Freiheit von Wissenschaft und Sprache: Über das eisige Unverständnis zwischen den Lagern

Seite 3: Sich selbst steuernde Netze

Das kybernetische Prinzip ist dabei nicht auf die Produktionsweise beschränkt. Vom Computer inspiriert, hat die Denkweise der Kybernetik auch für Wissenschaft, Management und Politik neue Begriffe und Grundlagen entwickelt.

Schließlich geht der Begriff ja auf das altgriechische "kybernetes" zurück, den Steuermann. Kybernetik steht dementsprechend für die Kunst des Steuerns und wird sowohl für technische als auch für politische Belange angewandt. Auch "Gouverneur" oder "Gouvernor" leitet sich davon ab.

Den Durchbruch erreichte das "technologischen Steuerungsdenken" – den Begriff prägte der Berliner Politikwissenschaftler Vincent August in seinem Buch "Technologisches Regieren" – mit der Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre.

Damals brachen nicht nur die Profitraten ein und die Globalisierung der Güterketten ersetzte die standortgebundene Organisation der Produktion. Auch die Fortschritts- und Legitimitätsversprechen der Nachkriegsmoderne erwiesen sich als brüchig.

Sie wurden von einem Gegenmodell abgelöst: dem Netzwerk- und Systemdenken. Kybernetik verwandelte sich damit sukzessive von einem technischen Instrument für die Steuerung des Wachstums zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Prinzipien, die die westliche Moderne geprägt hatten, insbesondere die Vorstellung eines durch kluge Politik geleiteten Staates, das damit verbundene Menschenbild des souveränen und mündigen Bürgers sowie den Glauben an ein von Linearität geprägtes Fortschrittsideal.

Das kybernetische Prinzip bot sich nicht zuletzt deshalb als zukunftsweisend für die Krisenüberwindung an, weil es anschlussfähig für verschiedene Aufgabenbereiche und weltanschauliche Richtungen war, die die eine am Nationalstaat und am Gemeinwohl orientierte Regelung ablehnten.

In der internationalen Arbeitsteilung bedeutete dies den Durchbruch der globalen Liefernetze, in der Politik den Durchbruch der globalen Governance, beruhend auf der Vorstellung von Gesellschaft als Mechanismus selbstreflexiver, sich selbst regulierender Systeme.

Aufgrund der Komplexität der Systeme war nach Niklas Luhmanns Systemtheorie ein Regieren im herkömmlichen Sinn unmöglich und daher unnötig. Umgekehrt erweitert sich das Feld des Politischen auf andere Felder der Interaktion. Politik als absichtsvolle Regulierung wich der Vorstellung situativen Eingreifens und Koordinierens der sich selbst steuernden Systeme: Network Governance.

Auch der französische Soziologe Michel Foucault wurde – v.a. bekannt durch seine kritische Infragestellung von Wissen und Biopolitik als Herrschaftsinstrumente – zum Apologeten der Gouvernementalität. Sein Netzwerk-Modell der Macht fußte ebenfalls auf den kybernetischen Konzepten der Selbst-Regulation.

Beide Denker einte die Absage an den Anspruch gesamtgesellschaftlicher Steuerungsmöglichkeiten. Vincent August kann anhand dieser sehr konträren Persönlichkeiten aufzeigen, wie das kybernetische Denken von anarcho-libertären Gegenkulturen aus den Werkstätten eines Silicon Valley und Management-Kreisen gleichermaßen aufgegriffen wurde.

Ob wir es wollen oder nicht, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, prägen kybernetische Denkfiguren unser aller Denken und Sprechen. Auch die Demokratie wird durch die Übertragung der Entscheidungen auf supranationale Organisationen auf der einen Seite, und Künstlicher Intelligenz bei der Aufbereitung von Steuerungsmaßnahmen auf der anderen Seite schleichend transformiert.

Zwar erwecken die Inszenierungen der Politiker nach wie vor den Eindruck, sie säßen an den Hebeln der Macht. Der Vertrauensverlust im Wahlvolk spricht eine andere Sprache.

Im Bereich des Diversitätsmanagements hingegen hat das kybernetische Prinzip voll und ganz gegriffen. Dahinter verbirgt sich der Leitgedanke aus der Systemtheorie, dass die Komplexität der Welt keine Repräsentation der Gesellschaft als einheitliches Ganzes erlaube.

Allgemeine Entwicklungsziele oder eine Orientierung am Gemeinwohl, die von universellen Intellektuellen und Politikern eingefordert werden, seien Schnee von gestern. An ihre Stelle treten im neuen Zeitalter Differenz und Diversität.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufregung um Gendern, wunschgerechte Anrede und die Durchsetzung differenzbetonter Diskurshoheit als kleinkrämerisches Hickhack.

Der unter dem Banner von Aufklärung und liberalem Universalitätsanspruch als Quelle des Übels ausgemachte Hang der postmodernen Theorien zur Diversität erweist sich als logische Folge eines Umbruchs in der Organisation des globalen Kapitalismus und in der Deutung von Politik und Gesellschaft.

Andrea Komlosy ist Wirtschaftshistorikerin. In ihrem zuletzt im Promedia Verlag erschienenen Buch "Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft" führt sie ihre These aus, dass wir uns in einer Übergangszeit befinden: vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter.

Bei Telepolis gibt es dazu ein Interview mit ihr: Zeitenwende in eine autoritärer werdende Gesellschaft? sowie zwei Artikel, die sie zusammen mit Hannes Hofbauer verfasst hat: Corona-Krise: Anschub für eine kybernetische Wende und Post Corona.

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