Freie Fahrt für freie Bürger!

Gibt es neue Perspektiven für unsere städtische Mobilität?

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Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.

Hannah Arendt in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises 1959 in Hamburg

Das ist, muss man einräumen, ein wunderbarer Satz.

Doch wenn man sie in die Sphäre des Verkehrs überträgt, ist das mit der Bewegungsfreiheit so eine Sache. Das beweist ein Blick auf die jüngere Geschichte. In der 1950er Jahre durchdrang ein Slogan unsere Gesellschaft, der die Republik und ihre Städte auf lange Jahrzehnte prägen sollte. "Freie Fahrt für freie Bürger" war gleichsam der emanzipatorische Ruf nach allem, was die Wirtschaftswunderjahre vorbereitet hatten.

Mit dem VW-Käfer wurde der Grundstein gelegt: Der Volkswagen wurde zum Sinnbild der aufkommenden automobilen Gesellschaft und der ihn produzierende Konzern ein Symbol der wirtschaftlichen Kraft Deutschlands. Auch in den Städten nahm diese Entwicklung ihren verhängnisvollen Lauf: Schnell und unbeirrbar eilte das Leitbild der autogerechten Stadt von Erfolg zu Erfolg.

Wer als Städteplaner und Stadtoberhaupt etwas auf sich hielt, bereitete dem Pkw seinen Weg. Verkehrsflächen jeder Art wucherten - mehrspurige Fahrbahnen, Parkplätze und -häuser in den Innenstädten usw. Die Garage am Eigenheim, und das samstägliche Autowaschen als eine Art Wochenendritual. Der Pkw war als Statussymbol der Deutschen nicht wegzudenken, und ist auch heute noch nicht obsolet.

VW-Käfer in der Karlsruher Innenstadt (1961). Bundesarchiv, B 145 Bild-F009814-0005 / Rolf Unterberg / CC-BY-SA 3.0

Die Stadtplanung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stand ganz im Zeichen der technisch-ökonomischen Effizienzkriterien. Die Stärkung der Städte als Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung orientierte sich dabei an zwei Leitlinien. Zum einen galt es, den Unternehmen gute infrastrukturelle Rahmenbedingungen für ökonomische Aktivitäten zu schaffen. Zum anderen ging es um die Erschließung des Arbeitskräftereservoirs. Für beide Ziele stellte die Verkehrsplanung die wesentlichen Weichen. Im Zentrum dieser Vorstellung steht die Mobilität zwischen Wohnort und Arbeitsplatz, also der Berufsverkehr.

Seit den 1960er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende nutzten weite Teile der Bevölkerung die Chancen, die sich durch das Auto und den massiven Straßenausbau eröffnet hatten, und zogen ins Umland der Städte. Sie verwandelten Dörfer in Vorstädte und den ländlichen in einen suburbanen Raum, bis hin zu den "Exurbs" weit draußen. Sie erzeugten nicht nur Staus und Flächenfraß, Einfamilienhaus- und Reihenhaussiedlungen, sondern lebten auch ein spezifisches Ideal, das von innerfamiliärer Arbeitsteilung, geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen und entsprechenden Wohnwünschen geprägt war.

"Meine Frau hat es nicht nötig zu arbeiten" - das bringt ein Leitbild auf den Punkt, das mittlerweile erheblich erodiert ist. Ganz zu schweigen davon, dass der Fokus "Berufsverkehr" (wie auch das Paradigma der "Beschleunigung") nicht der tatsächlichen Vielfalt städtischer Mobilitätsbedürfnisse Rechnung trägt. Die alltägliche Mobilität, die gekennzeichnet ist durch die Verknüpfung von eher kurzen Wegen, braucht eher eine feinmaschige, lebenspraktische Funktionalität.

Die virale Erfolgsgeschichte des Pkw ist zu einem gigantischen Problemberg der Moderne geworden

Wenn man heute nach dem wirkmächtigsten Hebel sucht, mit dem man die Lebensqualität in unseren Städten steigern kann, liegt dieser sicherlich im Stadt- und Regionalverkehr. Doch Einsicht in die Zukunft der Mobilität ergibt eher weniger die Lektüre der neuesten Prospekte der Autohersteller. Was jüngst im Dieselskandal kulminierte, ist Teil einer Umkehrung der viralen Erfolgsgeschichte des Pkw in einen gigantischen Problemberg der Moderne: Schadstoff- und Lärmemissionen machen die Stadtbewohner zunehmend krank. Straßen- und Schienenstränge wirken viel zu oft als trennende Barrieren in der Stadt, sind oft genug in Beton gefasste Ursache für den Niedergang ganzer Stadtviertel.

