Freude, schöner Götterfunken?

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Euro-Europa hat die Vision der Schönheit verraten und wird vielleicht erst zu spät begreifen, dass die kapitalistische Ideologie samt Militärreligion in eine Götterdämmerung mündet

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Das musikalische Hauptthema des letzten Satzes aus Ludwig van Beethovens "9. Sinfonie in d-Moll", der auch als "Ode an die Freude" bezeichnet wird, ist offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaft. Die Dichtung, die dem Satz als Inspiration zugrunde liegt, lässt sich im Nachhinein von der seit 1972 bzw. 1985 "Europa-amtlich approbierten" Musik wohl nicht mehr abtrennen.

Dem Chorgesang geht eine Ansage voraus, die wir spätestens seit Ende des zweiten Weltkrieges nur im Bewusstsein der Abgründe der Geschichte Europas hören können: "O Freunde, nicht diese Töne! / Sondern lasst uns angenehmere / anstimmen und freudenvollere." Friedrich Schillers Vision aus einer weinseligen, euphorischen Freundesrunde vermag in öffentlichen Lebensräumen die Menschen heiter zu stimmen. Beethovens Musik hat es möglich gemacht.

Wie viel Kakophonie verträgt Europa?

Doch lassen sich die Todesklänge der europäischen Geschichte so einfach überspringen? Die Kakophonien der Gegenwart werden Tag für Tag lauter. Sie gehen jedem Liebhaber der "europäischen Idee" als Schrecken durch Mark und Bein. Politiker, denen man keinen leichtfertigen Alarmismus zutraut, melden sich deutlich zu Wort.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn konstatierte in einem Tagesschau-Interview am 26. Oktober, im Zuge der Debatte über die hilfesuchenden Flüchtlinge würde die Fundamentalkritik der Rechten an Europa Eingang in etablierte Parteien finden. Wer jedoch Werte wie Solidarität und Menschlichkeit über Bord werfe, gehe ans Eingemachte und reduziere in extremer Weise die "Lebenserwartung der europäischen Union".

Noch drastischer fiel drei Tage später eine Expertise des langjährigen Europa-Politikers Prof. Günter Verheugen (SPD) aus:

Ich bin sehr besorgt - mehr als ich es jemals war. Ich hätte bis vor kurzem an die Möglichkeit eines Scheiterns der europäischen Integration nicht geglaubt. Ich hätte das für unmöglich gehalten. Ich halte es heute nicht mehr für unmöglich, dass sich die EU tatsächlich auflöst. Ich habe seit der Schuldenkrise, genauer gesagt wegen unseres Umgangs mit ihr, das Gefühl, dass ein Verfall begonnen hat. Ich kann nur eindringlich an alle, die politische Führungsämter innehaben, appellieren, sich dem mit aller Kraft entgegenzustemmen.

Ist nun über Nacht eine Naturkatastrophe über jenes Europa hereingebrochen, welches man doch so wunderbar auf einem hehren Bekenntnis zu universellen Werten aufgebaut hat? Günter Verheugen lässt den Anfang vom möglichen Ende beginnen im Jahr 2005, "als das Projekt einer europäischen Verfassung durch Volksentscheide in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert ist". Eine so kurzsichtige Fährtensuche verdient Widerspruch.

Der besagte "EU-Verfassungsentwurf" enthielt anstelle eines Rahmens für solidarisches Wirtschaften die Festschreibung der neoliberalistischen Ideologie und ersetzte Perspektiven für eine globale Friedensordnung durch militärischesDenken sowie die Pflicht der Mitgliedsländer zu weiterer Aufrüstung. (An eine Rüstungsagentur hatte man gedacht, an eine institutionelle und materielle Absicherung von Friedenspolitik im Großmaßstab nicht.)

Besser hätte man nicht offenbaren können, dass im Zentrum das Programm "Mammon - Macht - Militär" stand und den sogenannten "Werten" bestenfalls die Rolle einer wohlklingenden Begleitmusik zugedacht war. Es ist aberwitzig, auf solcher Grundlage so etwas wie ein solidarisches Europa zu erwarten.

