Frauenbefreiung im kybernetischen Kommunismus

50 Jahre "The Dialectic of Sex - The Case of Feminst Revolution" von Shulamith Firestone

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Die Abschaffung der Kindheit und der biologischen Familie oder die Einführung künstlicher Fortpflanzung und eines kybernetischen Kommunismus - in The Dialectic of Sex1 beschäftigt sich Shulamith Firestone (1945-2012) mit Themen, die Vielen damals wie heute irrwitzig erscheinen.

Einige behandelt sie aus dem Zeitgeist heraus oder sind heute überholt. So haben sich die Vorstellungen zur Kindheit samt der Forderung nach sexueller Freiheit für Kinder als gefährlichen Irrweg erwiesen, da sie Missbrauch Tür und Tor öffnen. Andere Themen des Buches, wie der Zusammenhang von Rassismus und Sexismus oder die Bedeutung der Ökologie für den Feminismus, sind ohne Zweifel brandaktuell. Ebenfalls ohne Zweifel ist dieses im Oktober 1970 erschiene Werk ein Klassiker der radikal-feministischen Literatur und verdient es, wieder gelesen zu werden.

Es ist der Schlussstein von Firestones Werk zur Frauenbefreiung, das die streitbare Künstlerin und Aktivistin im kurzen Zeitraum von 1967-70 schuf. Nach der Veröffentlichung zieht sich Firestone aus der Debatte und der Öffentlichkeit zurück und konzentriert sich auf ihr künstlerisches Werk. Eine psychische Erkrankung machen mehrere Klinikaufenthalte erforderlich. Im Jahr 2012 stirbt sie einsam und weitgehend vergessen in ihrem Appartement in New York.

The Dialectics of Sex ist ein Schlüsselwerk der zweiten Welle des Feminismus. Die erste Welle erreicht nach jahrzehntelangen Kämpfen eine weitgehende Gleichstellung der Frauen im Hinblick auf die politischen Partizipationsrechte in den USA. Dies markiert vor allem der Beschluss des 19. Verfassungszusatzes von 1920, der allen (weißen) Bürgern unabhängig vom Geschlecht das Wahlrecht auf Bundesebene und in allen Gliedstaaten garantiert. Doch der Einfluss von Frauen in der Politik bleibt in der Folge überschaubar und die soziale und ökonomische Situation der Frauen veränderten sich damit nicht grundlegend. Im Gegenteil erleben die USA nach dem zweiten Weltkrieg einen gesellschaftlichen Rollback.

Um für die aus dem Krieg zurückkehrenden Männern eine Erwerbstätigkeit und damit die Rolle des breadwinners zu ermöglichen, werden massenhaft Frauen aus ihren Berufen gedrängt. Stay-at-home domesticity, das Leben als Hausfrau und Mutter wird idealisiert. So wird im Babyboom der Nachkriegszeit die entsprechende (traditionell genannte) Rollenverteilung zum dominanten bürgerlichen Familienmodell. Parallel zum Civil Rights Movement wird in den 1960er Jahren die Frauenfrage aber wieder stärker beachtet.

Mit The Feminine Mystique landet Betty Friedan im Jahr 1963 einen Bestseller, der vielen Leserinnen zeigt, dass sie mit ihrem Frust über das Hausfrauendaseins nicht alleine sind. Im Jahr 1966 gründet Friedan mit Mitstreiterinnen die National Organization for Women (NOW, die sich seitdem gegen die Diskriminierung von Frauen, für gleiche Beschäftigungschancen und Equal Pay einsetzt.

Shulamith Firestone tritt 1967 erstmals als feministische Aktivistin hervor. Zu dieser Zeit studiert sie in Chicago und nimmt dort an der National Conference for New Politics teil. Hier lernte sie Jo Freeman kennen. Gemeinsam setzen sie sich vergeblich dafür ein, dass auf der Konferenz auch über eine Resolution zur Lage der Frauen diskutiert wird, wie Jo Freeman in ihren Erinnerungen an die Anfänge des Women‘s Liberation Movements berichtet.

