Fünf Jahre Gravitationswellen: eine Chronik der Merkwürdigkeiten

Seite 6: Die vergeblichen Hoffnungen der Skeptiker

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Viele Wissenschaftler meinen, eine unfundierte Behauptung müsse auf lange Sicht auseinanderfallen, d.h. dass die konventionelle wissenschaftliche Methode funktioniere. Leider tut sie das nicht, jedenfalls nicht in absehbaren Zeitspannen. Eine gründliche Überprüfung von Ergebnissen ist buchstäblich in niemandes Interesse.

Wenn man einem Wissenschaftler Glauben schenkt, der eine Mailingliste für LIGO-Skeptiker unterhält, gibt es in der wissenschaftlichen Gemeinschaft viele nicht öffentlich geäußerte Vorbehalte, wie zum Beispiel in der Gruppe von Remo Ruffini (der davon träumte, dass das Marcel-Grossmann-Treffen in Rom 2018 einen Showdown bringen würde - nichts. In der Zwischenzeit wurde ihm sogar sein Büro weggenommen), Viatcheslav Mukhanov (ich halte nichts von seiner Forschung, aber hier hat er Recht), Paul Steinhardt und sogar George Smoot, der "bereit ist, [seinen] Ruf aufs Spiel zu setzen", dass mit der Masse der Schwarzen Löcher etwas nicht stimmt. Ein interessanter Blog ist fulguritics. Aber sie alle machen sich Illusionen über den Schwung einer Herdenaktivität, die sich von ihrer Richtung nicht abbringen lässt.

Außerdem verstehen nur wenige, dass Entdeckung und Nicht-Entdeckung keine symmetrischen Ergebnisse sind. Ersteres wird psychologisch enorm bevorzugt, eben weil es als "Erfolg" angesehen wird. In diesem Fall ist eine "Entdeckung" wie GW150914 ein singulärer Moment, über den berichtet werden muss. Eine quälende Situation dagegen wie die Nicht-Entdeckungen im gerade abgeschlossenen O3 ist stattdessen nie erwähnenswert, weil der nächste Erfolg vielleicht schon bald bevorsteht. Kombinieren Sie dies mit den allzu bekannten Vorlieben der Medien. Es wird sicher nie eine Schlagzeile über langsames Scheitern geben.

Tatsächlich ist es der LIGO/VIRGO-Kollaboration durch die Vermarktung der beiden Ereignisse GW150914 und GW170817 gelungen, die Beweislast auf den Kopf zu stellen. "Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Evidenz" ist eine gute Regel in der Wissenschaft, aber nachdem sie geschickt umgangen wurde, wird die sie nun zur Verteidigung zu verwendet: Sollten Sie immer noch an der Gravitationswellendetektion zweifeln, liefern Sie bitte etwas Außergewöhnliches!

Wenn man die Frage nach der Existenz der Wellen außen vor lässt, kann jedes Signal als Gravitationswelle mit astrophysikalischem Ursprung interpretiert werden. Die Praktiker kennen das enorme Potenzial, die Modelle an überraschende neue Daten anzupassen... Und jede Woche beginnen neue Physiker ihre Master- und Doktorarbeiten in verschiedenen Bereichen unter der Prämisse, dass das, was die Detektoren registrieren, Gravitationswellen sind. Jeder Gedanke, dass das, was sie tun, das Kneten einer Fata Morgana sein könnte, wird gründlich verdrängt, da dies einem psychologischen und wissenschaftlichen Selbstmord gleichkäme.

Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt und es a priori unvorstellbar erscheint, dass sich so viele Menschen irren, wird bald erreicht sein, und es formt sich der zukünftige Chor der Physiker "Seit 2015 wissen wir…". An dieser Stelle können die Popularisierer Skepsis als Ignoranz verunglimpfen, obwohl ihr eigenes Wissen im Wesentlichen aus Nachplappern besteht.

Am Scheideweg

Es ist naiv zu glauben - und ich nehme mich da ausdrücklich nicht aus - dass ein solches Paradigma allein durch fehlende Evidenz rückgängig gemacht werden könne. Ob es den Leuten gefällt oder nicht, man muss einräumen, dass GW150914 im soziologischen Sinne eine wissenschaftliche Revolution war (Harry Collins würde wahrscheinlich argumentieren, dass es allein darauf ankommt).

In so einem Fall beginnt automatisch eine Periode der "Normalwissenschaft" im Sinne von Thomas Kuhn, in der die Grundlagen der Tätigkeit nicht mehr in Frage gestellt werden. Das liegt nicht an schlechten Absichten, sondern resultiert aus einem Skylla-and-Charybdis-Dilemma, sobald der Einzelne mit der Bewertung der wissenschaftlichen Evidenz überfordert ist: Wer zu sehr zweifelt, ist bald am Rande der Gemeinde oder draußen, wer zu wenig zweifelt, riskiert, dass alle seine Aktivitäten durch falsches Gruppendenken obsolet werden. In der entsprechenden Gemeinde hat man per definitionem die letztere Option riskiert, dort wird jedoch der Großteil der Wissenschaft betrieben.

Abgesehen davon mangelt es in den großen Wissenschaftsgemeinschaften von heute leider auch an Redlichkeit, zumindest ist dies keine Tugend mehr für große Karrieren. Die heutigen Wissenschaftler sind nicht die individuellen Wahrheitssucher des beginnenden 20. Jahrhunderts. Ich verkneife mir, Parallelen zu anderen Wissenschaftsgebieten zu ziehen, aber ich bin überzeugt, dass die gesamte wissenschaftliche Methode, wie sie seit Jahrzehnten praktiziert wird, einer Revision bedarf.

Ausblick im Nebel

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Geschichte der Gravitationswellendetektion auf zwei Schlüsselmomenten beruht, September 2015 und August 2017. Jene Beobachtungen, die zum Nobelpreis 2017 führten, sind nie sauber wiederholt worden, aber aus den oben genannten Gründen werden fünf oder sogar zehn Jahre fehlender Evidenz vermutlich nichts ändern. Aus der zeitlichen Distanz besehen, sind es höchst bemerkenswerte Zufälle, die diese beiden Schlüsselereignisse umgeben, auf die sich künftige Historiker konzentrieren sollten.

Der unveröffentlichte Bericht über die "blind injections" kann vom Autor unter authorslastname@protonmail.com (bitte einsetzen) angefordert werden. Eine englische Version des Artikels findet sich hier.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. In seiner Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.

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