Frisch auf den Müll
Millionen Tonnen Lebensmittel landen Jahr für Jahr auf dem Müll und kaum jemand nimmt dies als Problem wahr - ein Interview mit dem Filmemacher Valentin Thurn
Die Hälfte aller Lebensmittel, die für die übersättigten Mägen der Industrieländer produziert wird, landet auf dem Müll – der größte Teil davon bereits, bevor er den Endverbraucher überhaupt erreichen kann. Dies ist sowohl ein ökonomisches, ein ökologisches als auch ein ethisches Problem, leiden doch immer noch fast eine Milliarde Menschen an Unterernährung und stirbt immer noch alle 15 Sekunden ein Kind an Hunger. Mit nur einem Drittel der Menge an Lebensmitteln, die in den Industrieländern weggeworfen werden, könnte man den Welthunger besiegen. Dies ist eine der Kernaussagen des Dokumentarfilms Frisch auf den Müll, der am Mittwochabend um 23.30 in der ARD ausgestrahlt wird. Telepolis sprach mit dem Filmemacher Valentin Thurn über seinen Film, weggeworfene Lebensmittel und eine westliche Welt im Überfluss.
Wann haben sie zum letzten Mal Lebensmittel weggeschmissen?
Valentin Thurn: Ich habe heute Morgen ein halbes Brötchen und heute Mittag eine Kartoffel weggeworfen. Es wird nie möglich sein, Reste ganz zu vermeiden. Damit müssen wir leben. Aber wir sollten versuchen, überflüssigen Lebensmittelmüll zu vermeiden. Wäre die Kartoffel von heute Mittag beispielsweise nicht bei mir im Büro, sondern zu Hause übrig geblieben, hätte ich sie in den Kühlschrank getan und zwei Tage später daraus Bratkartoffeln gemacht.
Die Welternährungsorganisation schätzt, dass die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet - ein großer Teil dieser Lebensmittel wird bereits auf dem Acker vernichtet oder gar nicht erst geerntet, weil der Handel nur optisch standardisierte Produkte abnimmt. Will der Kunde wirklich keine kleinen Äpfel oder keine krummen Salatgurken?
Valentin Thurn: Ich würde problemlos kleinere Äpfel oder krumme Salatgurken kaufen. Das gilt sicher für die meisten Verbraucher. Der Handel hat viele Normen gesetzt, weil es für ihn praktischer ist, und nicht weil die Kunden dies verlangen. Die geraden Gurken passen beispielsweise besser in die Kisten und lassen sich platzsparender transportieren und präsentieren. Es gibt auch andere Fälle, wie beispielsweise Bananen, die kleine braune Flecken haben. Obwohl man eigentlich weiß, dass Bananen erst dann richtig gut schmecken, wenn sie bereits leichte braune Flecken haben, werden sie im Supermarkt meist nur grün verkauft und die reifen Bananen bleiben in den Regalen liegen. Das ist wohl auch ein Lernprozess. Je weiter wir von der Landwirtschaft weg sind, desto weniger können wir anscheinend beurteilen, wie unterschiedlich Produkte aussehen können und dass beispielsweise ein bisschen Schorf auf dem Apfel für den Geschmack völlig irrelevant ist.
Wer bezahlt eigentlich im Endeffekt die Lebensmittel, die aus optischen Gründen bereits auf dem Feld aussortiert und vernichtet werden?
Valentin Thurn: Das zahlt der Verbraucher, alles ist eingepreist. Wenn wir beispielsweise ein Netz Kartoffeln kaufen, bezahlen wir auch gleich ein zweites Netz mit, das weggeworfen wurde.
In Ihrem Film stellen Sie Einkaufskooperativen, wie es sie in den USA bereits gibt, als Alternativmodell vor. Wie funktioniert dieses Modell?
Valentin Thurn: Von der Logik her gibt es etwas Ähnliches auch in Deutschland und nennt sich "Gemüsekiste". Dort ist der Verbraucher Abonnent und bekommt vom Bauern jede Woche genau das, was er gerade erntet. Dabei wirft der Bauer relativ wenig weg. Der Supermarkt muss immer alles vorrätig haben, ein Modell wie die "Gemüsekiste" verlangt indes ein wenig Flexibilität - dort gibt es ja nach Saison mal dies und mal jenes.