Als Reaktion auf die Ablehnung der neuen Linken, sich mit diesem Thema zu beschäftigten, suchen sich die Beiden Mitstreiterinnen. Dies führt zur Gründung der radikalen Frauengruppe Westside, die sich im Appartement von Jo Freeman treffen. Shulamith Firestone zieht noch im Jahr 1967 nach New York, wo sie an der Gründung mehrerer radikaler Frauengruppen, wie New York Radical Women und Redstockings beteiligt ist. In den Publikationen der Gruppen des Women's Liberation Movements, wie dem Newsletter Voice of the Women’s Liberation Movement, Notes form the First Year oder Notes of the Second Year, werden zahlreiche Aspekte des radikalen Feminismus beleuchtet, die Shulamith Firestone in The Dialectics of Sex in einem Manifest zusammenführt. Während NOW sukzessive Verbesserungen zugunsten von Frauen im Rahmen der herrschenden Verhältnisse anstrebt, wollen die Frauen des Women‘s Liberation Movements die Probleme an der Wurzel packen: dem Patriachat.

Dabei liegt die Radikalität des Women’s Liberation Movements darin, in der Spaltung in geschlechtsspezifische Klassen die Ursache aller Unterdrückung und insbesondere die Tyrannei über Frauen und Kindern zu sehen. Shulamith Firestone erkennt, dass diese Spaltung trotz ihrer grundlegenden Bedeutung nur unzureichend im Bewusstsein verankert ist. Denn sie ist "so tief verwurzelt, daß sie nicht mehr zu erkennen ist." Fällt sie trotzdem mal auf, erscheint sie vielen "als oberflächliche Ungleichheit". Denn bislang sei es undenkbar gewesen, die biologischen Grundvoraussetzungen der bestehenden Gesellschaft verändern zu wollen.

Doch nicht weniger als das strebt Firestone in einer feministischen Revolution an. Sie sieht die Zeit gekommen, in der es die Umstände nicht nur erlauben, sondern auch erforderlich machen, diese Revolution zu fordern. Dabei erkennt sie aber auch, dass es außerordentlich schwierig ist, diesen Umsturz zu verwirklichen. Schon die Kritik der herrschenden Verhältnisse bedeutet eine große Herausforderung. Denn "Feministinnen müssten nicht nur die gesamte westliche Kultur in Frage stellen, sondern die Kultur selbst, mehr noch: sogar die Natur". Bevor damit begonnen werden kann, die herrschenden Verhältnisse zu ändern, müsste erkannt werden, wie sie entstanden sind, wodurch sie erzeugt wurden und welche Institutionen sie aufrechterhalten.

Marx/Engels und Freud feministisch gewendet

Bei ihrem Versuch, diese Fragen zu klären, nutzt Firestone sowohl den historischen Materialismus von Marx/Engels und als auch die Freudsche Psychoanalyse. Um diese Ansätze für ihre Zwecke brauchbar zu machen, modifiziert sie beide gründlich.

Zu Marx/Engels sagt sie, man könne viel von ihnen lernen, aber nicht aus dem, was sie über Frauen geschrieben haben. Denn von der Lage der Frauen als unterdrückter Klasse wussten sie nahezu nichts. Aber ihre analytische Methode hält sie für brauchbar. So wäre es zwar falsch, zu versuchen, die Unterdrückung der Frauen anhand einer ausschließlich ökonomischen Interpretation zu erklären. Denn bei all ihren Verdiensten, gehe die Klassenanalyse nicht tief genug. Firestone stellt fest: "Der historischen Dialektik fehlt der gesamte geschlechtsbezogene Unterbau…" Deshalb versucht sie, "eine materialistische Geschichtsbetrachtung zu entwickeln, deren Ausgangspunkt das Geschlecht selbst ist". Firestone will "zuerst versuchen, eine Analyse zu entwickeln, in der die Biologie selbst - die Fortpflanzung - der Ursprung des Dualismus ist".

