Frankreich: Protest gegen Rassismus und Ungerechtigkeit
- Frankreich: Protest gegen Rassismus und Ungerechtigkeit
- Die Polizeidoktrin hat sich brutalisiert
- Corona: Verbot von Demonstrationen?
- George Floyd und der Fall Adama Traoré
- Castaner: Rückzug vom Verbot des Würgegriffs
- Auf einer Seite lesen
Die Reaktion der Polizei und der Rechten. Die Regierung rudert zurück
Seitdem auf internationaler Ebene die Revolte infolge der brutalen Tötung von George Floyd ins Rollen gekommen ist, geriet auch in Frankreich viel in Bewegung. Als allererstes wurde das Versammlungsverbot, das paradoxerweise seit dem déconfinement - der Beendigung des Lockdown französischer Version - am 11. Mai ver- und nicht entschärft wurde, mehrfach erfolgreich durchbrochen.
Und dies so lange, bis schließlich auch die Regierung offiziell einlenkte und erklärte, im Zusammenhang mit dem Protest gegen US-Polizeigewalt Versammlungen zu "tolerieren".
Dann gerieten auch bestimmte Praktiken der Polizei in Frankreich selbst ins Visier der Kritik von Teilen der öffentlichen Meinung. Der Polizei-Apparat wiederum fühlte sich angegriffen, und zu guter Letzt demonstrieren nun ihrerseits Polizisten am gestrigen Freitag in vielen französischen Großstädten. Von rechts und extrem rechts kommt dafür Unterstützung, unterlegt - wie zu erwarten war - mit rassistischen Tönen. Aber der Reihe nach.
Hintergrund: Polizei und Rassismus in Frankreich
Zum Hintergrund sei zunächst ausgeführt, dass rassistische Polizeigewalt in Frankreich im Grunde ein altes Thema ist. Um das Phänomen sichtbar werden zu lassen, brauchte es nicht erst einen Anlass aus den USA: Vielmehr dürfte eines ihrer international schlimmsten Beispiele überhaupt sich in der französischen Hauptstadt zugetragen haben.
Am Abend des 17. Oktober 1961 und in der darauffolgenden Nacht töteten dort Polizeieinheiten, die durch den damaligen Pariser Polizeipräfekten (und vormaligen Nazikollaborateur) Maurice Papon befehligt wurden, um die 300 Algerier mitten in Paris: in der Seine ertränkt, von Brücken geworfen, totgeschlagen.
Darüber wurde zwar nach dem Ende des Algerienkriegs, welcher am 5. Juli 1962 mit der Unabhängigkeit der früheren Kolonie in Nordafrika beendet wurde, tunlichst ein Mantel des Schweigens gebreitet, und von staatlicher Seite wurde eine Erwähnung dieses Massenmords mit einem Tabu belegt.
Ein erster Dokumentarfilm zum Thema in den siebziger Jahren wurde mit einem Verbot belegt. Ab den 1990er Jahren begannen Nichtregierungsorganisationen zaghaft, in der Öffentlichkeit Licht in das Dunkel um diese Affäre zu bringen.
Doch rund um den fünfzigsten Jahrestag des Massakers platzte die Hülle, die das Schweigen bewahrte, endgültig. Auch prominente Spitzenpolitiker etablierter Parteien bekannten sich erstmals zur historischen Verantwortung des französischen Staates an diesem Punkt.
Die meisten französischen Zeitungen erwähnten den Jahrestag in jenem Oktober 2011, und Tausende von Menschen demonstrierten bei einem Gedenkmarsch. Heute gibt es an mehreren Orten Gedenkplaketten für die Opfer, etwa an der Saint Michel-Brücke in Paris.
Das postkoloniale Frankreich und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung
Zwei Stränge treffen zusammen, wenn es um die Analyse solcher und späterer Gewalttaten und der sie ermöglichenden Strukturen geht. Auf der einen Seite steht die postkoloniale Struktur von Staat und Gesellschaft in Frankreich, die ein Gefühl, oder eine Ideologie rassischer und/oder kultureller Überlegenheit immer einschloss.