Viel früher als 2005 müssen wir ansetzen, um den Anfang vom möglichen Ende zu verstehen. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland und anderen europäischen Ländern einen breiten antikapitalistischen Konsens - bis in die soeben gegründete CDU hinein. Die Sakralisierung der transatlantischen Doktrin sorgte alsbald dafür, dass entsprechende Neigungen ausgemerzt wurden - bisweilen mit wenig zimperlichen Methoden.

Bis heute will uns mancher weismachen, die Kritiker der Adenauer-Politik eines auf ewig transatlantisch angedockten Europas wären in den 1950er Jahren allesamt Stalin-Freunde, "Krypto-Kommunisten" oder Anhänger eines "rechten Antiamerikanismus" gewesen. Es ist deshalb lohnend, sich die Voten jener bürgerlichen Kritiker anzuschauen, zu deren Sprechern damals z.B. der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann gehörte und die sich - es sei präventiv klargestellt - jeder Querfront mit Rechtsradikalen verschlossen.

In diesen Kreisen war man durchaus dankbar für antimilitaristische und demokratische "US-Reeducation", aber man schaute auch in den Abgrund der US-amerikanischen Atombombentheologie als Angriff auf die Würde aller Menschen und weigerte sich, die massenmörderischen US-Bombardements über Nordkorea (später Vietnam und viele andere Länder) stillschweigend zu übergehen.

Im Ernstfall, so fürchtete man zu Recht, würde der von inhaltsleeren Freiheitsparolen und massiver Aufrüstung flankierte US-Ökonomismus auf "Menschenwürde" genauso wenig geben wie die Stalinisten. Deshalb hielten die bürgerlichen Gegner der Remilitarisierung, vornehmlich aus der Tradition der Bekennenden Kirche und z.T. aus dem Linkskatholizismus kommend, an jenem Antikapitalismus fest, wie er 1947 auch noch im Ahlener Programm der CDU Eingang gefunden hatte.

Der Lügenpredigt von einem "christlichen Abendland", nach 1945 trotz der vielen Jahrhunderte einer europäischen "Barbarei" von konservativen Ideologen hinausposaunt, erteilte man nachdrückliche Abfuhren.

Im Rückblick kann man kaum bestreiten, dass die zeitweilig besonders in der Gesamtdeutschen Volkspartei organisierten "Nonkonformisten" der 1950er Jahre - darunter Gustav Heinemann (ehem. CDU), Helene Wessel (ehem. Zentrum), Hans Bodensteiner (ehem. CSU), Diether Posser und Johannes Rau - auf lange Sicht hin doch richtig lagen mit ihrer Einschätzung der US-amerikanischen Schattenseite und ihrer Kritik an einem auf Sand gebauten Europa:

  1. Auf das Konto der Militärsäule des US-Systems gehen inzwischen Millionen Mordopfer, und der Hegemon hat im 21. Jahrhundert mit einer geradezu wild gewordenen Kriegspolitik jene Gewaltherde produziert, zu deren Folgeerscheinungen auch die gegenwärtige Destabilisierung Europas zählt. (Der Protest dagegen wird nicht falsch, nur weil auch Rechtsextremisten eine ähnliche Kritik aus durchsichtigen, ganz unehrenwerten Gründen vortragen. Eine Kritik an Verbrechen von US-Regierungen und jeder anderen Militärmacht des Globus auf der Wertebasis des "US-Nationalheiligen" Martin Luther King und der seinem Programm verpflichteten Demokratiebewegungen braucht sich nicht zu ducken, wo sie weiterhin als "rechter Antiamerikanismus" diffamiert wird.)
  2. Dass die atomare Abschreckung Europa einen sicheren Frieden geschenkt haben soll, wird heute nur noch vortragen, wer die Erkenntnisse über die - anhaltende - Fragilität der "Sicherungssysteme" dreist ignoriert und überdies in historischen Zeitdimensionen keine zwei Meter weiter denken kann. Die Atombomben in Deutschland (Atombombe oder Demokratie?) bleiben. Daran kann das von uns gewählte Parlament ganz offensichtlich nichts ändern.
  3. Von der im Grundgesetz verankerten Vision eines deutschen Friedensdienstes an der Welt ist in Rüstungsexportpraxis und Militärdoktrin schon lange nichts mehr übriggeblieben. Man darf leider nicht damit rechnen, dass sich etwa mit einem "Weißbuch 2016" hieran irgendetwas ändert.
  4. Ende 2001 hat Gerhard Schröder der zum Kreuzzug formierten US-Administration eine bedingungslose Solidarität erklärt. Google sorgt dafür, dass alle, die sich nach fast 15 Jahren (!) fragen "was macht die Bundeswehr in Afghanistan?", freundlicherweise direkt auf die Website des deutschen Militärs weitergeleitet werden. Andere europäische Länder haben sogar 2003 den US-Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt, wollen aber heute von den Europa betreffenden Folgen nichts wissen.
  5. Die europäischen Mitglieder der NATO sind eingebunden in ein militärisches Bündnis zur Sicherung von Wirtschafts- und Machtinteressen, das sich mitnichten verdient macht um "kollektive Sicherheit" im Sinne der UN-Charta. (Das Gegenteil ist der Fall. 1999 hat die NATO auf europäischem Boden eine neue Qualität von Völkerrechtsverachtung vorexerziert und ganz nebenbei auch die damals bedeutsamste pazifistische Kraft im Bundestag gleichgeschaltet.)
  6. Europa hat nach Ende des Kalten Krieges erstaunlicherweise keine eigenständige, nachhaltige Initiative für eine neue Weltfriedensordnung ergriffen. Europa hätte zu Beginn der ersten Amtszeit von US-Präsident Barack Obama noch einmal einen grundlegenden Paradigmenwechsel, d.h. eine Abkehr von der Militärreligion, einklagen können. Auch dies ist nicht erfolgt. Systematische Folter- und Drohnenmord-Programme der USA sind mit der sogenannten "Wertegemeinschaft" offenkundig kompatibel.
  7. Auch die Heilsversprechen eines "gezähmten Kapitalismus" und eines solidarischen Europas sind als Truggebilde erwiesen. Hierzu sind vor allem Griechen und die abgeschriebene Jugend Europas zu befragen.
  8. Um die Demokratie in Europa ist es inzwischen so schlecht bestellt, dass z.B. die Forderung unseres altmodischen Parlamentspräsidenten Norbert Lammers nach einem Recht der gewählten Volksvertreter auf Einsichtnahme in die TTIP-Vertragstexte schon als etwas ganz Besonderes hervorgehoben werden muss ...

"Alle Menschen werden Brüder"

Die dargebotene Liste ist selbstredend als Auswahl zu lesen. Vielleicht kommt es wirklich dazu, dass "Beethovens Neunte" als offizielle Europa-Hymne noch zu unseren Lebzeiten ausgedient haben wird. Spätestens dann werden wir wissen, wie viel Hässlichkeit in näherer Zukunft noch möglich ist - "Konzentrationslager"-Streifen ("Transitzonen" und die Vorstellung einer "gated nation") an den Grenzen der Wohlstandsverteidiger inklusive.

Schillers Gedicht An die Freude, welches die Komposition der Europa-Hymne inspiriert hat, kreist freilich ganz um die Schönheit und um magische Kraftquellen, die die durch schlechte Kulturübung ("Mode") getrennten Menschen wieder zusammenführen (im englischen Text sind die "Zauber" mit "magic powers" übersetzt).

In der frühesten Fassung von 1785 werden auf diese Weise Bettler zu Fürstenbrüdern, so dass also im Raum der Freude die Aufhebung von Standes- und Klassengrenzen vorweggenommen wird. Die Verheißung jener Verse, die Beethoven dann auch seiner Musik zugrunde gelegt hat, fällt noch weitaus anspruchsvoller aus - nämlich universell: "Alle Menschen werden Brüder."