Ähnlich verfährt sie auch mit Freud. Inhaltlich bringt sie eine Reihe von Einwänden gegen seine Arbeit vor, aber seine "verzerrte, kulturell bedingte Sichtweise … macht seine Beobachtungen nicht restlos ungültig". Deshalb will Firestone ihre Betrachtungen "in eine feministische Analyse der Freudschen Lehre integrieren".

Sie hält Freuds Erkenntnisse für die Entwicklung eines neuen, dialektischen Materialismus gar für bedeutender als die Erkenntnisse der sozialistischen Theoretiker. Deshalb geht es ihr darum, "das Beste von Marx und Engels (ihren materialistischen Geschichtsansatz) mit dem Besten von Freud (sein Wissen über die weibliche und männliche Psyche und die Mechanismen, die sie formen) zu verbinden, und eine politische und persönliche Lösung anstreben, die dennoch auf realen Bedingungen beruht".

Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Realität und in ihren Vorstellungen zur feministischen Revolution greift Firestone auf Marx/Engels zurück, verschiebt jedoch die Perspektive im oben genannten Sinne. Grundlegend ist dann, dass die geschlechtsbedingte Klasse direkt einer biologischen Realität entspringt: "Männer und Frauen sind verschieden, nicht gleich."

Es ist aber nicht der biologische Unterschied selbst, der die Klassengesellschaft, also die Herrschaft einer Gruppe über die andere, hervorbringt. Diese ist vielmehr eine Folge der Funktion des Unterschieds in der Reproduktion. So besteht in der "biologischen Familie eine tiefverwurzelte, ungleiche Machtverteilung". Die biologisch bedingten Faktoren der menschlichen Familie könnten nicht übertüncht werden. In der Kernfamilie der westlichen Moderne werden "die psychologischen Strafgesetze der biologischen Familie" zusätzlich verstärkt.

Trotzdem ist der Fortbestand der Tyrannei über die Frauen und Kinder damit nicht in Stein gemeißelt. Denn "das Zugeständnis, daß die Ungleichheit der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern ein biologische Ursache hat, bedeutet nicht, daß wir auf verlorenem Posten kämpfen: Wir sind keine Tiere mehr. Und die Natur ist nicht mehr allmächtig." Andersherum betrachtet bedeutet dies allerdings auch, dass Frauen und Kinder nicht automatisch befreit sein werden, wenn die biologische Basis der Unterdrückung aufgehoben würde. Firestone warnt: "Die neue Technologie, besonders die Geburtenkontrolle, kann gegen sie gerichtet werden, um das festgefügte Ausbeutungssystem zu verstärken."

Aus diesem Grund und weil die Männer kein Interesse daran entwickelt haben - und auch nicht entwickeln werden -, auf ihre Macht zu verzichten, ist die Befreiung eine politische Aufgabe. Für Firestone kann sie nur in einer Revolution erreichte werden. In weitgehender Übereinstimmung mit der marxistischen Revolutionstheorie, muss diese Revolution von der ausgebeuteten Klasse getragen werden - also von Frauen.

Das Scheitern der sozialistischen Revolutionen dabei freie Gesellschaften hervorzubringen, sieht sie darin begründet, dass die psychosexuelle Basis der Gesellschaftsordnung nicht erkannt und deshalb die Geschlechterklassen nicht berücksichtig wurden. So habe die "russische Revolution dabei versagt, eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen, weil sie nur einen halbherzigen Versuch gemacht hat, die Familie und die sexuelle Unterdrückung abzuschaffen". Anstelle der vorübergehenden Diktatur des Proletariats im Marxismus, sieht Firestone für die feministische Revolution die Inbesitznahme der Kontrolle über die Reproduktion durch die Frauen als notwendig an, um die geschlechtsspezifische Klassengesellschaft zu überwinden.