Einkaufskooperativen sind da ein wenig radikaler, da sie den kompletten Handel aussparen. Verschiedene Verbraucher tun sich zusammen und schließen mit einem Landwirt einen Vertrag. Davon profitieren beide Seiten - der Landwirt hat ein regelmäßiges Einkommen und die Verbraucher bekommen Biogemüse zu einem phantastischen Preis und Produkte, die man in dieser Form nie im Supermarkt sehen würde. Der Landwirt hat nämlich alle Freiheiten beim Anbau, er muss nicht nur standardisierte Produkte, die jeder kennt, anbauen, die vom Handel gefragt werden.
Das verlangt natürlich vom Endverbraucher auch einen gewissen Zeitaufwand. Gibt es auch Modelle, die die ökologischen Interessen und die Bequemlichkeit des Endverbrauchers unter einen Hut bringen?
Valentin Thurn: So groß ist der Zeitaufwand gar nicht. Bei dem Modell, das wir in den USA besucht haben, gibt es beispielsweise einen Markt, auf dem wir das Gemüse abholen mussten. Bei Modellen wie der "Gemüsekiste" werden einem die Produkte sogar nach Hause gebracht. Der einzige zusätzliche Zeitaufwand ist dann, dass man selbst kochen muss. Natürlich, man wird nie alle erreichen, aber es gibt auch Modelle, die auf den modernen, gehetzten Großstadtmenschen zugeschnitten sind.
Wir würden auch mit Weniger zufrieden sein
In einem heutigen Supermarkt gibt es nicht nur rund einhundert verschiedene Sorten Joghurt, sondern auch zu jeder Zeit das komplette Angebot an schnell verderblichen Fleisch- und Gemüsewaren und mehr als ein Dutzend verschiedener Brote - auch kurz vor Feierabend, vor Feiertagen oder dem Wochenende. Gibt es Zahlen, wie viele Lebensmittel nicht in unseren Einkaufstüten, sondern in den Müllcontainern der Supermärkte landen?
Valentin Thurn: Die Zahlen gibt es, aber sie werden nicht veröffentlicht. Jeder Supermarkt scannt die Produkte, die rein- und die, die rausgehen. Die Differenz besteht hauptsächlich aus der Menge, die weggeworfen werden muss. Wenn man bei den Supermärkten anfragt, bekommt man meist als Antwort, dass man alles an die örtlichen Tafeln weitergebe. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Einige Unternehmen beliefern zwar löblicherweise die Tafeln, aber das ist nur ein Teil des anfallenden Mülls.
Verlangt denn der Kunde wirklich diese unglaubliche Produktvielfalt zu jeder Zeit?
Ich glaube, wir würden auch mit Weniger zufrieden sein. Das Problem ist eher das System und nicht der einzelne Händler. Im Handel herrscht ein unglaublicher Verdrängungswettbewerb. 98% des Lebensmitteleinzelhandels sind inzwischen in der Hand von acht Unternehmen. Diese Konzentration geht weiter - je größer die Handelsketten sind, desto mehr werfen sie auch weg. Der Verdrängungswettbewerb läuft darauf hinaus, dass man die Öffnungszeiten verlängert, um neue Kunden zu gewinnen. Diese Kunden sollen jedoch auch abends das volle Angebot haben. Bei Brot und Milchprodukten heißt dies jedoch, dass die frische Ware, die am Abend in den Regalen steht, am nächsten Morgen weggeworfen werden muss.
Letztlich wird diese Praxis ja durch den Staat sogar subventioniert, da aus Lebensmittelabfällen aus Supermärkten ja von spezialisierten Unternehmen wie Saria oder Veolia in eigens gebauten Biogasanlagen subventionierter "Ökostrom" produziert wird.
Valentin Thurn: Genau das ist diese Wettbewerbsverzerrung, die wir beklagen. Mich erbost es besonders, wenn die Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner sagt, das Thema sei ihr eine Herzensangelegenheit, da zu viel weggeworfen würde, aber man wolle nicht mit noch mehr Regularien in die Wirtschaft eingreifen, da die Wirtschaft dies regeln könne. Das ist ziemlich verlogen, da durch die Subventionen für Biogasanlagen sehr wohl ins Wirtschaftsgeschehen eingegriffen wird und sonstige Regulierungen, wie beispielsweise Subventionen für Müllvermeidung oder Strafabgaben für besondere Verschwendungen, unterbleiben.