Zudem macht der alltägliche Stau - zumindest in den großen Agglomerationsräumen - auch im Auto das Fortkommen schwer möglich. Hinzu kommt die durchaus verheerende Flächenbilanz der autofreundlichen Stadt, in der wir ein Drittel an Flächen zum Fahren, Abstellen oder Parken des deutschen liebsten Kindes hergegeben haben. Untersuchungen belegen, dass eine Pkw-Fahrt von Zuhause zur Arbeit 90 mal mehr Raum beansprucht, als dieselbe Fahrt mit Bus oder Straßenbahn, und beträchtlich mehr, als wenn ein Fahrrad benutzt worden wäre.

Selbst in Kopenhagen, einer der Fahrradhauptstädte der Welt, sind 66 Prozent des Straßenraumes den Autos vorbehalten, während nur 9 Prozent der Fahrten mit diesem Verkehrsmittel unternommen werden. Belastet wird die Stadt als Wohnort auch durch das ganze "stehende Blech", das jede Straße verunstaltet und unsere nostalgischen Vorstellungen von der schönen Stadt des neunzehnten Jahrhunderts ad absurdum führt.

Es mutet wie eine Anekdote an, dass jüngst neue Vorschriften für den Bau von Parkhäusern und Tiefgaragen erlassen wurden, weil die bisherigen Normgrößen für die Stellplätze und die Auf- und Abfahrten in diesen Parkbauwerken den Entwicklungen auf dem Pkw-Markt hinterherhinkten. Insbesondere der Siegeszug des SUV auf deutschen Straßen machte diese regulatorische Vorgabe notwendig, da diese überdimensionierten Geländewagen nicht mehr standesgemäß zu stehen kommen können. Wobei das SUV entweder zur urbanen Hassfigur schlechthin oder zum allerhöchsten individuellen Mobilitäts- und Sicherheitsversprechen avanciert ist.

Der renommierte Soziologe Harald Welzer hat in diesem Zusammenhang übrigens die Frage aufgeworfen, ob es als sozial erwünscht gelten könne, mit riesigen Geländewagen durch deutsche Innenstädte zu pflügen, als sei überall Bagdad oder Kabul. "Ein klassisches Spießer-Auto wie ein Audi sieht heute von vorn aus, als würde er alle vorausfahrenden kleineren Autos inhalieren und hinten durch den Vierrohrauspuff wieder ausscheiden. Das alles ist latente Aggression, die den Alltag durchzieht. Man zeigt nicht mehr, wer man ist, sondern was man anrichten könnte." Doch wie zutreffend eine solche Polemik auch sein mag, sie löst nicht das Problem.

Die autogerechte Stadt hat sich überlebt

Eine möglichst schnelle Raumüberwindung durch beschleunigte Verkehrsmittel gilt nach wie vor als Leitlinie moderner Mobilitätspolitik. Beschleunigung wird in der Industriegesellschaft mit ökonomischem Fortschritt, technischer Modernisierung und räumlicher Unabhängigkeit gleichgesetzt; sie ist ein Wert.

Dem Prinzip der Beschleunigung wohnt indes ein zentrales Problem inne. Denn die durch Motorisierung und Ausbau der Straßennetze erhöhte individuelle Beweglichkeit hat, wie zahlreiche Untersuchungen ergaben, kaum zur Einsparung von Reisezeit und zu größeren Freiheitsspielräumen geführt, sondern zur Ausdehnung der Entfernungen zwischen den verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens. Was letztlich zur Frage führt, was Mobilität unter diesen Bedingungen denn eigentlich bedeutet.

Schaut man auf neuralgische Punkte im Verkehrsnetz einer Stadt, zeichnet sich schnell ein Psychogramm der heutigen Gesellschaft. Die Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer verhält sich hier wie ein Raubtier auf Nahrungssuche im Dschungel - nur auf den eigenen Vorteil bedacht, gemessen in Minuten Fahrtzeiteinsparung. Man nimmt sich die Vorfahrt, missachtet nonchalant viele Geschwindigkeitsbegrenzungen - man ist schließlich eilig unterwegs -, radelt, weil es schneller ist, gegen Einbahnstraßen oder über Fußwege und ärgert sich über Fußgänger, die sich maulend an die Hauswand retten. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, verhalten wir uns alle immer wieder so, und zwar als Autofahrer ebenso wie als Radler oder Fußgänger. Im Verkehrs-Dickicht zeigt sich vielerorts die Fieberkurve der Stadtgesellschaft, und die ist immer öfter im roten Bereich.

