Frankreich: Der Raum der Freiheit schrumpft
Das Land hat sich dem Populismus und postmodernem Faschismus hingegeben. Olivier Roy warnt vor Identitätspolitik und dem Einknicken liberaler westlicher Gesellschaften.
Ist Emmanuel Macron nur die glamouröse Seite der gleichen Medaille, auf deren anderer Seite das Medusenhaupt von Marine Le Pen zu sehen ist – und damit der Vorschein des postmodernen Faschismus?
So zumindest lassen sich die spektakulären Thesen verstehen, die der französische Soziologe Olivier Roy am Samstag, genau eine Woche vor der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen, in einem Essay in der Financial Times entfaltet hat.
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Selbstmord Europas aus Angst vor dem Tode
Man kann Olivier Roy vieles nachsagen, aber nicht dass er nicht gewarnt hätte. Nicht, dass er nicht immer schon sich der Gefahren des Fundamentalismus und eines gewaltbereiten Politikverständnisses bewusst gewesen wäre, das lange Zeit vor allem mit den Etiketten eines "Islamofaschismus" verbunden war.
In Büchern wie "Globaler Islam" (2002), "Heilige Einfalt" (2008) und "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod" (2016) entwickelte Roy seine Warnung vor der zum Terror radikalisierten Religion.
Einknicken der Freiheit: Selbstmord Europas aus Angst vor dem Tode.
Jetzt hat er sich einer anderen Gefahr angenommen, deren Wurzel in den gleichen Bedrohungen liegt: dem Einknicken liberaler westlicher Gesellschaften vor ihrer Anfechtung, dem Opfern zentraler Werte des Republikanismus, der Freiheit, der Laizität, der Öffentlichkeit und der Demokratie; dem Selbstmord Europas aus Angst vor dem Tode.
Nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Islam hat Roy jetzt seine Forschungsperspektive um 180 Grad gedreht und wendet sie in seinem neuen Buch "The Crisis of Culture: Identity Politics and the Empire of Norms" (Die Krise der Kultur: Identitätspolitik und das Reich der Normen) auf die eigenen europäischen Gesellschaften an, auf deren Immunschwächen und Fahrlässigkeiten.
Roy nimmt insbesondere eine sogenannte "Identitätspolitik" in den Blick, die bereit ist, zugunsten von Minderheitsrechten und Partikularinteressen alles andere zu opfern und damit den freiheitlichen Demokratien in Europas den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Die Gestalt, die dieser Selbstmord – und Selbsthass Europas, die Verachtung europäischer Werte durch Europäer – annimmt, ist unter anderem das Phänomen, das im Begriff des Populismus mehr verniedlicht, als begriffen wird.
Ähnlichkeiten zwischen Macron und Le Pen
Roy betont vor allem die Ähnlichkeiten zwischen Macron und Le Pen, die Nähen zwischen dem amtierenden Präsidenten, der nicht nur egoman unter Missachtung vieler Gepflogenheiten der V. Republik regiert, sondern sich oft genug auch von der eigenen Strahlkraft blenden lässt und deshalb mitunter blind wirkt für das Funktionieren gewaltengeteilter Institutionen und für die Seele der französischen Bevölkerung.
Konkret ist Macron daher in vielem ohne Erfolg. Der Wirtschaft geht es nicht besonders, das soziale Klima ist eine Misere, außenpolitische Initiativen scheitern. Angesichts des Mangels an Erfahrung und Professionalität in ihren Parteikadern, so Roy zur politischen Nähe der beiden, würde Marine Le Pen Macrons "opportunistische Technokraten, Intellektuelle, Journalisten und Politiker brauchen. Le Pen würde die gewalttätigen Exzesse ihrer Anhänger einschränken, um ihre teuer erkaufte neue Respektabilität nicht zu verlieren".
Diesen Wandel habe Macron selbst eingeleitet. Olivier Roy stellt fest:
Macron hat bereits begonnen, die Institutionen Frankreichs zu schwächen. Es gibt keinen Grund, warum er nicht mit Marine Le Pen zusammen regieren (das französische Wort dafür heißt: "cohabiter", Anm. d. A.) können sollte. Sie würde ihm die Staatsbankette und offiziellen Reisen überlassen. Er würde sie regieren lassen. Wahrscheinlich zum Schlechteren ...
Oliver Roy, Financial Times
Notre-Dame oder Charlie Hebdo? Viktor Orbán oder Geert Wilders?