So wenig nun in Artikel 1 unserer Verfassung von "deutschen Menschen" die Rede ist, so wenig transportiert die Europa-Hymne die ausschließende Parole "Alle Europäer werden Brüder" (gemeint: Geschwister). Um die "Brüderlichkeit" innerhalb Europas war es freilich schon vor der gegenwärtigen Humanitätsdefizit-Krise der europäischen Politik auf Kosten von Flüchtlingen nicht gut bestellt. Wo sollen da jetzt im Handumdrehen die Potenzen einer länderübergreifenden, gar universellen Geschwisterlichkeit herkommen?

So ist das mit "universellen Werten", die man nur in Sonntagsreden beschwört, während man die eigene entwicklungspolitische Programmatik in Koalitionsverhandlungen mal so eben zwischen zwei Kaffeepausen preisgibt, das universelle Menschenrecht auf Nahrung lediglich als eine Theorie betrachtet, Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen allein nach Nützlichkeitsgesichtspunkten von Fall zu Fall beklagt, den Bettlerstatus der UNO achselzuckend zur Kenntnis nimmt ...

Ein Diskurs über "ethische Grundprinzipien" unter den Vorzeichen von Aufklärung und Vernunft wird stets zu loben sein. Doch gibt es so etwas wie eine Menschenwürde oder überhaupt "universelle Werte", die lediglich abstrakt in Urkunden verankert sind, aber nicht als etwas "Evidentes" im leibhaftigen Leben der Menschen und der Gesellschaften?

Schillers "Zauberbande" können nicht in einem geschichtslosen Raum geknüpft werden, sondern nur im Kontext von Überlieferungsvorgängen, Kommunikationsgemeinschaften und Werterfahrungen. Da hatten die wirklichen Konservativen, die es heute nicht mehr gibt, Recht. Gleiches gilt für die Immunisierung gegenüber Ideologien und Praktiken der Menschenverachtung. Nicht zuletzt geht es in diesen Zusammenhängen um kulturelle und ästhetische Phänomene, also auch um eine Frage der Schönheit.

Bei der Suche nach förderlichen Traditionen und universellen Unterscheidungskriterien darf durchaus in Jahrtausenden gedacht werden:

  1. Lange vor den neuzeitlichen Humanisten und liberalen Kosmopoliten haben schon Philosophen der Antike über ein "Weltbürgerrecht" nachgesonnen.
  2. In der hebräischen Bibel geht es selbstredend um die eine Menschheit, so dass jede nationalreligiöse Ideologisierung nur als Missbrauch bezeichnet werden kann. Das Recht der Fremden bzw. Zuwanderer ist förmlich als Gottesrecht festgeschrieben, und seine Beachtung wird bezeichnenderweise im gleichen Kontext eingeklagt wie die Beachtung des Rechts der wirtschaftlich Benachteiligten aus dem Kreis der Alteingesessenen.
  3. Für Christen, sofern sie am Ökumenischen Weltrat der Kirchen oder der römisch-katholischen Weltkirche ausgerichtet sind, ist das Bekenntnis zur Einheit der Menschheit11 auf dem ganzen Erdkreis konstitutiv. (Ob dies schon bei allen bayerischen, kroatischen oder polnischen Rechtskatholiken angekommen ist und wie National-"Christentümer" jeglicher Schattierung das Bekenntnis "One Human Family" leugnen, dergleichen Fragen stehen auf einem anderen Blatt.)
  4. In der koranischen Tradition sind das Lebensrecht jedes Menschen und die Achtung der gesamten Menschheit untrennbar miteinander verbunden. Die Abschiedsrede des Propheten Mohammed kommt der Sache nach zudem einer Exkommunikation aller Rassisten gleich. (Die aggressivsten Attacken wider Ethos und Ästhetik der islamischen Tradition gehen auf das Konto des von westlichen Regierungen gestützten arabischen Öl-Feudalismus und der von dessen Staatsreligion abgeleiteten Terrorkomplexe eines sogenannten "Islamischen Staates".)
  5. Die buddhistische Philosophie, wie sie wohl am wirkungsvollsten vom Dalai Lama vorgetragen wird, geht von der Gleichheit und empathischen Begabung aller Menschen aus. Im Wesentlichen gelten nationale, kulturelle oder religiöse Schranken letztlich als gegenstandslos.
  6. Jeder Sozialist, so er denn diesen Namen verdient, wird sich einem internationalistischen - universellen - Ethos verpflichtet fühlen. ("Nationalbolschewistische" Ambitionen, die im "Querfront"-Milieu der Gegenwart durchaus wieder Konjunktur haben und wie ehedem zwangsläufig immer im Rechtsradikalismus enden, haben mit "Sozialismus" selbstredend nichts zu tun. Siehe Jürgen Elsässer. Punkt.)

