Frieden war gestern. Heute ist Krieg!

Seite 2: Friedenstauben als 80er-Folklore

Zurück also zu den Äußerungen des Bundeskanzlers zur Friedensbewegung. Sie zielen auf denselben Gedanken, sind schlüssig aus der Perspektive einer "Zeitenwende". Friedenstauben und "Frieden schaffen ohne Waffen" sind weithin positiv besetzt und verarbeiten geschichtliche Erfahrungen. Ihr Auftauchen auf Gegendemonstrationen ist für den Scholz'schen Standpunkt damit gefährlich. Sie erinnern an frühere Wertsetzungen und Erfahrungen. Sie schließen Handlungsspielräume.

Also müssen sie entkräftet werden, allerdings ohne die dahinterstehenden Ideale inhaltlich anzugreifen. Dies gelingt, indem die Symbole und Slogans plump und suggestiv als Kind einer anderen Zeit bezeichnet werden.

Durch zeitliche Verortung wird Verstaubtheit, Inaktualität suggeriert. Die inhaltlichen Prinzipien bleiben unangetastet, Olaf Scholz inszeniert sich mit seinem Verweis, früher selbst Friedensdemos organisiert zu haben, sogar als eine Autorität in Friedenssachen.

Es wäre auch unklug, würde er sagen: "Wir haben uns damals geirrt, tatsächlich beendet man Kriege durch Waffengewalt und Aufrüstung". Das könnte selbst bei willensschwachen Unterstützern Zweifel wecken. Und außerdem ist es umso einfacher, die Friedenslogik plötzlich zu rehabilitieren, wenn man sie vorher lediglich temporär außer Kraft gesetzt hat - sollten sich die Interessenlagen ändern.

Raus aus der Zeitblase!

Nicht zwingend steckt hinter der Enthistorisierungs-Rhetorik geschickte Täuschung oder Strategie. Es soll dem Bundeskanzler nicht abgesprochen werden, von einem analytisch armen Standpunkt aufrichtig diesen Blick zu vertreten. Dies ändert aber nichts an den beschriebenen, für die Politik vorteilhaften Effekten.

Die Ausrufung der "Zeitenwende" enthistorisiert die Gegenwart. Mit den Äußerungen über die aus der Zeit gefallene Friedensbewegung wiederholt sich die Geste. Die Folge ist eine Neutralisierung und Verschiebung entscheidender Fragestellungen. Dabei müssen längerfristige Gedanken unbedingt einbezogen werden, um gute Entscheidungen zu treffen.

Dieser Krieg ist nicht der Erste und wird auch nicht der letzte bleiben. Die Irritation über die Kehrtwenden in der deutschen Politik muss wieder sichtbar gemacht werden. Warum haben wir früher meist nach Mäßigung, Verhandlungen und Waffenstillständen gerufen, aber jetzt soll alles anders sein?

Für manche Entscheidungen mag es tatsächlich gute Gründe geben. Einer Politik der radikalen Kurzsichtigkeit muss aber deutlich widersprochen werden. Vor allem müssen endlich realistische Zielsetzungen für ein Kriegsende offenbart werden, anstatt diese hinter einem undefinierten "Sieg" der Ukraine offenzuhalten.

Natürlich ist Friedensdenken kein Selbstläufer. Es gibt die Gefahr der Beeinflussung durch den Aggressor, Russland, für den mögliche Kompromisslösungen einem Teilsieg gleichkämen. Ebenso ist das Problem real, dass die Rechten das Thema Frieden gerade für sich ausschlachten und, wie auf dem Marienplatz, tatsächlich an den Gegendemonstrationen beteiligt sind. Das heißt aber nicht, dass man den progressiven Wunsch nach Frieden und die Friedenstaube zugunsten eines konvertitenhaft überspitzten Neo-Militarismus aufgeben kann.

Es führt kein Weg daran vorbei, die Katastrophe des Krieges in der Ukraine, die im letzten Schritt Russland zu verantworten hat, dennoch historisch und kontinuierlich aufzufassen, wenn man an einer Lösung interessiert ist. Der Rückzug in eine ahistorisch-naive Blase der Eindeutigkeiten ist für progressive Kräfte keine gültige Option.