Roy ist aber nicht blind für die Schwächen Le Pens und all der anderen rechtsradikalen Zwerge neben ihr:
Bleibt eine große Frage. Was hält sie (Le Pen, Anm. d.A.) dem Islam entgegen? Das Christentum oder liberale Werte? Notre-Dame oder Charlie Hebdo? Viktor Orbán oder Geert Wilders?
Während alle Populisten in Europa den Islam und den größten Teil der Einwanderung ablehnen, sind sie sich uneinig, wenn es darum geht, europäische Werte zu definieren. Allzu oft leben die Ultrarechten eine offene Verachtung für liberale (im AfD-Sprech: "Linksversiffte") Werte an den Tag.
Sie nennen sich Konservative, wollen tatsächlich aber die Uhr zurückdrehen – in die 1950er-Jahre oder noch ein, zwei Jahrzehnte weiter. Le Pen will westliche liberale Werte verteidigen wie auch die linken Säkularisten: Sie versprach, das Gesetz über Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe nicht aufzuheben, und ist nicht gegen Homophobie.
Roy ist klüger als etwa die polnische PIS-Partei oder Spanien neofrankistische Vox:
Die Verschiebung der Wähler nach rechts spiegelt nicht den Wunsch wider, zu diesen Werten zurückzukehren. In jeder Hinsicht, zum Guten oder Schlechten, sind unsere Gesellschaften liberal: sexuelle Freiheit, Hedonismus und Individualismus werden geschätzt. Europäische Populisten sind überwiegend säkular. Es gibt keine Faszination für Opfer, Tod und Ruhm.
Oliver Roy, Financial Times
Roy sieht daher keine Gefahr, dass im Fall einer Machtübernahme der "Front National"-Nachfolger RN das Laizitätsgesetz von 1905 (zur Trennung von Kirche und Staat) infrage gestellt wird. Eher könne man einen härteren Kurs in der "Kopftuch"-Frage erwarten.
Die Verschiebung der Laizität habe längst stattgefunden. In den 1980er-Jahren wurde sie, so Roy, "von einem rechtlichen Prinzip in ein Identitätsmerkmal" verwandelt.
In der Gegenwart bestehe von Le Pen bis zur Parti Socialiste (PS) ein Konsens, dass die Laizität durchgesetzt werden sollte, um die grassierende Islamisierung zu blockieren.
Dieser spezifische Konsens sollte im Falle einer Kohabitation im Auge behalten werden: Macron und Le Pen teilen einige gemeinsame Werte.
Drei Wählerschaften
So gesehen ist die Entscheidung am Sonntag eine andere: Anstatt einer faschistischen extremen Rechten gegen eine progressive Volksfront, deute die Spaltung der Werte der Wähler darauf hin, dass es in Frankreich drei verschiedene Wählerschaften gibt.
Roy unterscheidet erstens die Reaktionäre, geprägt von traditionalistischen, rückwärtsgewandten, christlichen Werten, die "eifrig die kulturelle Revolution nach 1968 rückgängig machen möchte, aber fast zu einer Sekte verkommen ist".
Zweitens erwähnt er eine extreme Linke, dominiert von den "antikolonialistischen" Ideologien, Wokeness, antifeministischem Neo-Feminismus und all den anderen Illusionen der identätspolitischen Ideologie, "gut vertreten in den Universitäten, die Religionsfreiheit für die Unterdrückten fördert, aber gegenüber dem Christentum weniger offen ist".
Drittens sei da die liberale Mitte, ein breit gestreutes bürgerlich-modernes Spektrum von Säkularisten,
"die sich gegen den Islam wenden, unabhängig von den historischen Wurzeln ihrer Feindseligkeit ihm gegenüber, von den RN bis zur linken Mitte, und die die angebliche 'französische Lebensart' verteidigen. Man könnte sicherlich einwenden, dass diese letzte Koalition in Bezug auf Demokratie, Meinungsfreiheit, Europa und die Beziehungen zu Russland sehr unterschiedlich ist. Aber diese Unterschiede spielen keine Rolle, solange die extreme Rechte nicht an der Macht ist".
Olivier Roy trifft mit alldem ohne Frage einen Punkt und spricht wichtige Phänomene an. Hat er deswegen auch mit allem recht? Wir werden sehen.
Zweifel zumindest sind erlaubt, ob die Unterschiede zwischen dem republikanischen Führer und der seiner autoritären Herausforderin nicht doch stärker sind als alle Gemeinsamkeiten und ob die wahrscheinlich bevorstehende "Kohabitation" zu einer Liebesheirat werden wird oder nicht doch eher zu einem Rosenehekrieg.
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