Das Leben, Lieben, Lernen, Arbeiten, Nachdenken, Reisen, Schreiben, Kommunizieren und ungezählte andere Vollzüge oder Erfahrungen einer jüngeren Generation stehen schon lange im Horizont von "Globalisierung". Es steht zu erwarten, dass diese Generation ihre Visionen einer globalisierten Weltgesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft von Verschiedenen und neue philosophische Impulse für ein Verständnis des universellen Menschenrechts noch nachdrücklicher im öffentlichen Raum vorträgt als bislang.

"Die Anderen", was soll das für eine Kategorie sein? "Der Andere", das sind immer wir selbst, wie man es auch drehen oder umdrehen will. Denn ein Mensch zu sein, das bedeutet immer auch: "anders zu sein".

Meinen persönlichen Zugang zu einem universellen Ethos möchte ich hier nur andeuten. Grundlegend erscheint es mir, dass besondere Vorzüge, nützliche Eigenschaften und "Leistungserbringungen" - seien sie ökonomisch oder immateriell (z.B. intellektuell, kulturell oder moralisch) - die Würde eines Menschen nie begründen können. Im Gegenteil, jeder Versuch, der in diese Richtung geht, kann nur in dem münden, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs einstweilen noch immer als "Barbarei" bezeichnen.

Aus meiner Sicht erschließt nur die allen Menschen gemeinsame und doch wiederum zutiefst individuelle Bedürftigkeit einen Zugang zur unantastbaren Würde. (Im Bereich des Ethischen ist hierbei z.B. keineswegs eine - möglicherweise ja gar nicht entwickelte - Liebesfähigkeit der maßgebliche "Bezugspunkt", sondern die ausnahmslos allen gemeinsame Liebesbedürftigkeit.)

Erst auf dieser Grundlage ist auch zu sprechen von der nach meinem Dafürhalten konstitutiven und wunderbaren Befähigung bzw. Berufung jedes Menschen, die allen gemeinsame Bedürftigkeit miteinander zu teilen - sei es im Bereich des Leiblichen, Seelischen, Geistigen oder der materiellen Güter. Indessen betreten wir hier schon den in "ethischen" Kategorien nicht mehr hinreichend kommunizierbaren Raum der Freude und des Schönen, womit wir wieder bei Friedrich Schiller bzw. der Europa-Hymne angelangt wären.

Zu den ethischen Konsequenzen eines solchen Verständnisses der Menschenwürde gehört es, dass die Konstruktion von unantastbaren sozialen oder ökonomischen Privilegien irgend eines Kollektivs - etwa unter Verweis auf "Verdienste" vergangener oder gegenwärtiger Generationen einer Region, Nation etc. - auf überzeugende Weise nicht mehr gelingen kann, wenn dies andere von den Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens ausschließt. Maßgeblicher Bezugspunkt ist ja eben die Bedürftigkeit jedes Menschen.