Die einzige "Erziehungsmaßnahme", die beim Verbraucher bekanntlich immer greift, ist die Steuerung des Konsumverhaltens über lenkende Preiserhöhungen. Dies ist offensichtlich politisch nicht gewollt und wäre sicher vor dem Hintergrund der Hartz-IV-Diskussion sozial problematisch. Gibt es denn Ansätze, den Einzelhandel durch Aufklärung und Transparenz zu einem Einlenken zu bewegen?
Valentin Thurn: Vor drei Generationen haben wir die Hälfte unseres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, heute liegt der Anteil bei ungefähr 12 Prozent. Bei Hartz-IV-Empfängern ist dieser Anteil natürlich wesentlich höher. Man könnte nun natürlich sagen, dass die Verbilligung zu Produktionsmethoden, die höchst fragwürdig sind, wie der Massentierhaltung, und zu industriellen Verteilungsmethoden führt, bei denen viel Müll anfällt. Ich möchte diese Fragen jedoch nicht nur auf den Verbraucherpreis reduzieren. Es werden auch Lebensmittel weggeworfen, die teuer sind. Dies ist ein seltsamer psychologischer Prozess. Sowohl in reichen wie in armen Haushalten ist der Anteil der weggeworfenen Lebensmittel mit 10 bis 15% konstant. Dieser irrationale psychologische Prozess hat weniger etwas mit der Kaufkraft zu tun. Wir lassen uns von der Werbung dazu überreden, Dinge zu kaufen, die wir objektiv gesehen gar nicht benötigen, und wenn wir sie dann wegwerfen, ist es uns unangenehm und wir verdrängen es.
Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat ausgerechnet, dass ein durchschnittlicher deutscher Haushalt jedes Jahr Lebensmittel im Wert von rund 387 Euro in den Müll wirft - das sind zusammen fast 20 Milliarden Euro, nicht nur sehr viel Geld, sondern indirekt auch sehr viel Anbaufläche, sehr viel Energie und CO2-Ausstoß. Was kann der Konsument tun, um diesen ökonomischen und ökologischen Wahnsinn zu vermeiden?
Valentin Thurn: Die 387 Euro sind ein Wert, der aus Wien stammt. Die GfK hat diesen Wert auf Deutschland hochgerechnet und kommt dabei auf die Schätzung von 20 Milliarden. Das hat in der Tat planetare Ausmaße. Wir als Endverbraucher können vielleicht nicht direkt auf die Mengen einwirken, die in der Produktion oder im Handel weggeworfen werden - bei der Menge, die wir selbst wegwerfen, können wir allerdings etwas tun. Auf unserer Webseite Taste the Waste zeigen wir beispielsweise Möglichkeiten auf, wie jeder einzelne seinen Teil zur Müllvermeidung beitragen kann - sei es durch Resterezepte oder ein klügeres Einkaufsverhalten.
Meinen Sie nicht, dass dieser Verschwendungswahn auch ein Zeichen für unsere Überflussgesellschaft ist, in der der Endverbraucher den Überblick über die Zusammenhänge entweder nicht hat oder aber verdrängt?
Valentin Thurn: Ja, korrekt formuliert. Vielleicht sollte man noch ergänzen, dass die Zusammenhänge teils auch bewusst verschleiert werden, da es um ökonomische Interessen geht.
Historisch ist dies alles ja ein relativ junges Problem. Die Generationen vor uns hatten vor allem das Problem, nicht genügend Lebensmittel zu bekommen. Unsere Generation steht vor den übervollen Regalen, kann selbst im Winter frische Erdbeeren kaufen, neigt zu Übergewicht und wirft tonnenweise Lebensmittel in die Mülltonne. Was könnte man tun, um die Konsumenten zu sensibilisieren?