Während die sozialistische Revolution es anstrebt, nicht nur die ökonomischen Klassenprivilegien abzuschaffen, sondern die Klassenunterschiede selbst aufzuheben, soll die feministische Revolution nicht lediglich die männlichen Privilegien beseitigen, sondern die Geschlechtsunterschiede selbst. Die Gesellschaft soll derart revolutioniert werden, dass die genitalen Unterschiede zwischen den Geschlechtern keine gesellschaftliche Bedeutung mehr haben. Firestones Kritik an Freud ist noch schärfer als die an Marx/Engels. Freuds Erkenntnisse gehen weiter als seine praktischen Lösungsansätze, so ihre Einschätzung. Zwar habe er die dynamischen Kräfte der Psychologie in ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhang erkannt. Doch die wesentlichen Strukturen des gesellschaftlichen Kontexts - welche die Grundlage der gesamten Gesellschaft bilden - sieht er als absolute, existentielle Grundbedingungen an, weshalb er sie nicht infrage stellt. Deshalb ist sein Lösungsansatz, die psychoanalytische Therapie, nicht nur ein Fehlschlag in der Praxis und in sich widersprüchlich, sondern auch ein Grund dafür, dass politisch und gesellschaftlich sensible Menschen nicht nur diese Therapieform, sondern Freuds Arbeit in Gänze ablehnen.

Entsprechend zählt Firestone die zeitgenössische Psychoanalyse zu den systemstabilisierenden Faktoren. Anstelle einer Bekämpfung der Kernfamilie und des männlichen Chauvinismus, den diese hervorbringt, propagiere diese individuelle Anpassung an die herrschenden Zustände. Insbesondere Frauen wurden so von den politischen und gesellschaftlichen Ursachen für ihr individuelles Leid abgelenkt und dazu verleitet, selbst Anstrengungen zu unternehmen, um ihre Hausfrauen- und Mutterrollen weiterhin ertragen zu können.

Kurz gesagt, die Theorie Freuds, getrimmt auf eine neue Funktion sozialer Anpassung, wurde dazu genutzt, den feministischen Aufstand auszulöschen. Indem sie die Opfer der abgewürgten feministischen Revolution mit Heftpflaster zusammenflickte, gelang es ihr, die ungeheure soziale Unruhe und die durch den ersten Angriff auf die rigide patriarchalische Familie ausgelöst wurden, zu besänftigen. Ich zweifle dran, dass es ohne diese Theorie gelungen wäre, die sexuelle Revolution ein halbes Jahrhundert aufzuhalten.

Trotz der Fehler der Lehre und der fatalen Wirkung der psychoanalytischen Therapie versucht Firestone zu zeigen, wie Freuds Werk für den radikalen Feminismus produktiv gemacht werden kann. So könne z.B. der Ödipus- und der Elektra-Komplex nur dann sinnvoll begriffen werden, wenn man sie unter dem Aspekt der Macht betrachte. Durch das Aufwachsen in der Kernfamilie entwickeln viele diese Komplexe oder Neurosen. Deshalb müssen die Machtverhältnisse in der Kernfamilie in den Blick genommen werden, "also der Form von sozialer Organisation, die die schlimmsten Auswirkungen der Ungleichheit, die die biologische Familie ohnehin charakterisiert, noch verstärkt". Durch eine feministische Analyse, die dies berücksichtigt, könnte die gesamte Struktur der Freudschen Lehre einen Sinn bekommen.

Technologie als Problem und als Lösung

Als weitere Institutionen, die das Patriachat stützen, behandelt Firestone die Kindheit, die Schule, den Rassismus, die romantische Liebe und die männlich geprägte Kultur, die sowohl die schönen Künste, die Geisteswissenschaften als auch die Naturwissenschaften und die Technologie beinhaltet. Aus heutiger Sicht am bemerkenswertesten sind dabei ihre Ausführungen zu Naturwissenschaften und Technologie, die sie leider nicht systematisch ausgearbeitet hat und die sich im Buch über mehrere Kapitel verstreut finden.