Die Religion des "Neoliberalismus" als endgültiger Verrat an der Schönheit

Wer im Kreise von jungen Leuten, die ohne Wider-Wort im Neoliberalismus sozialisiert worden sind, heute eine Vision "Alle Menschen werden Brüder" anklingen lässt, riskiert wohl in manchen Fällen herben Spott: "Wir sind hier doch nicht in der Kirche!" Womöglich könnte man auf Schiller verweisen und dem Gegenüber vorhalten, dass er oder sie die Weisheit wohl aus der "Kirche der Neoliberalismus" bezieht.

Da unterschätzt man freilich oft das Selbstbewusstsein des Gesprächspartners, denn dieser ist - ohne Kirche, Schiller und dergleichen - natürlich vollständig ideologiefrei, steht jenseits von rechts und links und weiß auch (bis auf weiteres), dass man sich in einer "Ich-AG" über die menschliche Bedürftigkeit den Kopf nicht zu zerbrechen braucht. Karriere macht überdies nur, wer sich bei der Lektüre ganz gezielt auf "nützliche Sachen" konzentriert. Da wäre natürlich noch der Tod, aber der trifft immer nur die anderen, und in zwanzig Jahren kann man sich ohnehin ein Gen für ewiges Leben kaufen, so der Kontostand stimmt.

Die Religion des Neoliberalismus ist wohl keine genuin "alteuropäische" Erfindung, aber das bleibt eigentlich ein nebensächlicher Aspekt. Erstaunlich ist, mit welcher Bereitwilligkeit das schöngeistige Bürgertum die ökonomistische Verformung auch von Schulwesen, Universität und Kulturgefüge hingenommen hat. Im neunten Schuljahr hatte mein ältestes Patenkind (Jg. 1987) schon eine "Performance" in der Sparte "Marketing" zu absolvieren. Unsereins (Jg. 1961) darf von vielen Studierenden der Gegenwart beneidet werden. Man hat uns an der Universität noch zweckfreies Denken erlaubt und den Atemraum dafür als etwas überaus Notwendiges erachtet.

Die Veranstalter einer Berliner Konferenz "Europa eine Seele geben" vom 26./27. November 2004 konstatierten: "Kultur ist ein Grundbaustein Europas. Doch in der Politik der EU ist Kultur nur eine Randerscheinung." Ein Jahrzehnt später hat scheinbar immer noch keiner dem Projekt Europa "eine Seele eingehaucht".

Vor wenigen Tagen berichtete mir der Mitarbeiter eines Bildungswerkes von einer sogenannten Qualitätskontrolle bei seinem Arbeitgeber. Die externen Gutachter hatten sämtliche Abrechnungsmodalitäten und Wirtschaftsdaten unter die Lupe genommen. Von Bildungskonzepten und Inhalten des Akademieprogramms wollten sie rein gar nichts wissen. Wohl gemerkt, es handelte sich um eine Bildungs-"Zertifizierung", nicht etwa um eine Wirtschaftsprüfung.

All die zahlreichen Opfer der Ökonomisierung des Kulturellen mussten die Bildungsbürger des "Abendlandes" schon erbringen und sich obendrein einfügen in ein inflationäres Kompetenzgerede mit Formalismus, Phrasen und Blödsinn ohne Ende. Im Zweifelsfall "pro Wirtschaft", was immer es auch kostet. Die Leser sollen hier meinen Zorn spüren. Wenn ich als ehemaliger Krankenpfleger über jene Hässlichkeiten und Absurditäten spreche, die der neoliberalistische Wahn etwa in unseren Krankenhäuser zur Tagesordnung gemacht hat, kann ich noch ganz anders ...

Die politische Leitkultur Europas bezieht sich nunmehr auf eine "marktkonforme Demokratie". Die dunklen Schatten der bürgerlichen Revolution - der Aberglaube an eine heilsame Wirkung von Gewalt (Militär) und die Heiligsprechung jeglichen Anspruchs auf Privateigentum unabhängig vom Gütergebrauch - werden getreu gepflegt.