Gerade in Metropolen wie München, Hamburg, Köln oder Frankfurt wächst der Stadtverkehr immer mehr zur Herkules-Aufgabe und treibt die Systeme an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit. Wirtschaftlich und auch sonst attraktive Städte ziehen immer mehr Menschen an. In Deutschlands Großstädten wird es auch immer enger. Insofern ist es nur konsequent, dass die Zahl der Pendler in Deutschland auf einen Rekordwert gestiegen ist. 2015 pendelten bundesweit 60 Prozent aller Arbeitnehmer zum Job in eine andere Gemeinde. Im Jahr 2000 waren es noch 53 Prozent gewesen. Theoretisch ist heute klar, dass diese Form des Verkehrs an einem prekären Punkt gelangt ist, dass er die Menschen und den Planeten krank macht.

Die autogerechte Stadt hat sich überlebt, sie bringt Lärm, gesundheitsschädliche Luftverschmutzung, sie führt zu irrwitzigen Flächenbedarfen und schafft es vielfach schon lange nicht mehr, uns flüssig und entspannt von einem Ort in der Stadt zum nächsten zu bugsieren. So ist der fossil-individuelle Verkehr zum größten Ärgernis und Problem der Städte geworden. Allein, wie kann man umschwenken? So wie das Pkw-Bashing besserwissender Experten wohlfeil ist und ohne große gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengungen - und ohne eine andere Haltung zur Art des Unterwegsseins - wohl folgenlos bleiben wird, so klar ist auch, dass die Städte über durchaus leistungsfähige Angebote im öffentlichen Personennahverkehr verfügen (die freilich energisch und zukunftsgerichtet ausgebaut werden müssen).

Gleichzeitig sind Konflikte vorprogrammiert, wenn Vorteile und Begünstigungen des privaten Autos wie das Dienstwagenprivileg und die oft noch kostenfreie Nutzung des öffentlichen Raumes zum Parken angetastet werden. Dabei handelt es sich um versteckte Subventionen, aber niemand verzichtet gerne auf liebgewordene Privilegien. Zudem ist es kurzfristig unmöglich, alle Autofahrer der alltäglichen Rush-Hour zusätzlich in die Busse und Bahnen zu quetschen.

Miteinander der verschiedenen Mobilitätsformen

Doch bemerkenswerter Weise hat gerade die Corona-Krise es ermöglicht, bei der urbanen Alltagsmobilität punktuell neue Ansätze zu verwirklichen. Im März 2020, noch zu Beginn des Lockdowns, wurde in Berlin-Kreuzberg mittels gelbem Klebeband und rot-weißen Baustellenbaken die erste Pop-up-Bikelane eröffnet. Mag der Anspruch, damit gleich eine Verkehrswende eingeleitet zu haben, auch etwas vollmundig daherkommen - zumal das Berliner Verwaltungsgereicht unlängst einem Eilantrag gegen solche Radwege stattgegeben hat -, so sind temporäre Fahrradstreifen mittlerweile augenscheinlich doch ein Erfolgsmodell: Leipzig und München, Nürnberg, Wien und Budapest - viele europäische Städte haben das Rezept aus Berlin kopiert. Und zumindest an der Spree sollen diese auch dauerhaft erhalten bleiben.

Das Umstiegspotenzial auf das Fahrrad ist erheblich, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der städtischen Wege kürzer als fünf Kilometer sind. Gleichwohl kann dies nur ein Anfang sein, wenn ein ausgewogenes Verhältnis an Möglichkeiten für alle Verkehrsteilnehmer und eine gerechte Aufteilung der vorhandenen Verkehrsflächen (und deren sichere Gestaltung) das Ziel ist. "Nach der Krise werden inklusive Mobilitätsstrategien an Bedeutung gewinnen", schreibt der Zukunftsforscher Stefan Carsten. "Um dies zu erreichen, müssen sich auch Städte und Verkehrsmittel verändern: indem sie echte öffentliche Räume bereitstellen, spezielles Ride-Sharing anbieten, kostenloses Absetzen vor der Haustür."

Sicherlich, die Corona-Pandemie hat die Unveränderlichkeit von Systemen ein Stück weit infrage gestellt. Doch die Hast-und-Hektik-Mentalität, die nicht nur den derzeitigen Verkehr, sondern auch die Diskussion darüber prägt, öffnet keine Tür für eine gesellschaftlich getragene Transformation. Dazu müssten alle Verkehrsteilnehmer erst einmal abrüsten. Und die Hoffnung, dass alsbald selbstfahrende Autos, Drohnentaxis und Hyperloops alle Mobilitätsprobleme löst, ist trügerisch. Vorweg sollte man lieber über so etwas Banales wie Parkregeln und Radwege reden, weil eben das die "tiefhängenden Früchte" sind, die die Städte heute ernten können, um positive Resultate in näherer Zukunft zu erhalten.

In jedem Fall aber braucht es Konzepte, die das Miteinander der verschiedenen Mobilitätsformen - nicht das aggressive Ausstechen des jeweils anderen im alltäglichen Straßenkampf - in den Mittelpunkt rücken.