Frankreich: "Lieber ein Votum, das stinkt, als ein Votum, das tötet"
Seite 2: Zerreißproben
Doch die beiden anderen unter den fünf gewichtigsten Kandidaten, also die Konservative Valérie Pécresse und der Linkssozialist sowie Linkspatriot Mélenchon, gaben keinerlei Stimmaufruf ab – entgegen anderslautenden Gerüchten in manchen deutschsprachigen Kanälen übrigens -, sondern begnügten sich zunächst damit, ihr persönliches Wahlverhalten anzukündigen.
Pécresse wird für Macron stimmen und Mélenchon jedenfalls "gegen Le Pen" (also für Macron oder ungültig, mutmaßlich dürfte er wohl Ersteres tun), doch beide riefen nicht explizit ihre Wählerschaft zu einer konkreten Option auf. Dies hat auch einen konkreten Grund: Ihre Partei im Falle von Valérie Pécresse, seine Wählerschaft im Falle von Jean-Luc Mélenchon, hätte es zerrissen. Und ein offener Aufruf zu diesem oder jenem Stimmverhalten wäre noch lange nicht notwendig befolgt worden.
Pécresse, die nach ihrer Nominierung als konservative Kandidatin im Dezember 2021 in Umfragen zunächst kurzfristig sogar als voraussichtliche Gewinnerin der Präsidentschaftswahl – Stichwahlrunde eingeschlossen – gehandelt wurde und später abstürzte, erhielt nur 4,78 Prozent und wird dadurch sogar von der Wahlkampfkostenrückerstattung ausgeschlossen. Denn dieses Recht kommt einer Präsidentschaftsbewerbung zu, die auf mindestens fünf Prozent der abgegebenen Stimmen kam.
Ihre Partei Les Républicains (LR) blieb dadurch auf zwölf Millionen Euro Verlust durch Kampagnenkosten sitzen, Pécesse persönlich auf fünf Millionen – ihre Immobilienbesitze und Aktien sollen allerdings neun Millionen Euro wert sein.
Die Partei droht nun endgültig zwischen dem liberalen Pol um Macron einerseits, dem rechtsextremen um Le Pen und Zemmour andererseits zerrieben zu werden.
Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte sich schon vor dem ersten Wahlgang niemals mit Pécresse, dafür aber mit Amtsinhaber Macron sehen lassen, soll mit diesem längst über Wahlkreise für einhundert seiner bisherigen Parteifreunde verhandelt haben und dürfte nun zusammen mit Macron eine neue Mitte-Rechts-Regierungsachse herausbilden.
Auf Kosten der Partei LR, die dabei getrost verschwinden darf. Umgekehrt tendiert etwa der Rechtsauslager der Partei, Eric Ciotti, spürbar zur extremen Rechten hin; er kündigte noch am Wahlabend vom 10. April an, keinesfalls für Macron zu stimmen. Doch im September 2021 hatte er bereits öffentlich angekündigt, im Falle einer Stichwahl Macron/Zemmour für den Rechtextremen Eric Zemmour zu stimmen, welcher nun allerdings nicht in die Stichwahl durfte.
Das Problem dabei ist, dass Ciotti als innerparteilicher Hauptrivale von Valérie Pécresse um die Präsidentschaftskandidatur zu Anfang Dezember vorigen Jahres immerhin über 39 Prozent der innerparteilichen Voten für seine Bewerbung bekam.
Zwar konnte Parteivorsitzender Christian Jacob am Dienstag der abgelaufenen Woche LR dazu verpflichten, in den Positionierungen der Parteigranden die Option einer Stimme für Le Pen offiziell auszuschließen – diese dürfen zur Wahl Macrons, zur Nichtwahl oder zum Ungültigstimmen aufrufen. Unter der Hand könnte es auf dem rechten Flügel zum Teil anders aussehen. Gleichzeitig waren zu Wochenanfang in Umfragen 44 Prozent der Wählerinnen und Wähler von LR geneigt, Macron ihre Stimme zu geben, 40 Prozent jedoch Le Pen.