Doch wo wäre die Gedächtniskultur, die radikaldemokratische Pioniere des Bürgertums in Erinnerung ruft und vermittelt, dass eine Republik nicht vom Himmel fällt, sondern - gegebenenfalls mit stolzem Selbstbewusstsein oder gar unter Opfern - errungen wird? Neuerdings streichen die abendländischen Hassprediger das Hinrichtungskreuz des Orientalen Jesus von Nazareth "schwarz-rot-gold" an. So hätten wir denn ein Bürgerlied der neuen, ganz anderen Art.

Angela Merkels Rückgriff auf eine "Politik der Schönheit"

Von einem Autor wie Erich Fromm war und ist zu lernen, dass ein überzeugender Antikapitalismus vor allem in der Biophilie - in der Liebe zum Leben und der Freude am Lebendigen - wurzelt. Wer die Kraftlosigkeit einer weithin noch in den herrschenden ökonomistischen Denkstrukturen verbliebenen Linken verstehen möchte, tut gut daran, auch Defizite auf dem Feld der antikapitalistischen Biophilie und Ästhetik zu sichten.

Um hier nicht in einen ausschweifenden Exkurs zu gelangen, versuche ich das von mir Gemeinte mit einem klugen Satz auf den Punkt zu bringen: Die überaus wertvolle Erkenntnis, dass die Basis der ökonomischen Verhältnisse stets den geistigen bzw. kulturellen Überbau einer Gesellschaft bestimmt, bleibt nur hilfreich, solange wir uns anschicken, in möglichst vielen Bereichen immer auch das Gegenteil zu denken, zu erfahren und zu leben. Es ist Zeit, die Frage nach "politischen Subjekten", die sich nicht so leicht korrumpieren lassen, und die Suche nach gedeihlichen Biotopen für einen von Lebensfreude bewegten politischen Widerstand ganz oben auf die Themenliste zu setzen.

Ein außerordentliches Phänomen der Gegenwart ist der Umstand, dass mit Kanzlerin Angela Merkel gerade eine Spitzenpolitikerin des bürgerlichen Lagers Signale in Richtung einer "Politik der Schönheit" aussendet. Ich maße mir keine sachgerechte Deutung dieser Sache an, denn ich habe weder ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin geführt, noch verfüge ich über die Gabe, auf der Grundlage von Mediendarbietungen in das Herz eines anderen Menschen zu schauen. Einstweilen hat unsereins Eindrücke, mehr nicht, und projiziert vielleicht Wunschbilder.

Das repressive Regime, das die Große Koalition und einige grüne Helfershelfer zeitgleich in der Flüchtlingspolitik durchgesetzt haben, muss jedem Interpreten der gewandelten Regierungschefin großes Kopfzerbrechen bereiten. (Die Hypothese einer Rollenverteilung "good guy - bad guy" halte ich allerdings noch nicht für überzeugend.)

Lassen wir hier die Frage völlig außer Acht, ob Angela Merkel nur von strategischen oder auch von wertegebundenen vielleicht spezifisch christlichen - Überlegungen ausgeht und ob die gegen sie gerichtete Kritik an einer fehlenden gesamt-europäischen Perspektive berechtigt ist. Gewiss erscheint mir, dass es angesichts der "wirklichen Wirklichkeit" allein aus pragmatischen Gründen gar keine Alternative zum grundlegenden Rückgriff auf eine "Politik der Schönheit" gab und gibt. Das Ausmaß des Elends ist einfach zu groß, als das man sich auf Angstsignale und Kleinmut verlegen dürfte.

Die Strategie eines Aufbruchs zur Menschlichkeit war - einen innerparteilichen Konsens vorausgesetzt - erfolgversprechend und hätte der CDU sogar Wählerstimmen zuführen können. Die in aktuellen Erhebungen verzeichneten Einbußen an Zustimmung gehen aus meiner Sicht in erster Linie auf das Konto der Angstmache von Merkels Widersachern in der Union. Ein mir bekannter CDU-Bürgermeister, der sich im Übrigen schon seit vielen Jahren in "seiner" Stadt für Flüchtlinge einsetzt, teilt diese Einschätzung.