Für Firestone zählen Naturwissenschaft und Technologie ganz wesentlich zu den Entwicklungen, die die Voraussetzungen für eine feministischen Revolution geschaffen haben. Außerdem lässt die weitere technologische Entwicklung auf neue Freiheiten hoffen. Künstliche Fortpflanzung könnte die Frauen davon befreien, die Mühen der Reproduktion der Art allein zu übernehmen. In der Kybernetik sieht Firestone gar das Potential, die Arbeit überhaut abzuschaffen. Aber der Einsatz neuer Technologien birgt immer auch die Gefahr, dass sie gegen Frauen und Kinder gerichtet sind, "um das festgefügte Ausbeutungssystem zu verstärken".

Doch den Einsatz der Technologien so zu organisieren, dass sie zum Wohle aller dienen, erscheint Firestone nicht einfach. Denn die Naturwissenschaften und die Entwicklung von Technologie erkennt sie als eine in höchstem Maße männliche Domänen. Frauen seien in ihrer Mehrzahl als von der Naturwissenschaft völlig ausgeschlossen an. Es gäbe für sie keine direkte Beziehung zur naturwissenschaftlich-technologischen Kultur, die die "Realisierung des Vorstellbaren im Rahmen des Möglichen" zum Ziel hat. So sieht sie folgende Situation:

Man muss lange suchen, um auch nur eine einzige Frau zu finden, die auf überragende Weise einen Beitrag zur naturwissenschaftlichen Kultur geleistet hat. Darüber hinaus verbessert sich auch die Situation der Frauen in der Wissenschaft nicht. Obwohl sich die Forschungsarbeiten von den genialen, umfassend gebildeten Köpfen der Vergangenheit heute auf die kleinen pragmatisch ausgerichteten Forschungsteams der Universitäten verlagert hat, gibt es erstaunlich wenig Wissenschaftlerinnen.

Den historischen Durchbruch der modernen (empirische) Wissenschaft verortet Firestone in Francis Bacons Vorschlag, die Wissenschaft zu nutzen, um "die Grenzen der Macht und der Größe der Menschen" auszudehnen. Hiermit geht die ältere ästhetische (lt. Firestone auch weibliche) Kultur, in der die abstrakte Spekulation und die Ehrfurcht vor der unergründlichen Natur vorherrschend waren, mit der technologischen Kultur eine Ehe ein. In dieser Vermählung entsteht die moderne (empirische) Wissenschaft und in ihrer Folge überlässt die ästhetische Kultur der technologischen mehr und mehr Raum.

Das Aufblühen der empirischen Wissenschaft und der Technologie korrespondiert mit der Entwicklung des Kapitalismus, beide befördert durch die Herrschaft der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie verschärft den Geschlechtergegensatz. Im Kapitalismus haben sich "die übelsten Eigenschaften des Patriachats intensiviert". Als kulturellen Ansatz bevorzuge die neue, stark patriarchalische Bourgeoisie den "männlichen", technologischen Ansatz, den objektiven, tatsachenbezogenen, "mit gesundem Menschenverstand".

Die negativen Folgen der patriachalischen Nutzung von Technologie sind für Firestone klar sichtbar. Die feministische Revolution muss deshalb auch die Spaltung der Kultur aufheben. Dabei soll es nicht bei der Schaffung einer neuen, androgynen Kultur bleiben. Es müsste auf die Abschaffung der kulturellen Kategorien selbst hinauslaufen. Denn: "Wenn das Vorstellbare erst vollkommen im Tatsächlichen erreicht ist, dann ist das Surrogat Kultur nicht mehr notwendig."

Chauvinismus und Umweltzerstörung

Am Beispiel der Ökologie zeigt Firestone, dass die Nutzung der Technologie in der aktuellen Form nicht nur gesellschaftliche Spannungen verschärft, sondern die Menschheit auf einen Gleis ins Verderben gesetzt hat. Dies ist zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Die Grenzen des Wachstums durch den Club of Rome durchaus bemerkenswert. Firestone sieht: "Die rasende Entwicklung der Technologie hat das Gleichgewicht der Natur gestört."

Das neuerwachte Interesse an der Ökologie sei aber zu spät entstanden, um durch den Mechanismus des Bewahrens, das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Es brauche deshalb "ein revolutionäres ökologisches Programm, mit dem Ziel, ein humanes, künstliches (von Menschen hergestelltes) Gleichgewicht anstelle des natürlichen zu setzten."

