Freiheit für 5,2 Prozent!
Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
wollen Sie einen Impfpass haben? Nein, ich meine nicht das bekannte gelbe Heftchen mit dem Emblem der Weltgesundheitsorganisation. Die Rede ist von einem vielleicht grünen Pass, einem womöglich digitalen Ausweis oder einem simplen QR-Code, gegebenenfalls aber auch einem anderen Nachweis einer Corona-Impfung. Sie sehen: Klar ist, dass nichts klar ist.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ficht das nicht an. Wie üblich kündigte der luxusimmobilienaffine Christdemokrat am Wochenende mit viel Eloquenz und wenig Inhalt einen Corona-Impfpass an. Spahn wusste ohne große weitere Sachzweifel zu verkünden: "Wer geimpft ist, kann ohne weiteren Test ins Geschäft oder zum Friseur gehen." Dass das nicht so einfach ist, dass angesichts des Spahn'schen Impfdebakels derzeit ohnehin nur 5,2 Prozent der Bevölkerung in den Genuss einer solchen Regelung kämen und viele andere Fragen im Raum stünden, spielte bei Telepolis am gestrigen Montag eine Rolle.
Das Spannungsfeld zwischen Pandemie und Grundrechten befasste diese Redaktion auch in der vergangenen Woche mehrfach. So fragte Telepolis-Autor Helmut Lorscheid im katholischen Köln nach, wie es denn um die Möglichkeit von Kirchenaustritten stehe.
Und siehe da: Den Klerus den Rücken zu kehren kann man in der Rhein-Metropole erst im Juni wieder, weil die Amtsstuben im Corona-Notbetrieb laufen. Rechtlich ist auch das schwierig - Stichwort: negative Religionsfreiheit.
Eine im Telepolis-Forum heiß diskutierte Studie kam indes zu dem Schluss, dass gut 14 Prozent der Deutschen Corona für einen Schwindel halten. Unser Redakteur Thomas Pany sah sich die Untersuchung des Thinktanks d/part genauer an.
"Man stellt dort fest, dass die Glaubensgemeinschaft politisch vor allem rechts angesiedelt ist, dass bestimmte Bundesländer einen höheren Anteil stellen und dass die Informationsquellen der Schwindel-Gläubigen überproportional häufig soziale Netzwerke sind", so Pany über die wenig überraschenden Erkenntnisse, die unsere Leserinnen und Leser zu immerhin fast 900 Kommentaren motivierte.
Von Fußball und Menschenrechten
Der Fußball-Journalist und Buchautor Dietrich Schulze-Marmeling befasste sich mit der kommenden Fußball-WM der Männer in Katar. Auch sein Ergebnis war wenig überraschend: "Nur dort, wo die Fifa durch die WM-Vergabe unmittelbarer Auslöser für Menschenrechtsverletzungen ist, sieht sie sich – wenn überhaupt – gefordert. Alles andere interessiert sie nicht. So kann man mit jeder Diktatur ins Geschäft kommen, solange diese zu kleineren Kompromissen im Vorfeld und während der Veranstaltung bereit ist. Das gelang 1936 sogar den Nazis."
Mit der Rolle von Medien befassten sich Gaby Weber und Leo Ensel. Weber kritisierte die ARD wegen eines geplanten Sendeschwerpunktes anlässlich des 60. Jahrestags des Prozesses gegen den Nazi-Mörder Adolf Eichmann in Israel. Weber hatte zum Thema recherchiert und schreibt von einem "Schauprozess, bei dem der BND und der Mossad gemeinsam die Fäden zogen".
Der Grund: Staatsgründer Ben Gurion verhandelte damals mit Konrad Adenauer über technische und finanzielle Unterstützung seines Atomprogramms. "Er wollte diese Verhandlungen nicht gefährden", so Weber. Telepolis lieferte damit mehr Informationen und aktuellere Erkenntnisse zum Fall als die gebührenfinanzierte ARD.
Der Russland-Kenner Leo Ensel wandte sich an uns mit einem Text über schwindende publizistische Möglichkeiten für Akteure, die sich - bei aller Kritik an Russland unter Wladimir Putin - einer Frontstellung gegen Moskau verweigern. Er jedenfalls habe irgendwann nur noch beim Kremlsender RT DE veröffentlichen können.
Weshalb, so fragt Ensel in seinem sehr persönlichen Aufsatz, sei es bei "unseren Leitmedien" nicht mehr möglich, Texte zu veröffentlichen, deren Anliegen nichts anderes als Deeskalation zum Ziel hätten, "als die Rettung des Gorbatschow‘schen Erbes, als die Verhinderung eines neuen, noch gefährlicheren atomaren Rüstungswettlaufs"?
Mit einer anderen Zukunftsgefahr befasste sich der Umweltjournalist Nick Reimer in einer Dreierserie zum Klimawandel, konkret zum Zustand derWälder, dem Tauwetter und den Meeresströmungen.
