attacke auf einen besetzten Hörsaal in Montpellier statt.

Identitäre gegen Linke

Am 24. März wiederholten sich vergleichbare Ereignissen in Lille, am 28. März im ostfranzösischen Strasbourg. In der Nacht vom 5. zum 6. April wurde ein Angriff auf die besetzte Fakultät von Tolbiac in Paris - einem ausgelagerten sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Sorbonne - versucht, jedoch erfolgreich abgewehrt. Am 12. April wurde ein weiterer Versuch an einer ausgelagerten Fachschaft der Universität Paris-IV an der Porte de Clignancourt verzeichnet.

Das Vorgehen besteht meist darin, dass zehn bis zwanzig teilweise vermummte, mit Knüppeln oder Baseballschlägern, mitunter auch mit Elektroschockern ausgestattete Angreifer gegen einige Dutzend, von ihnen als "Linke" identifizierte", Besetzer oder streikende Studierende losgehen.

Als Urheber konnten mehrere, oft gemeinschaftlich agierende Kräfte identifiziert werden. Zu ihnen zählen Gruppierungen aus der "identitären" Bewegung. In Lille wurden Aktivisten der Jugendorganisation Génération identitaire unter den Angreifern identifiziert.

In Montpellier wurde ein Hochschullehrer unter den gewalttätigen Jungmännern ausgemacht. Es handelt sich um den Rechtshistoriker Jean-Luc Coronel de Boissezon. Letzterer verkehrte in rechtskonservativen Kreisen, taucht jedoch auch auf einem Foto von einer Demonstration der Ligue du Midi ("Liga des Südens") von vor zwei Jahren auf. Diese Gruppierung zählt zu den Identitären.

Auch die aus dem monarchistischen Nationalismus kommenden, den antisemitisch-royalistischen Schriftsteller Charles Maurras (verstorben 1952) verehrende Action française (AF) zählt zu dem militanten Bündnis. Ihr Sprecher Antoine Berth bekennt sich in Le Monde vom 10. April lautstark zur Beteiligung seiner Organisation an universitären "Anti-Blockade-Aktionen" gegen linke Versuche, den Lehrbetrieb zu bestreiken.

Nicht zuletzt sind auch die Reste oder Nachfolger der 1969 gegründeten, seit Ende der neunziger Jahre jedoch marginalisierten, gewalttätigen Studierendenorganisation GUD (Groupe Union Défense) an den Attacken beteiligt.

Dadurch dass - auch vor dem Hintergrund verbreiteter ökonomischer und beruflicher Zukunftsangst - doch ein relevanter Prozentsatz an Studierenden gegen die Möglichkeit Stellung bezieht, der Protest könnte Prüfungsphasen "gefährden", fühlen die Rechtsextremen sich in diesem Jahr stärker als bei früheren Hochschulprotesten von einem günstigen Umfeld umgeben und dadurch ermutigt.

Aufflammen der Protestbewegung

Die erzwungene Auseinandersetzung mit den gewalttätigen Faschisten verlieh den, seit Januar/Februar dieses Jahres zunächst ziemlich schleppend anlaufenden Studierendenprotesten zunächst neue Nahrung und führte Ende März zu einem Aufflammen der Protestbewegung. Die Studierendenschaft in Lille rief damals etwa, infolge der ersten Prügelattacke in Montpellier, zum frankreichweiten Streik und zu einer Zentraldemonstration in Montpellier auf.

Obwohl seit der zweiten Aprilhälfte nun an vielen Universitäten die Abschlussprüfungen begonnen haben, wurde der Betrieb und auch der Prüfungsablauf nun mancherorts blockiert. Am spektakulärsten war die Blockade der von der Universität Nanterre ausgelagerten Abschlussprüfungen am "Nationalen Examensstandort" in Arcueil-Cachan südlich von Paris.

Doch die Universitätsleitungen versuchen die Hindernisse zu umgehen, etwa indem nun an der Hochschule Nanterre individualisierte Prüfungen online abgelegt werden.

Generell läuft die soziale Protestbewegung derzeit allgemein Gefahr, auf zwei Klippen (oder eine von beiden) aufzulaufen, da die Streikbewegung als ihr zentraler Bestandteil derzeit nicht so durchschlagende Ergebnisse erzielt, dass das Land oder auch nur der Transportsektor dadurch komplett lahmgelegt würde.

Auf der einen Seite steht das Abdriften in eine politisch zunehmend unkontrollierte Kleingruppengewalt, die auch eine Reihe erlebnisdurstiger Heranwachsender, Adrenalinsteigerungen suchender "anpolitisierter Protest-Hooligans" und politischer Abenteurer vom Schlage "Insurrektionalisten" anzieht.