Für Firestone steht das globale Umweltproblem in Verbindung mit der Bevölkerungsexplosion. Dies macht es erforderlich, dass "allein aus rein pragmatischen, überlebenswichtigen Gründen … die Menschheit von der Tyrannei der Biologie" befreit werden muss. Hierin sieht sie eine Übereinstimmung der Ziele der Frauenbefreiungsbewegung und der ökologischen Bewegung. Sie zeige sich in zwei Angelpunkten: Zum einen in der "Fortpflanzung (Reproduktion) und ihrer Kontrolle unter Berücksichtigung der Bevölkerungsexplosion und der Geburtenregelung". Zum anderen in der "Kybernetik, d.h. die vollständige Übernahme von zunehmend komplexen Arbeitsfunktionen durch Maschinen, die die jahrhundertelange Beziehung der Menschen zu Arbeit und Lohn verändern wird".

Auch wenn sich zwischenzeitlich gezeigt hat, dass die reine Zahl der Weltbevölkerung (noch) nicht der maßgebliche Faktor für das Ausmaß an Umweltzerstörung ist, sondern der ressourcen- und emissionsintensive Lebensstil eines kleinen Teils der Weltbevölkerung, bietet Firestone eine bedenkenswerten Erklärungsansatz für die Widerstände gegen eine ökologische Transformation. Firestone benennt diese Beharrungskräfte klar:

Es ist der besondere Chauvinismus, den die Familie hervorbringt. Wir haben einige Komponenten dieser Familienpsychologie beschrieben: die patriarchalische Mentalität, die sich mit ihren Söhnen nur insoweit beschäftigt, als diese Erben und Ausdehnung des Ichs sind, und die sich im privaten Streben zeigt, Unsterblichkeit zu erlangen (Warum sich über das Wohl der ganzen Gesellschaft den Kopf zerbrechen, Hauptsache wir und die unseren sind "glücklich"); der Chauvinismus des "Wir sind wir, die anderen sind die anderen" …

Auch wenn der Fokus der ökologischen Bewegung derzeit nicht auf der Geburtenkontrolle und künstlicher Fortpflanzung liegt, gibt es doch gute Gründe davon auszugehen, dass sie in der beschriebenen Geisteshaltung einen mächtigen Gegenspieler hat. Das expansive Streben bei bewusstem Ignorieren der gesellschaftlichen und ökologischen Folgen treibt das Artensterben und die Klimakatastrophe an. Zudem widersetzt diese Mentalität sich den Versuchen, Ressourcen- und Flächenverbrauch den Grenzen der Biosphäre anzupassen.

An der aktuellen Wirtschaftsweise festzuhalten, ist aus ökonomischer Sicht dermaßen kurzsichtig, dass sich auch bzw. gerade der rein nach Profit strebende, langfristig orientierte Kapitalanleger (also der Homo oeconomicus par excellence) schon längst für Alternativen einsetzten müsste. Es kann also nicht allein die Orientierung am materiellen Nutzen sein, die den Widerstand gegen die ökologische Transformation motiviert.

Kybernetischer Kommunismus als Ziel der feministischen Revolution

Firestone sieht auch, dass oft auch Progressive die herrschenden Zustände stabilisieren, da ihnen ihre Technologiefeindlichkeit im Weg ist. So würden auch in diesen Kreisen beide Themen, Bevölkerungskontrolle und Kybernetik, auf breite Ablehnung stoßen. Beide "lösen ein und dieselbe nervöse und oberflächliche Reaktion aus, denn beiden liegt ein Problem zugrunde, für dessen Lösung es keinen Präzedenzfall gibt: die qualitative Beziehung der Menschheit zur Produktion und Reproduktion." Für die Lösung dieses Problems hält sie drastische Schritte für notwendig:

Wir werden fast über Nacht eine neue Kultur brauchen, die auf einer radikalen Neudefinition von menschlichen Beziehungen und Freizeitverhalten der Massen aufbauen muß. Eine so radikale neue Definition unserer Beziehungen zur Produktion und zur Reproduktion erfordert zugleich die Zerstörung der Klassengesellschaft und der Familie.