App-Sicherheit und China-Sanktionen
Mit der Corona-Pandemie und Geopolitik startet Telepolis in die verkürzte Nach-Oster-Woche. Etwa mit Blick auf die Luca-App zur Nachverfolgung von Corona-Kontakten. Die Entwickler, so analysiert Telepolis-Autor Markus Feilner, hätten "so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, nicht nur technisch". Unser Autor verweist auf den Digital-Rights-Experten Michael Veale.
Der habe es auf Twitter auf den Punkt gebracht und Copyrightverletzungen sowie haarsträubend falsch verwendete GPL-Lizenzen ebenso moniert wie Nutzungsbestimmungen, die die Analyse und Publikation potenzieller Schwachstellen verhindern, fragwürdige Technik, unsichere und nicht nachvollziehbare Sicherheitslösungen sowie einen nur zaghaft, widerwillig und nur teilweise veröffentlichten Code.
Mit den Spannungen zwischen der Europäischen Union und China wird sich Peter Wahl befassen. Der Publizist, der vor 20 Jahren das globalisierungskritische Netzwerk Attac mitbegründet hatte, sieht die Gefahr eines neuen und erweiterten Kalten Krieges heraufziehen. Darauf wiesen die erstmals asymmetrischen Reaktionen Beijings auf die jüngsten EU-Sanktionen hin.
Großes Gewicht hätten die Verhängung von Sanktionen gegen den politischen und Sicherheitsausschuss des EU-Rates, den Unterausschuss für Menschenrechte des EU-Parlaments, das Mercator Institute for China (Merics) mit Sitz in Berlin – ein privater Thinktank, ins Leben gerufen von der Milliardärsfamilie Schmidt/Schmidt Ruthenbeck – sowie die Alliance of Democracies, ein Netzwerk, das 2017 von dem vorherigen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gegründet wurde.
Wahls Text liefert zahlreiche Details, die Sie anderswo derart kompakt nicht geboten bekommen. Das soll kein Einzelfall bleiben: Telepolis wird sich den geopolitischen Veränderungen stärker und mit einem eigenen Fokus widmen.
Telepolis und die Neuordnung der Welt
Telepolis stellt sich auch damit auf die Zeichen der Zeit ein. Vor knapp 25 Jahren wurde dieses Online-Magazin gegründet, um "Strömungen des Zeitgeistes" zu beleuchten und Fragen zu diskutieren, "die das Zeitalter der digitalen Kommunikation für die gesamte Gesellschaft aufwirft".
Die damaligen Hoffnungen auf eine Demokratisierung und Emanzipation der Gesellschaft durch die freie, digitale Kommunikation sind der Ernüchterung gewichen. Auch das Internet ist heute medialer Schauplatz einer neuen Blockkonfrontation, die in der Neuordnung der Welt münden wird.
Die Folgen sind Legion. Sie reichen von der Nato-Russland-Konfrontation, die gerade wieder in der Ukraine aufflammt, bis hin zum Propagandakrieg, den sich beide Seiten liefern und dessen Opfer – technisch wie politisch – auch im Westen die unabhängige Presse zu werden droht.
Telepolis wird sich in dieser Woche mit der jüngsten geopolitischen Bündnispolitik befassen, auf die unsere Autorin Andrea Seliger am gestrigen Montag schon mit Blick auf Grönland eingegangen ist. Dort wird heute gewählt. Was ein 25-Jahre-Abkommen zwischen China und Iran sowie eine Kooperationsvereinbarung über zehn Jahren zwischen Russland und Venezuela mit diesen globalen Umwälzungen zu tun hat, erfahren Sie demnächst hier.
Die Polarisierung, mit der diese Entwicklungen einhergehen, merken wir vor allem in unserem Leserforum. Beim Thema Russland scheint eine vorbehaltslose und offene Debatte heute kaum mehr möglich. Lagerbildung bestimmt die Diskussionskultur bekanntermaßen auch beim Thema Corona und – das spielte in der Kolumne hier schon eine Rolle – in der Frage der Elektromobilität.
Unser Leserforum wird dessen ungeachtet weiter ein Ort des offenen Austauschs bleiben, der an vielen Fronten verteidigt werden muss. Wer diese Freiheit aber für eigene politische Ziele missbraucht, andere Forenteilnehmer beschimpft oder schlichtweg rumpöbelt – was vom eigenen Schreibtisch aus angesichts der vermeintlichen Anonymität einfach scheint – kann sich einen anderen Ort suchen.
Wer bei Telepolis mitdiskutiert, sollte sich also ebenso verhalten wie bei einer Real-life-Debatte: freundlich, wenn möglich, deutlich, wenn nötig, und immer sachlich. Darauf werden wir achten.
Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen, Ihr