Frankreich: Warum demonstriert die Linke nicht geschlossen gegen Antisemitismus ?
Seite 2: Angriff auf das Spitzenpersonal der Rechten und Gegenangriff
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Nachdem im Laufe der Woche eine gewisse öffentliche Debatte über diese Fragen entstanden war, versuchte die RN-Führung, die potenziell schädliche Polemik herunterzuspielen. Marine Le Pen erklärte scheinbar bescheiden, man wolle sich am Ende des Demonstrationszuges einreihen, man müsse nicht an dessen Spitze laufen. Das hat sie dann auch getan.
Ihr wichtigster moralischer Sieg ist aber, dass sie überhaupt und ohne größere Zwischenfälle in einer Demonstration mitlaufen konnte, in deren Reihen ihrer Partei noch vor wenigen Jahren nicht der geringste Platz eingeräumt worden wäre.
Heute wird sie grundsätzlich akzeptiert und konnte "ihre Präsenz durchsetzen", wie die Zeitung La Tribune resümierte.
Dennoch verlief die Teilnahme der Rechtsextremen nicht völlig ungestört.
Junge jüdische Mitglieder der Gruppe "Golem" attackierten und störten die FN-Delegation, wurden aber ihrerseits von Mitgliedern der rechtsextremen jüdischen Organisationen Betar und LDJ ("Jüdische Verteidigungsliga") angegriffen. Die Polizei trennte die beiden Lager.
Betar steht für den rechten Flügel des israelischen Likud-Blocks, die LDJ für die von Meir Kahane gegründete faschistische Kach-Bewegung. Letztere war bis in jüngster Vergangenheit in Israel mit Rechtsterrorismus in Verbindung gebracht worden, ist aber derzeit u.a. durch Itamar Ben Gvir in der israelischen Koalitionsregierung vertreten. Seit der Ablösung von Jean-Marie Le Pen durch Marine Le Pen kam es wiederholt zu Unterstützungsaktionen der LDJ für Marine Le Pen.
In Marseille wiederum wurde der rechtsextreme Senator Stéphane Ravier bei dem dort parallel zu Paris stattfindenden (allerdings deutlich kleineren) Marsch gegen Antisemitismus von Gegnern mit Mehl beworfen. Ravier gehörte früher dem RN an, wechselte aber 2021/22 zu seinem innerrechten Konkurrenten Éric Zemmour und dessen neu gegründeter Kleinpartei Reconquête!
Solidemo in Paris:; War die Linke wirklich abwesend?
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums glänzten mehrere linke Kräfte durch Abwesenheit. Dies gilt für die linkssozialdemokratische und linkspopulistische Wahlplattform LFI, aber beispielsweise auch für die der radikalen Linken zuzurechnende "Neue Antikapitalistische Partei" (NPA).
Begründet wurde dies vor allem mit der Präsenz der Rechten: "Man kann nicht mit denen gegen Antisemitismus demonstrieren, die ihn fördern!" (NPA).
Die Parti Socialiste, die Grünen und die französische KP hingegen nahmen mit einem eher staatstragenden Profil an der Demonstration teil, ohne sich in die Nähe der RN zu begeben.
Einen Schritt weiter ging der informelle, aber faktische Führer der LFI, Jean-Luc Mélenchon, dessen Wahlbewegung keine formalen Parteistrukturen und damit auch keine Transparenz und keine demokratischen innerparteilichen Wahlen kennt. Er schrieb, die Pariser Demonstration sei eine Veranstaltung der "Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers", gemeint waren die Angriffe auf Gaza und die dortige Zivilbevölkerung.
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Damit vermischte er jedoch, was nicht vermischt werden darf, nämlich die Frage nach der Haltung zum Antisemitismus in Frankreich einerseits und die Frage nach der Haltung zu Israel und seiner Regierung andererseits.
Um nicht den Eindruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem ersten Problem des Antisemitismus in Frankreich zu erwecken, schlossen sich Teile der LFI anderen alternativen Initiativen gegen Antisemitismus an. Bei einer Kundgebung der auf den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus spezialisierten linken Gruppe RAAR am Abend des 9. November – dem Jahrestag der Pogromnacht in Nazideutschland – im elften Pariser Arrondissement versammelten sich mehrere hundert Menschen.
In den Jahren zuvor waren es eher 50 bis 100 Personen gewesen. Der neue Zulauf erklärt sich auch durch die Teilnahme vieler LFI-Mitglieder, der Verfasser dieser Zeilen sah dort Parlamentarierinnen wie Manon Aubry und Clémentine Autin.
Dies blieb auch den Medien nicht verborgen.
