Frankreich: Warum demonstriert die Linke nicht geschlossen gegen Antisemitismus ?

Fronttransparent in Paris am Sonntag. Bild: @Elisabeth_Borne

Rechtsextreme folgen dem Ruf des Élysée-Palastes. Die Linke zeigte sich gespalten. Ein Bericht aus Paris über scheinbar verkehrte politische Verhältnisse.

Hätte man das Szenario vom gestrigen Sonntag vor 25 Jahren einem Franzosen oder einer Französin prophezeit, sie hätten mit ungläubigem Kopfschütteln reagiert. Hätte man damals also vorausgesagt, dass dereinst die wichtigste Linkspartei die Teilnahme an einer Demonstration gegen Antisemitismus verweigern würde, während sich die öffentliche Debatte um die Teilnahme der wichtigsten rechtsextremen Partei Frankreichs an ebendieser Demonstration drehen würde: Niemand hätte einen Pfifferling darauf gewettet, dass dies eintreffen würde.

Und nun ist es genau so gekommen. Aber der Reihe nach.

Am 6. November schickte zunächst Olivier Faure, der Vorsitzende der französischen Parti Socialiste (PS) einen Brief an alle im Parlament vertretenen politischen Parteien. Darin forderte er sie auf, gemeinsam gegen antisemitische Übergriffe auf die Straße zu gehen.

Der Appell hatte einen ernsten Hintergrund: Seit dem 7. Oktober sind auf französischem Boden mehr als 1.000 antijüdische "Vorfälle" registriert worden. Meist handelt es sich um Propagandadelikte, um Hassäußerungen, seltener um physische Übergriffe.

Doch das ist schlimm genug. "Juden töten ist Pflicht" wurde in Carcassonne an eine Wand geschmiert, "Ratten" neben einem Davidstern an eine Mauer in Besançon.

"Tod den Juden" war in Straßburg zu lesen. Unterschiedlich motivierte Manipulationen in Einzelfällen wie durch Putins Trolle kommen immer wieder vor, erklären aber nie das Ganze.

Die Welle der Hasstiraden ist real – einige mögen von bestimmten Muslimen wegen der Gaza-Krise kommen, andere sind eindeutig von Neonazi-Netzwerken, die eine günstige Situation wittern, um aus ihren Löchern zu kriechen. Und es ist erschreckend.

Das ist eine der üblen Folgen und Konsequenzen der Gewalt und der kriegerischen Eskalation in Israel und Palästina. Doch der Nahe Osten ist nur der Anlass für die Ereignisse in Frankreich, ihre Ursachen liegen vor Ort.

Kapriolen um eine Einladung zur Demonstration

Die erste Antwort von Olivier Faure lautet, dass man einen Konsens zwischen den Parteien suchen müsse, um solche Vorfälle zu verurteilen. Dabei wollte er zunächst ausdrücklich auch das rechtsextreme Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung") einbeziehen, kurz bevor er seine Meinung änderte und eben jenes RN doch nicht dabeihaben wollte.

Letztere bemüht sich in den letzten Wochen nach Kräften um Akzeptanz, indem sie sich in den Konsens der staatstragenden Parteien zur Verteidigung Israels einreiht.

Die aktuelle Nummer drei des RN, Louis Aliot, derzeit Bürgermeister der 100.000-Einwohner-Stadt Perpignan, hatte 2013 explizit die These aufgestellt, die "letzte Barriere" auf dem Weg zur Macht sei "nur der Antisemitismus", also der Vorwurf desselben, "und nichts anderes".

Denn mit den eigenen Thesen zu "Einwanderung und Islam" könne man inzwischen im Mainstream ankommen, nicht aber mit dem Geruch des Antisemitismus.

Das hieß so viel wie: Als Rechtsextremer kann man getrost die rassistische Sau herauslassen, solange man nur aus bekannten historischen (und außenpolitischen) Gründen kein Problem mit den Juden hat.

Israel-Demo: der regierungsoffizieller Appell

Indes ergriffen der konservative Senatspräsident (also der Präsident des parlamentarischen Oberhauses) und die Emmanuel Macron nahestehende Präsidentin der Nationalversammlung bzw. des Unterhauses, Yaël Braun-Pivet, am nächsten Tag ihrerseits die Initiative.

Die Idee von Olivier Faure aufgreifend, aber im Namen der wichtigsten staatlichen Institutionen handelnd, riefen die beiden Parteien und die Bevölkerung für den gestrigen Sonntag, den 12. November, zu einem "Marsch gegen Antisemitismus" auf.

Die Regierung, deren politischem Lager Braun-Pivet angehört, schloss sich dem Aufruf bald offiziell an. Damit erhielt dieser einen quasi-offiziellen, von der Exekutive getragenen Charakter.

Operation Persilschein

Marine Le Pen, Fraktionsvorsitzende des Rassemblement National, und ihr junger Parteivorsitzender Jordan Bardella beeilten sich, zuzustimmen und ihre Teilnahme lautstark zu bestätigen. Auch Le Pen rief zunächst "alle unsere Wähler" zur Teilnahme auf.

Für den Rest der Woche drehte sich die mediale Debatte gut zur Hälfte um die Frage, ob das eine gute Idee sei oder ob eine so prominente Teilnahme nicht eine gute Gelegenheit für eine rechtsextreme Partei darstelle, sich quasi ein unverdientes moralisches Gütesiegel abzuholen.

Noch 2017, also vor nicht allzu langer Zeit, wollte Marine Le Pen einen notorischen Holocaust-Leugner an ihrer Stelle zum kommissarischen Parteivorsitzenden machen, als sie damals in die Stichwahl um das Präsidentenamt ging.

Es handelte sich um den langjährigen FN-Funktionär Jean-François Jalkh. Dieser musste dann, als im April 2017 seine Auslassungen über die angebliche technische Unmöglichkeit von Massentötungen mit "Zyklon B" an die Öffentlichkeit gelangten, kurzfristig auf den kommissarischen Chefsessel verzichten.

Der 28-jährige heutige Parteichef Bardella wiederum war 2015 parlamentarischer Mitarbeiter eben jenes Jean-François Jalkh im Europaparlament.

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