Bedeutsam bleibt aus einer nach innen gerichteten Perspektive, wie viele Menschen im Land allüberall Hilfsbereitschaft zeigen und Solidarität praktizieren. Ist dies nicht auch ein Protest gegen die Religion des Neoliberalismus, die uns mit ihren Botschaften und ökonomischen Druckmitteln zur Hässlichkeit im Zwischenmenschlichen verführen oder gar zwingen will? Sollte man sich da nicht staunend mit Bertolt Brecht auf die Suche begeben?

Den Mitmenschen zu treten / ist es nicht anstrengend? Die Stirnader / schwillt ihnen an, vor Mühe gierig zu sein. / Natürlich ausgestreckt / gibt eine Hand und empfängt mit gleicher / Leichtigkeit. Nur / gierig zupackend muss sie / sich anstrengen. / Ach, welche Verführung zu schenken! Wie angenehm / ist es doch, freundlich zu sein! Ein / gutes Wort / entschlüpft wie ein wohliger Seufzer.

Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

Eine "Politik der Schönheit" zielt auf die Schönheit der miteinander geteilten Bedürftigkeit und auf Strukturen, die Auswege aus der Programmierung zur Hässlichkeit eröffnen. Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Fragen der solidarischen Flüchtlingspolitik gehören deshalb zu einem einzigen politischen Komplex. Wer sie auch nur im Ansatz gegeneinander ausspielt, wie heuchlerisch verpackt auch immer, der kann kein Verbündeter sein bei einem Projekt, das der Schönheit neue Wege bahnt.

Selbstredend, die Lösung der anstehenden Herausforderungen hat realpolitisch und verfassungskonform zu erfolgen: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." (Grundgesetz Artikel 14 Absatz 2) Die rational nicht mehr begreifbare Schieflage der Reichtumsverteilung und die Erfordernisse der öffentlichen Haushalte sind bekannt. Irgendwann muss man bezogen auf Vermögen, die von den Besitzenden auch bei ultimativem "Wohlleben" und einer Lebenserwartung von womöglich 500 oder viel mehr Jahren nicht aufgebraucht werden können, wohl doch ein Verfahren zur Anwendung bringen, das dem Grundgesetz entspricht.

Der nächste Finanzcrash kommt bestimmt, und dann gibt es keine zukünftige Generation mehr, die so schuldenfrei wäre, dass sie für die Betreiber der Geldvermehrungsmaschine und eine willfährige Politik die Zeche bezahlen kann. So langsam könnte es den Programm-Machern der großen Parteien eigentlich dämmern, dass eine Festlegung auf die bekannten prokapitalistischen Paradigmen nicht mehr zukunftsträchtig ist.

Dann wäre da noch die Sache mit den Lebensbedingungen für die Nachgeborenen auf unserer Erde, eine Sache mit Dringlichkeit, die für uns Sterbliche und auch für Europa ein paar Nummern zu groß zu sein scheint. Es freute sich einst ein Matthias Claudius (1740-1815) mit kindlichem Stolz, ein "menschlich Antlitz" zu tragen (Gedicht: "Täglich zu singen"). Die Zyniker der Gegenwart meinen hingegen schon in jungen Jahren, die Spezies homo sapiens sei eine Viruskrankheit des Planeten und die gehe gewiss vorüber.

Noch mehr Kleingeister an die Front, dann kann man die Sache bewahrheiten und beschleunigen. Man denke etwa an den deutschen Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, der ganz andere Schauplätze des zivilisatorischen Nachdenkens bevorzugt als sein Chef. G.L. Müller wird z.B. getrieben von einer panischen Angst, Papst Franziskus könne Getaufte trotz Scheidung und neuer Heirat leichtfertig zur Kommunion einladen. Der Mann ist auch so ein großer Abendländer, der ernste Sorgen hat und Europa, ja die ganze Welt retten will.