Für ein Antidiskriminierungsgesetz im Gesundheitswesen

Wie der Herrschaft der Statistik über das Individuum im Zeitalter von Gentests wirksam begegnet werden kann

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Die Debatte um eine vollständige Privatisierung der Krankenversicherung, gefordert von Bundeswirtschaftsminister Müller, und von Gentests schon bei befruchteten Samenzellen bestimmt die Sommerlochsdebatten. Warum beide Bereiche zusammengehören und warum und in welcher Hinsicht hier tatsächlich einmal gesetzgeberischer Bedarf besteht.

Die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften auf bestimmte Gruppe und die dadurch bedingte Diskriminierung von Individuen ist relativ alt. Schon die Nazis bemühten sich im Film Der ewige Jude mit Statistiken, die Veranlagung einer von ihnen definierten Gruppe für das Verbrechen zu belegen. Im Zeitalter von Gentests operieren Versicherungskonzerne zunehmend mit dem gleichen Diskriminierungsinstrumentarium. Im Falle einer weitergehenden Privatisierung auch der deutschen Krankenversicherung sind deshalb vorher dringend Schutzgesetze für die Versicherten notwendig.

In der Debatte um die Privatisierung des Krankenversicherungssystems ist stetig von mehr Wettbewerb zwischen den Versicherungen die Rede. Dabei wird übersehen, dass nicht jeder Wettbewerb Vorteile schafft. Stattdessen liegt hier das Kain-und-Abel-Problem vor: Der Wettbewerb in der Produktion (Vieh und Getreide) wird zu einem Wettbewerb der Gewalt (Kain erschlägt Abel). Um diese zweite schädliche Form des Wettbewerbs einzudämmen ist es notwendig, dass Individuen mit bestimmten Rechten ausgestattet werden, z.B. mit dem Recht auf Leben, das es Kain verbietet, Abel zu töten, und das seinen Wettbewerbsdrang wieder in die Produktion lenkt. Auch Antidiskriminierungsgesetze können für diese Eindämmung notwendig sein: Wenn etwa eine bestimmte Gruppe von Menschen als minderwertig angesehen und versklavt werden darf, lenkt das den Wettbewerb von der Entwicklung fortschrittlicher Produktionstechnologien um in einen Wettbewerb um den Erwerb der gesündesten, anspruchlosesten und devotesten Arbeitssklaven - wie dies beispielsweise in den USA vor dem Bürgerkrieg der Fall war. Die technische Unterentwicklung des Südens lag auch an dieser falschen Form von Wettbewerb. Erst die nach und nach erlassenen Antidiskriminierungsgesetze, wie etwa die Aufhebung der Sklaverei, änderten diesen Zustand.

Auch bei privaten Krankenversicherungen herrscht derzeit eine Form des falschen Wettbewerbs qua Diskriminierung vor. Frauen z.B. werden dort als Gruppe diskriminiert und zahlen bei jeder Versicherung gehörig mehr als Männer. Menschen mit Vorerkrankungen, Angehörige von Risikogruppen und ältere Menschen werden ebenso diskriminiert oder gar nicht von Versicherungen aufgenommen. Alle privaten Krankenversicherungen funktionieren derzeit wie Wettbüros: Sie lassen den Kunden eine Wette auf seine eigene Zukunft abschließen, aber nur zu standardisierten Bedingungen. Doch Wetten erzeugen weder Leistung noch Fortschritt. Wie unproduktiv die derzeitige Form von "Wettbewerb" im Gesundheitswesen ist, zeigt sich auch am Zustand der "privaten" Anbieter wie der "Bayerischen Beamtenkrankenkasse", die durch Bestechungsskandale und durch eine erheblich größere und kostenaufwendigere Bürokratie als die gesetzlichen Krankenkassen Negativschlagzeilen machte.

Warum gibt es nun keine Versicherung die andere Systeme zur Auswahl anbietet? Weil die derzeitige Rechtslage alle Versicherungen in einen falschen Wettbewerb, nicht um bessere und billigere Leistungen, sondern in eine Eugenik des Kundenstammes zwingt. Konkurriert wird nicht z.B. mittels schärferer Vergütungsverhandlungen mit Ärzten oder Arzneikonzernen, die die Versicherung verbilligen würden, sondern einzig um potentiell gesündere Kunden. Menschen mit Vorerkrankungen werden - auch wenn sie nie wieder im Leben erkranken - durch unverhältnismäßig höhere Versicherungsprämien effektiv ausgeschlossen. In den USA finden solche Menschen oft keine Krankenversicherung. Sie werden dabei nicht als Individuen behandelt, sondern zwangsweise einer "Risikogruppe" zugeordnet - ob sie wollen oder nicht.

Der nächste logische Schritt, in den Großbritannien bereits eingestiegen sind, ist die Diskriminierung der Versicherten mittels Gentests (Vgl. Gentests zugunsten der Versicherungsgesellschaften). Solange den Versicherten diskriminatorische Prämien oder die Ablehnung von Versicherten erlaubt sind, werden sie Mittel und Wege finden, an Informationen über solche Gentests zu kommen - erlaubt oder nicht. Das reicht vom Kleingedruckten in Standardverträgen, der - in Amerika jetzt schon - den Versicherten die pauschale Entbindung aller Ärzte und Gesundheitsbehörden von der im hippokratischen Eid enthaltenen Schweigepflicht abnötigt,1 bis zum (denkbaren) Aufsammeln und Analysieren von Hautschuppen auf dem Stuhl auf dem der Antragsteller im Versicherungsbüro saß. Auch eine zentrale elektronische Aktenführung, erhöht die Chance für Versicherungen, an Daten zu kommen, die für eine Ausschlusspraxis verwendet werden können. Der Diskriminierung mit der Statistik sind wenig Grenzen gesetzt - Zusammenhänge lassen sich für die verschiedensten Merkmale finden.

So gibt es etwa bereits Beispiele für die Diskriminierung religiöser Gruppen mittels Gentests. In den USA wurden in den 1990er Jahren mehrere Gene entdeckt, die in der Bevölkerungsgruppe aschkenasisch-jüdischer Abstammung häufiger vertreten waren. So brachte die Veränderung 185delAG im Gen BRCA1, das bei Amerikanern solcher Herkunft dreimal häufiger als in der übrigen Bevölkerung vorkommt, eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken. Ähnliche Erhebungen wurden für das Risiko an Dickdarmkrebs zu erkranken und für den Ausbruch von Schizophrenie angestellt.2

Der Diskriminierung von Gruppen kann jedoch durch die Stärkung von Individualrechten entgegengetreten werden. Nicht durch ein Verbot von Gentests, sondern durch ein konsequentes Verbot jeder Diskriminierung im Krankenversicherungsbereich - sei es durch Geschlecht, Rasse, Alter, Krankengeschichte oder genetische Veranlagung lässt sich der Wettbewerb in die Bahn von mehr Leistung für den Versicherten lenken. Alle Kassen tragen so das gleiche Basisrisiko und sind gezwungen ihre kreative Energie auf die Verbesserung und die Verbilligung von Leistungen, nicht auf den Ausschluss von Versicherten, zu lenken.