Frankreich: Protest gegen Rassismus und Ungerechtigkeit

Seite 2: Die Polizeidoktrin hat sich brutalisiert

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Ihre Wahrnehmung der Einwohnerschaft folgt dann diesem Schema: Zum einen werden die Ansässigen als Bewohnerinnen und Bewohner eines übel beleumdeten Zoos, in dem man nicht gerne verweilen möchte und mit dessen schlechtem Ruf sie assoziiert werden, gesehen.

Zum anderen stellt sich die Erfahrung ein, dass vor diesem Hintergrund "systemischer Diskriminierung", die wie ein Kreislauf wirkt (räumliche Relegation, Abdrängen in schlecht angesehene Wohnzonen, schulischer Misserfolg, Abgleiten in die Kleinkriminalität als persönliche Erfahrung oder als die von nahen Verwandten oder Bekannten…), ein Teil, wenn auch nur ein Teil, der jüngeren Einwohnerschaft mit dem Gesetz in Konflikt gerät.

Demonstration in Paris. Foto: Bernard Schmid

Stellt sich dann bei Polizisten - sofern eine kritische Reflexion darüber ausbleibt - die Erfahrung ein, dass man "immer dieselben oder immer dasselbe Profil antrifft", wenn man tatsächliche oder vermeintliche Straftäter sucht oder festnimmt, führt dies schnell zu rassistischer Stereotypenbildung. Ähnlich, wie dies an dieser Stelle auch für die USA richtig geschildert wurde.

Wobei die sozial-räumliche Struktur in den USA mit einer relativ klaren "ethnischen" Einteilung der Wohnviertel und ihren Schwarzen"ghettos" eine andere ist als die in Frankreich, die überwiegend eine sozioökonomische Schichtung darstellt, jedoch mit "ethnisierender" Unterfütterung.

Zum zweiten Faktor: Die Polizeidoktrin im Herangehen an den maintien de l’ordre hat sich in den letzten Jahren brutalisiert. Den Kipppunkt dafür bildete zunächst die Situation im Winter 2015/16, als Frankreich infolge der dschihadistisch motivierten, massenhaften Morde vom 13. November 2015 - bei den Attentaten in Paris und der Vorstadt Saint-Denis - im staatlich verhängten Ausnahmezustand lebte und als dieser von amtlicher Seite dafür benutzt wurde, repressiv etwa auch gegen die Klima-Demonstration in Paris am 29. November 2015 (zur Eröffnung der internationalen Konferenz COP-21) vorzugehen.

Dabei kam es zu über 350 Festnahmen aus Anlass dieses Klimaprotests. Die Polizei hatte in der Folgezeit das Gefühl, carte blanche erhalten zu haben und den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen die Attentäter und ihre dschihadistische Ideologie dafür nutzen zu können, nach Belieben repressiv vorzugehen.

Entsprechend spielten Gewalt und Gegengewalt bei den Gewerkschafts- und Jugenddemonstrationen im Frühjahr 2016 gegen die "Arbeitsrechtsreform" (Loi Travail) eine bis dahin, jedenfalls bei Protesten mit gewerkschaftlicher Beteiligung, seit 1962 nicht mehr erlebte Rolle. Rund 2000 Menschen auf Demonstranten-Seite wurden dabei verletzt, aber auch eine beachtliche Anzahl von Polizisten.

Bis dahin beruhte die Doktrin der französischen Polizei zur "Massenkontrolle" bei Demonstrationen eher auf Kanalisieren und Auf-Distanz-Halten, jedoch ohne Naheinsätze, ohne Spalierstehen direkt an den Seiten von Demonstrationen - wie man es seit längerem aus deutschen Städten kennt - oder Agieren von Greiftrupps im Inneren; wobei die französischen Einheiten eher auf Tränen- oder Reizgas und bis 2016 nur selten auf Wasserwerfer setzten.

Seit den Protesten im Frühjahr 2016 hat sich dies grundlegend gewandelt. Nunmehr kommt ein Mix aus Spalierstehen, Wasserwerfern und mitunter provokatorischen Einsätzen auch am Rande oder im Inneren von Versammlungen zum Tragen.

Die auf nationaler und internationaler Ebene ins Gespräch gekommene Polizeibrutalität aus Anlass der Proteste der - politisch heterogenen - "Gelbwesten"bewegung 2018 und 2019, mit zwanzig ausgeschossenen Augen und fünf abgerissenen Händen, setzte diese Erfahrung fort. Dabei vermehrt sich 2019 der Einsatz von Gummigeschossen wie dem mittlerweile berüchtigten Hartgummi-Typ LBD40.

Im März 2019 wurden auch die hochmobilen Motorradeinheiten, die ersatzlos aufgelöst wurden, nachdem die damaligen voltigeurs unter Innenminister Charles Pasqua am Rande einer Demonstration im Dezember 1986 den (unbeteiligten) jungen Mann Malik Oussekine von ihren Fahrzeugen aus totschlugen, wieder gebildet. Unter ihrem neuen Namen BRAVE waren sie in den letzten Monaten am Rande mehrerer Demonstrationen im Einsatz zu sehen. Vorläufig eher als Drohkulisse.

Zum dritten Faktor wäre zu sagen, dass es zwar heute keine unmittelbaren personellen Kontinuitäten zum Personal des historischen Faschismus gibt, wohl aber der politisch in Frankreich ziemlich präsente, zeitgenössische Neofaschismus in beträchtlichen Teilen der Polizei sein Nest machen konnte.

Belastbaren statistischen Untersuchungen zufolge stimmten seit den Regionalparlamentswahlen 2015 bei mehreren Wahlgängen über fünfzig Prozent der an ihnen teilnehmenden Polizeibediensteten für den rechtsextremen Front National (FN), welcher seit dem 1. Juni 2018 den Namen Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung") trägt.

Vor diesem Hintergrund entwickelte die Nachricht vom, durch Rassismus mit verursachten Tod von George Floyd durch die Tat eines Polizisten - unter Mitwirkung mehrerer Komplizen - in Frankreich schnell eine explosive Wirkung.

Zumal der spezifisch auf der Einwohnerschaft sozialer Brennpunkte, mit Migrationshintergrund oder dunkler Hautfarbe oder (tatsächlicher oder mutmaßlicher) muslimischer Religionsangehörigkeit, lastende polizeiliche Druck während der Wochen der Ausgangsbeschränkungen in Frankreich zugenommen hatte.

In diesem Zusammenhang war es ebenfalls zu einem Zwischenfall mit rassistischen Äußerungen gekommen, welcher Ende April dafür sorgte, dass zwei Polizisten vom Dienst suspendiert werden mussten.