Frankreich: "Weiße Stimmen" zählen nicht
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Die abgegebenen leeren Stimmzettel könnten die Legitimität der Stichwahl unterminieren. Indessen zerbröckeln die großen Parteien, die Dissidenten häufen sich
Für seinen ersten Auslandbesuch im Amt des Präsidenten hat sich Frank-Walter Steinmeier Frankreich ausgesucht. Nicht ungewöhnlich, wie der Spiegel berichtet, Paris sei in der Regel das erste Reiseziel eines deutschen Staatsoberhaupts. Aber dieses Mal seien es besonders "schwierige Zeiten". Vielleicht empfängt ihn bald schon Marine Le Pen und erklärt Steinmeier, wie sich die neue Präsidentin den Austritt aus der Euro-Zone und danach den Frexit vorstellt.
Das "ganz andere Frankreich" verhindern
Also bot Steinmeier seinem amtierenden Kollegen Hollande Rückendeckung. Er mischte beim Wahlkampf mit, soweit es ihm seine Position gestattete - um das "ganz andere Frankreich" zu verhindern.
Er wolle den Demokraten Mut machen, verkündete Steinmeier schon bei seiner Antrittsrede in Deutschland. In Paris erinnerte er daran, wie wichtig der französische Beitrag "zur Geltung der Menschenrechte, zur Entwicklung und Verbreitung der Demokratie in unserer Welt" sei und dass in Brexit-Zeiten eine "noch größere Verantwortung auf Frankreich und Deutschland" zukomme.
Dass Hollande solche an Pathos rührende Formulierungen aus Schul- und Geschichtsbüchern mag, ist bekannt. Weniger sicher ist, ob die französischen Wähler solches Geklingel überhaupt zur Kenntnis nehmen. In Le Monde widmete sich gestern eine kleine Artikelserie den Nichtwählern, dem großen unbekannten Faktor der Wahl Ende April.
Die Nichtwähler, die zum Wahllokal gehen
Etwa 30 Prozent sollen sich noch unsicher sein, ob sie überhaupt zur Wahl gehen. Diese Schätzung kursiert schon länger in Medien. Von den Unter-25-Jährigen beabsichtugen gerade mal 52 Prozent zur Wahl zu gehen, wie Le Monde berichtet. Das weist daraufhin, dass sich große Teile der Bevölkerung von den demokratischen Klingeltönen à la Hollande oder Steinmeier eher weniger angesprochen fühlen.
Ein gestern erschienenes Interview in Le Monde brachte zum Phänomen der Nichtwähler ein interessantes Detail zutage. Der Politikwissenschaftler Martial Foucault machte auf die "weißen Stimmen" aufmerksam.
Diese stammen von Wählern, die zum Wahllokal gehen, aber einen unausgefüllten Stimmzettel abgeben. Der Unterschied zu den anderen Nichtwählern ist offensichtlich: Die "weißen Stimmen" demonstrieren, dass sie zur Wahl gehen wollen, aber ihre Interessen durch keinen Kandidaten vertreten fühlen.
Es wäre interessant zu erfahren, wie viele solcher votes blancs abgegeben werden - aber sie werden nach Auskunft des Politologen Martial Foucault offiziell nicht gezählt. Bei den Wahlergebnissen werden sie den anderen hinzugerechnet, die ihre Stimme gar nicht erst abgegeben haben.
Sie könnten, wenn sie eigens gezählt und ins Wahlergebnis übernommen würden, die absolute Mehrheit bei der Stichwahl verhindern, wie Martial Foucault an einem Beispiel vorrechnet, da es bei mitgezählten "weißen Stimmen" dazu kommen könnte, das keiner der beiden Stichwahl-Kandidaten über 50 Prozent kommt. Das würde die Legitimation des gewählten Präsidenten "unterminieren". Um sich zu veranschaulichen, dass das nicht allein Politik-Prof-Phantasie ist, muss man sich nur die Debatten in den USA nach dem Wahlsieg Trumps zu Gemüte führen.
Veränderungen in der politischen Landschaft, wenig Optionen für die Wähler
Die "weißen Stimmen" passen zum Bild eines Wahlkampfes, der viel verändert, den Wählern aber wenig Optionen gibt. Vieles wird auf die Frage zugespitzt, wer Le Pen verhindern wird.
Zu den großen Veränderungen gehört die der politischen Landschaft. Le Pen gehört jetzt dazu, sie ist keine Außenseiterin mehr, die um Fernsehauftritte kämpfen muss, und die beiden großen Parteien, in Deutschland würde man sie Volksparteien nennen, die Sozialdemokraten (PS) und die Republikaner von der rechten Mitte, erleben mächtige Zerreißproben.
Die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, dass sie sich in Flügel aufsplitten, die Streitigkeiten zwischen Radikaleren und Gemäßigteren in beiden Parteien werden nur mühsam gebändigt. Auf die Präsidentschaftswahl, die Anfang Mai mit der Stichwahl entschieden wird, folgt am 11. Juni die Wahl der 577 Abgeordneten der Nationalversammlung. Dort geht es um die Mehrheiten der Sitze im Parlament, das ist Parteiengelände.
"Messer in den Rücken" - Dissenz in den großen Parteien
Nachdem in der vergangenen Woche der frühere Ministerpräsident Valls von der Parti socialiste (Wikipedia verwendet es im Deutschen als Femininform, im Französischen ist Parti maskulin) erklärt hat, dass er sich hinter den parteilosen Kandidaten Emmanuel Macron stellt und nicht hinter den PS-Kandidaten Benoît Hamon, hat sich die Lagerbildung innerhalb der PS verschärft und damit die Kontroversen.
Der Streit in der Partei war schon auffällig bei den Diskussionen zum Arbeitsgesetz (Der Machtkampf in Frankreich spitzt sich zu) sowie beim Loi Macron(!) , das "Attraktivität für den Wirtschaftsstandort Frankreich schaffen und entwickeln" sollte. Das Ziel wurde bekanntlich nicht wirklich erreicht.
Valls ist nicht der einzige aus der PS, der Macron unterstützt, Benoît Hamon reagiert sehr empfindlich auf die Überläufer. Er beklagt in seiner Wahlkampagne "Dolchstoß" und "Messer im Rücken", was seine Aussichten auf den Präsidentenposten nicht unbedingt erhöht, da von einem Kandidaten für den Elysée-Palast mehr Souveränität erwartet wird.