Gedenkfeier gestört
Für den gestrigen Sonntagvormittag rief die Jugendorganisation der LFI – zusammen mit anderen Linken – kurzfristig zu einer alternativen Kundgebung gegen Antisemitismus auf. Diese sollte in der Nähe des ehemaligen Standortes des (Ende der 50er Jahre abgerissenen) Velodrome d’Hiver stattfinden, wo 1942 unter der Nazi-Besatzung tausende Juden und Jüdinnen von französischen Polizisten zusammengetrieben und deportiert wurden.
Die Veranstaltung wurde jedoch von den Behörden verboten.
Lediglich eine wenige Minuten dauernde Kranzniederlegung durfte mit behördlicher Duldung stattfinden. Diese wiederum wurde von rechtsextremen jüdischen Aktivisten, die sich im Jahr zuvor am Präsidentschaftswahlkampf von Éric Zemmour im 9. Pariser Arrondissement beteiligt hatten, angegriffen und gestört. Sie riefen: "Rührt die Erinnerung nicht an!" Auch dies war Teil eines insgesamt, wenn man alle Aspekte berücksichtigt, doch eher unruhigen Sonntag.
Auf der Suche nach Motiven
Zugleich stellt sich die Frage nach den Motiven für die brüske Absage von Jean-Luc Mélenchon an der Teilnahme an der faktischen Hauptveranstaltung am Sonntagnachmittag.
Denn auch wenn eine Abgrenzung zu den Rechten aller Schattierungen zweifellos notwendig ist, so waren doch auch Tausende ehrlich empörte oder besorgte jüdische Menschen unterwegs, denen gegenüber man sich anders verhalten muss als gegenüber Berufspolitikern aus dem Regierungslager oder dem RN.
Zumal diese Positionierung parteiintern umstritten blieb, wie die Teilnahme (trotz Mélenchons Absage) einer Reihe von LFI-Größen an der sonntäglichen Demonstration in Straßburg zeigte _ mehrere Abgeordnete der linken Wahlplattform, auch aus dem Pariser Raum wie Clémentine Autin und Alexis Corbière oder aus Amiens wie François Ruffin, wählten den Weg in die ostfranzösische Stadt, weil die dortige Demo gegen Antisemitismus ohne Beteiligung der Rechten angekündigt war.
Yann, ein in antifaschistischen Initiativen aktives Mitglied einer Lehrergewerkschaft der CGT, vertrat gegenüber Telepolis die These, dass in Wirklichkeit vor allem innerlinke taktische Motive für die scharfen Positionen Mélenchons verantwortlich seien.
Dieser wisse, dass er mit einseitigen Positionierungen Widerspruch provoziere – etwa bei Linksliberalen, die Wert auf Werte legen, aber auch bei den eher staatstragenden Teilen der Linken wie der Parti Socialiste.
Dass dadurch bestehende Kooperationen zerbrechen, sei aber durchaus gewollt. Denn bisher zogen alle linken Parteien seit den Wahlen im Frühjahr 2022 parlamentarisch an einem Strang und waren in der Nationalversammlung in einer fraktionsübergreifenden Koalition namens NUPES (Neue ökologische und soziale Union der kleinen Leute) verbündet.
Wenn die Parteien zusammenbleiben, ist es auch wahrscheinlich, dass sie sich auf eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatur für 2027 einigen, um zu verhindern, dass Le Pen dann Macron ablöst, was immer wahrscheinlicher wird.
Diese zu zerschlagen, könnte jedoch gewollt sein, denn Mélenchon bleibt mit Abstand der bestplatzierte potenzielle Präsidentschaftskandidat der Linken.
Sein Kalkül sei, dass er, selbst wenn er vorher viele vergraule und Bündnisse aufkündige, am Wahltag mit Stimmen aus allen Teilen der Linken rechnen könne – wenn es deren Besitzern dann darum gehe, "Le Pen und den wirtschaftsliberalen Erben Macron zu verhindern". indem sie den bestplatzierten Linken wählten. Deshalb nehme Mélenchon derzeit keine inhaltlichen Rücksichten.
Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen.
Denn die bürgerlichen Leitmedien haben sich nun mehrheitlich darauf geeinigt, den Antisemitismus angeblich bei der LFI und nicht mehr bei der RN zu verorten und dies mit der angeblichen Islamistenfreundlichkeit der LFI zu verknüpfen - was nicht stimmt, was Mélenchon aber geschickter konterkarieren müsste.
Das dürfte Antirassisten und Linksliberale verprellen, die das anrüchig finden. Aber auch gewöhnliche Rassisten, denen der angebliche Antisemitismusverdacht mehr oder weniger egal ist, die aber den Eindruck mitnehmen, Mélenchon sei "zu sehr mit den Musels im Bunde". Dazwischen könnte es auf Dauer verdammt eng werden.
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