Andererseits steht die - auch in Staaten ohne Kolonialvergangenheit zu beobachtende und hinterfragende - Dimension der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (französisch: le maintien de l’ordre) notfalls auch mit repressiven Mitteln, die wiederum in aller Regel umso repressiver ausfallen, je mehr Ungleichheiten und, objektive und/oder empfundene, Ungerechtigkeiten eine Gesellschaft aufweist.
Beide Dimensionen können sich kreuzen, sind miteinander verschränkt, existieren aber prinzipiell auch unabhängig voneinander und führen ihr jeweiliges Eigenleben. Die eine lässt sich also nicht auf die andere reduzieren. Auch wenn Gruppen mit einem tendenziell ethnizistischen Ansatz wie die sich antirassistisch gebende, von Intellektuellen gegründete Kleinpartei der Indigènes de la République ("Eingeborene der Republik") den analytischen Kurzschluss begehen, etwa Polizeigewalt in Frankreich auf eine reine und ungebrochene Kontinuität mit der Machtausübung des Kolonialstaats zurückzuführen und in einem Schwarz-Weiß-Bild die banlieues und quartiers populaires (Trabantenstädte, Unterklassenviertel, soziale Brennpunkte) als eine Art Kolonien von heute darzustellen.
Die Realität ist komplexer… und war es im Übrigen auch schon vor Jahrzehnten.
Die Algerier und allgemein die Nordafrikaner lebten 1961 in bidonvilles (Kanisterstädte) genannten, heutigen Slums in der so genannten Dritten Welt sehr ähnlichen Vorstadtsiedlungen, die etwa auf dem Gebiet der heutigen Trabantenstädte Nanterre, Gennevilliers und Aubervilliers platziert waren.
In den siebziger Jahren wurden sie durch Hochhaus- oder durch Arbeiterreihenhaus-Siedlungen ersetzt. Ein Teil ihrer Einwohnerschaft waren Kolonisierte, insbesondere aus dem damals noch französisch beherrschten Algerien, und ihre Arbeitskraft wurde in der "Metropole" (im europäischen Frankreich) in einer Weise eingesetzt, die die koloniale Überausbeutung in die Fabriken hinein verlängert. Dennoch waren die bidonvilles nicht nur eine Abbildung der Kolonien in "Übersee".
Die zweite große Einwohnergruppe dort, neben der aus Nordafrika, bildeten damals die Portugiesen. Diese kamen aus einem südeuropäischen Land, das selbst Kolonialmacht war (auf den Kapverden, in Guinea-Bissau, Angola, Mosambik, Goa in Indien…). Viele der Auswanderer waren im Übrigen dem Militärdienst entflohen, um nicht in den noch bis 1974/75 dauernden Kolonialkriegen des faschistoiden Salazar- und später Caetano-Regimes verheizt zu werden. In späteren Zeiten gingen die Portugiesen weitestgehend in der Mehrheitsbevölkerung auf, teilweise fast bis zur Unkenntlichkeit als Gruppe. Die Nordafrikaner hingegen blieben mehrheitlich rassistisch stigmatisiert.
Die dritte Dimension: Der innere Feind
Die andere Dimension, die des politisch motivierten und in der Staatsräson wurzelnden maintien de l’ordre, war damals (und ist heute) ebenfalls präsent. Ging es 1961 doch auch darum, einen "inneren Feind" zu schlagen - den Front de libération nationale (FLN), also die "Nationale Befreiungsfront", die als Frontorganisation damals ein Spektrum unterschiedlicher Flügel von marxistischen bis prä-islamistischen Kräften umfasste und für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte (wo sie später zur Staatspartei wurde und daraufhin bürokratisch erstarrte, doch das steht in einem anderen Kapitel).