Es ist ungefähr so, als würden sich die Stimmenpakete der CDU in Deutschland auf die FDP einerseits und eine Björn Höcke-AfD andererseits aufteilen und die Partei selbst dabei potenziell spalten. Auch wenn es keine Explosion, sondern eher eine schleichende Implosion werden dürfte. Eine bisherige konservative Hauptpartei unter fünf Prozent dürfte jedoch längerfristig wenig stabilisieren.
Das Lager Mélenchon
Aus anderen Gründen wird sich eine ähnliche Entscheidung auch für die Anhängerschaft des Linkssozialdemokraten und Linkspatrioten Mélenchon als notwendig erweisen.
Er räumte weite Teile des politischen Felds links von Amtsinhaber Macron ab und kam in der ersten Runde auf 21,95 Prozent der Stimmen - einen Rekordwert gemessen an Mélenchons bisherigen Kandidaturen. Jean-Luc Mélenchons Stimmergebnis drückte die Grünen, aber auch die Sozialdemokratie - ihre Bewerberin Anne Hidalgo kam auf einen historischen Tiefststand von 1,74 Prozent -, die französische KP und die beiden trotzkistischen Kandidaturen erheblich nach unten, ja an den Rand.
Mélenchon kam auf den ersten Platz in zahlreichen Großstädten wie Rouen, Amiens, Nantes, Toulouse, Montpellier und auf den ersten Platz unter den Jungwählerinnen bis 24, wo er mit stattlichen 35 Prozent abschnitt.
Das ist neu, zuvor war eher Macron in der jüngsten Wählergeneration stark - aus Altersgründen und weil Studierende oft noch nicht sehr stark an sozialen Fragen mit Bezug zu abhängiger Beschäftigtung oder Renten direkt konfrontiert sind. Dieses Mal jedoch war die Zielgruppe, in welcher Macron am höchsten abschnitt, der wohlhabende Teil der Rentner über 65.
Ein Großteil der Stimmen für Mélenchon wurden nicht ausdrücklich für ihn abgegeben, sondern waren taktisch motivierte Voten. Der Gewerkschafter Jean-Jacques fasst sein Stimmkalkül zusammen:
Das war auf keinen Fall ein Blankoscheck für ihn. Mir ging es darum, dass Mélenchon als bestplatzierter Linker statt Le Pen in die Stichwahl gegen Macron einzieht. Auch falls er verliert, würde es doch das gesellschaftliche Klima verändern: Dann würde über soziale Bedürfnisse statt über Sparpolitik bei Macron und über nationale Identität bei Le Pen diskutiert.
Jean-Jacques, Gewerkschafter
Dazu kam es nicht. Anderthalb Prozent fehlten Mélenchon, um in die Stichwahl einzuziehen. Seine eigene Wählerschaft zeigt sich daraufhin gespalten.
Laut einer ersten Befragung durch das Meinungsforschungsinstitut Elabe wollten zu Wochenanfang 35 Prozent derjenigen, die in der ersten Runde für ihn stimmten, im zweiten Durchgang für Macron stimmen - doch 34 Prozent für Le Pen und 31 Prozent ungültig oder gar nicht.
Am Karfreitag zeichnete eine bisher letzte Umfrage ein Bild, in welchem 33 Prozent der bisherigen Mélenchon-Wähler/innen nun für Macron stimmen würden, 18 Prozent Le Pen; die übrigen gingen in die Enthaltung oder würden ungültig stimmen.
Dabei dürfte es sich um sehr unterschiedliche Wählergruppen handeln. Neben einem antifaschistischen, teilweise taktisch votierten Votum – aus einem Spektrum von linksliberal bis linksradikal – steht ein vorwiegend sozial motivierte Protestwählerschaft.
Beide Absichten können sich mischen, tun es jedoch nicht immer. Die zuletzt genannte Gruppe betrachtet nun zum Teil Amtsinhaber Macron als größeres Übel, aufgrund sozial- und wirtschaftspolitischer Weichenstellungen.