Valentin Thurn: Der mahnende Zeigefinger wird da nur bedingt etwas bringen. Die Leute sind schockiert, dass wir durch unser Konsumverhalten für den Klimawandel und den Welthunger mitverantwortlich sind. Sicherlich wird dies über kurz oder lang zu Veränderungen führen können. Langfristig wird sich aber nur etwas ändern, wenn wir begreifen, dass wir selbst - sowohl in puncto Gesundheit, als auch in puncto Genuss - etwas davon haben, wenn wir unser Konsumverhalten ändern. Wenn man saisonal und regional Lebensmittel einkauft, heißt dies ja auch, dass man sich mehr mit dem Thema Lebensmittel beschäftigt und lernt, was Qualität ist. Wenn eine Bewegung wie Slow Food populärer wird, werden wir letztendlich alle davon profitieren, und auch der Handel wird sich dem nicht verweigern können.
Wenn wir mehr nachfragen als nötig, erhöhen sich auch die Preise in Afrika
In Ihrem Film blicken Sie nicht nur auf den Überfluss in den Industrieländern, sondern auch auf den Hunger in der Welt. Ist dieser Hunger durch unseren Überfluss bedingt, führt unser Wegwerfverhalten direkt oder indirekt zu einer Verschärfung des Welthungerproblems?
Valentin Thurn: Der Hunger an sich hat andere und komplexere Ursachen. Hier geht es beispielsweise um die jahrzehntelange Vernachlässigung der Landwirtschaft in der Dritten Welt und um Abhängigkeiten vom Weltmarkt. Aber was wir wegwerfen, hat dennoch ganz direkt etwas mit dem Hunger zu tun. Wenn wir uns vorstellen, dass wir etwa genauso viel wegwerfen, wie wir essen, kann man sich natürlich schon vorstellen, dass sich dies ganz direkt auf die Lebensmittelpreise auswirkt.
Wir ernähren uns am gleichen Weltmarkt. Wenn wir mehr nachfragen als nötig, erhöhen sich auch die Preise in Afrika oder Bangladesch. Wenn wir Brot wegwerfen, führt dies auch zu einem höheren Weizenpreis. Weizen und Brot sind mittlerweile weltweit Grundnahrungsmittel. Hunger entsteht nicht dadurch, dass es zu wenig Essen gibt, sondern dadurch, dass die Ärmsten der Armen plötzlich keine Kaufkraft mehr haben. Wenn die Weizenpreise sich - wie im Sommer 2008 - verdoppeln und verdreifachen und es vielerorts zu Brotunruhen kommt, wird plötzlich sichtbar, dass unser Wegwerfen auch zu Hunger führt. Wenn wir weniger wegwerfen würden, wäre den Spekulanten auch der Boden entzogen, die Preise in die Höhe zu treiben. Um den Hunger wirklich zu beseitigen, müsste man allerdings auch andere Maßnahmen ergreifen.
Ihr Film wird heute Abend um 23.30 in der ARD im Rahmen der Themenwoche "Essen ist Leben" ausgestrahlt. Hand aufs Herz - hätten Sie sich nicht einen etwas reichweitenstärkeren Sendetermin gewünscht?
Valentin Thurn: Ja, wir haben erfolglos dafür gekämpft. Vielleicht lag es auch daran, dass wir den Film erst im September fertig gestellt haben. Die ARD bemüht sich nun, den Film noch länger in der Mediathek online zu zeigen. Wir wollen aber aus dem Thema auch noch einen Kinofilm machen, der wesentlich weiter geht und sich noch stärker an den Lösungsmöglichkeiten orientiert.
Haben Sie vor der Ausstrahlung bereits ein positives Feedback bekommen? Interessiert sich die Öffentlichkeit für das Thema oder haben Sie eher das Gefühl, dass Sie da ein Thema ansprechen, das am liebsten verdrängt wird?
Valentin Thurn: Wir haben ein wahnsinniges Feedback. Der Film ist schon in Norwegen und den Niederlanden ausgestrahlt worden. Momentan werden wir mit Emails aus diesen Ländern überflutet. Medien jeder Couleur haben sich schon für den Film interessiert. Anders als bei anderen Problemen kann hier jeder etwas tun - das gefällt den Leuten. Man muss sich nicht hilflos fühlen.
Walter Fürst sagte einmal: "Wer mehr als Hunger hatte, war einst Denker. Heute ist Denker, wer die Sattheit nicht länger erträgt." Herr Thurn, wir danken für das Gespräch.