Der FLN wiederum wurde durch die Anhänger der französischen Staatsräson als "fünfte Kolonne" des internationalen Block- und Hauptfeinds dargestellt, und, wie andere "nationale Befreiungsbewegungen" der "Dritten Welt" oder der südafrikanische ANC auch, stand sie tatsächlich außenpolitisch in einem taktischen oder strategischen Bündnis mit dem sowjetischen Block. (Dieses diente etwa dazu, eine - brüchige, doch zeitweilig satte - Mehrheit gegen die westlich-kapitalistischen Staaten, damals noch mehrheitlich Kolonialmächte, in den Vereinten Nationen zu bilden und eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu fordern.)
Vor diesem Hintergrund stellte sich die Präsenz des FLN in der französischen Hauptstadtregion, die ein Fakt wahr und sich unter anderem in der Demonstration von 20.000 bis 30.000 seiner Anhänger am frühen Abend des 17. Oktober 1961 manifestierte, und seine Popularität in den Paris umgehenden banlieues und ihren damaligen bidonvilles als besondere Herausforderung dar. Aus staatlicher Sicht zeigte sich die Hauptstadt gewissermaßen durch den Kommunismus, den Islam und die "Dritte Welt" gleichzeitig umzingelt.
Aus der Kombination beider Faktoren, Kolonialrassismus und unbedingter Wille zur Aufrechterhaltung staatlicher Kontrolle und Herrschaft, erwuchs die besondere Gewalttätigkeit der Situation.
Die Kontinuität von faschistischen Strukturen
Hinzu kam die personelle Kontinuität von faschistischen Strukturen, verkörpert durch Maurice Papon, später (1998) wegen seiner aktiven Rolle bei Judendeportationen aus dem besetzten Frankreich in den Jahren 1942 bis 44 als "Verbrecher gegen die Menschheit" verurteilt.
Diese Kontinuität im Staatsapparat war allerdings in Frankreich doch erheblich gebrochener als seinerseits in Westdeutschland oder teilweise auch Italien, da viele Résistancekämpfer nach 1944 in den Staatsdienst eintraten und viele "belastete" Elemente ausgetauscht wurden.
Doch die innenpolitische Rückwirkung der Kolonialkriege, Indochina (1946 bis 1954) und Algerien (1954 bis 1962), sorgte für eine gewisse Rehabilitierung von repressionserfahrenem Personal. Und einige frühere Résistants kippten aufgrund des Algerienkriegs in einen rechtsextremen Nationalismus um, ihre früheren Feinde von vor 1945 standen ihnen subjektiv auf einmal unheimlich viel näher.
Heute existieren beide oder alle drei Dimensionen und verschlingen sich auch heute, wenn auch auf andere Weise. Nun wäre es - im Hinblick auf den ersten Faktor - falsch, eine direkte Kontinuität zwischen Kolonialstrukturen und der staatlichen Verwaltung der sozialen Misere etwa in den banlieues zu behaupten.
Ethnisierende Wahrnehmung sozialer Differenz
Doch besteht aufgrund der in Frankreich im Vergleich zu anderen Industriestaaten der EU oder auch zu Großbritannien viel stärkeren, räumlichen Segregation unterschiedlicher sozialer Gruppen auch eine ihr bei- oder untergemischte Tendenz zur Separierung als "ethnische Gruppen" konstruierter Bevölkerungsteile.
Die früheren Kolonisierten sowie die Eingewanderten von gestern und heute gelangen mehrheitlich an die Ränder der urbanen Ballungsräume, die "einheimischen" oder "weißen" mehrheitlich in deren Zentren (oder aber in die semi-urbanen Zonen, die noch weiter außerhalb als die an die Großstädten eng anschließenden banlieues liegen).
Daraus erwächst eine sich steigernde, ethnisierende Wahrnehmung sozialer Differenz in den Augen weiter Teile der Bevölkerung, aber auch politischer Akteure.
Und eben auch der Polizei. Bei dieser ist in der Regel zu beobachten, dass junge Absolventen von Polizeischulen ihre ersten Berufsjahre in mehr oder minder verrufenen banlieues ableisten - an Einsatzorten, die ihnen entsprechend auch als Zonen der Verbannung oder Straforte präsentiert werden, an die niemand hin will, durch die man aber eben zu Beginn einer Berufslaufbahn "durch muss".