Dann könnte die Welt gerettet und die Menschheit befreit werden:

Der doppelte Fluch, daß der Mann im Schweiße seines Angesichts die Erde pflügen und die Frau unter Schmerzen gebären soll, kann so von der Technologie aufgehoben werden. Zum ersten Mal in der Geschichte ist ein wahrhaft menschenwürdiges Leben möglich.

Firestone sieht die Aufgabe der feministischen Bewegung darin, "die kulturelle Bereitschaft für dieses neue ökologische Gleichgewicht zu schaffen, das für das Überleben der Menschheit im 20. Jahrhundert notwendig ist".

Die Ziele der feministischen Revolution sind also nicht auf die bloße Erhaltung des menschlichen Lebens auf Erden gerichtet. Vielmehr soll der Fluch des Sündenfalls gehoben und ein "Garten Eden auf Erden wiedererschaffen" werden. Dies beinhaltet die Abschaffung der Familie (und damit der Psychologie der Macht) und revolutionäre Veränderungen der politischen und sozialen Struktur, die durch den Einsatz von Technologie erreicht werden sollen. Neue Technologien sollen die Befreiung der Frauen von der Tyrannei der Fortpflanzung ermöglichen, was für Firestone letztlich die Einführung von künstlicher Fortpflanzung beinhaltet.

Die gesellschaftliche Ordnung müsste durch Revolution zu einem kybernetischen Kommunismus umgewandelt werden. Denn nur bei Einsatz hochentwickelter Technologie könnte - selbst bei Überwindung des Kapitalismus - mehr als eine marginale Eingliederung der Frauen in den Arbeitsprozess erreicht werden. Im kybernetischen Kommunismus jedoch würde "der Arbeitskräftemarkt selbst durch Automatisierung überflüssig". Arbeit im Sinne von erzwungener Tätigkeit, vor allem in Form der entfremdeten Lohnarbeit, wäre dann nicht länger notwendig. Denn:

Ein kybernetischer Kommunismus würde die ökonomischen Klassen abschaffen sowie jede Form der Ausbeutung der Arbeitskraft und allen Menschen einen Lebensunterhalt sichern, der auf den materiellen Bedürfnissen beruht. Schließlich würde die Arbeit (Muskelarbeit) zugunsten von (komplexen) Spielen eliminiert werden und die Aktivität um ihrer selbst willen und von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen entfaltet werden.

Diese von Firestone selbst als utopisch bezeichneten Vorstellungen können leicht als unrealistisch oder gar als abstrus kritisiert werden. Interessanter ist es aber The Dialetic of Sex im Hinblick darauf zu lesen, was für einen Beitrag es zum Verständnis der aktuellen Situation leisten kann.

Als erstes ist dabei zu nennen, dass die Fragen nach Unfreiheit und Freiheit hier ins Zentrum der Analyse gerückt wird und damit auch die Frage nach der Macht, die der politischen Herrschaft vorausgeht. Dies ist - unabhängig davon, was darunter inhaltlich verstanden wird - für progressive Bewegungen von ungebrochener Aktualität. Dafür muss immer eine radikale Haltung eingenommen werden. Denn es gilt in der Analyse der herrschenden Verhältnisse, die Wurzeln freizulegen, aus denen die Unfreiheit erwächst.

Weiter ist Firestone mit ihrem Versuch beispielgebend, die technologische Entwicklungen in ihren positiven wie auch negativen Potentialen für die gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Situation in den Blick zu nehmen. Gerade im Hinblick auf die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnik, einschließlich Big Data und KI, ist das unabdingbar für jedes kritisches Denken in der Gegenwart. So gibt The Dialectic of Sex nicht nur Anlass zur Erweiterung des Horizonts des Denkbaren, sondern auch Anregungen für die Entwicklung eines radikalen, kritischen Denkens für das 21. Jahrhundert.

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