Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus

Seite 3: Keine Parteien mehr, keine Kämpfe um Geld und Macht: Wir sind ein Volk!

Nach den weiteren Siegen des englischen Nationalteams gegen die "Underdogs" Ukraine und Dänemark ("was für ein Erlebnis für dieses kleine Land auf großer Bühne!" Per Mertesacker, gönnerhafter Ex-Deutschland-Verteidiger im ZDF) konstatierten die Medien ein "Volk im Rauschzustand" (u.a. Michael Neudecker: England wie es trinkt und tanzt, SZ, 9. Juli 2021).

Damit endete ein 55 Jahre währender, für eine Nation mit Weltmachtanspruch untragbarer Zustand: Nicht in einem Finale bei einer Welt- oder Europameisterschaft vertreten zu sein. So sehen das jedenfalls einhellig Politik, Medien und Fans. Für die herrschende Elite ist es tatsächlich ein nationaler Glücksfall: Es gibt für einen Moment keine Parteien mehr, keine Kämpfe um Geld und Macht, Not und Elend sind vergessen.

Der Premierminister streift sich ein Nationaltrikot über seinen Bauch, und dem Prinzen wird gehuldigt, als hätte er das entscheidende Tor geschossen ("Harrylujah" titelte die Tageszeitung Daily Mail). So agitiert ein Sportereignis bestens für die Einbildung der Leute, irgendwie gehöre "man" doch zum gleichen "Verein", teile die gleichen Interessen und Vorlieben und leiste deshalb auch, jeder "an seinem Platz", das Seine zum Wohle aller.

Dass dann nach dem Jubel wieder der alltägliche Überlebenskampf aller gegen alle folgt, es da überhaupt keinen positiven Zusammenhang gibt, macht einen ordentlichen Patrioten nicht irre.

Und wie sieht das dann bei den "kleinen" Ländern aus? Leider genauso, nur lecken sie eben ihre nationalen Wunden, statt zu triumphieren: "Aus für eine Mannschaft, die die Herzen ganz Dänemarks und Europas gewonnen hat. Sie fielen mit Ehre. Es war eine heroische Leistung, die die Dänen in einem Spiel ablieferten, das es in sich hatte ..." (die Kopenhagener Tageszeitung B.T., zit. nach SZ, 9. Juli 2021)

Wohlgemerkt, hier wurde keine Schlacht geschlagen - aber wie dort ging es auch hier um die nationale Ehre. Nur dass man Europa nicht mit einem Heer, sondern mit einer Fußballmannschaft "eroberte". Die "Herzen" der anderen Nationalfans flogen ihnen zu nicht wegen ihrer mitreißenden oder irgendwie sympathischen Spielweise. Bei den russischen, walisischen und tschechischen Fans dürften sich nach den jeweiligen Niederlagen ihrer Kicker gegen die Dänen die Sympathien außerdem in Grenzen gehalten haben.

Vielmehr sorgte der Herzstillstand einer der wenigen Stars in der Mannschaft während der ersten Begegnung für eine inter-nationale Welle des Mitgefühls. Die Jungs spielten dennoch - oder gerade deswegen - weiter! Und so wurden sie auf ganz besondere Weise zu "Helden": Gegen alle Widerstände kämpften sie um den Erfolg, auch für ihren verlorenen Kameraden ...

Uefa denkt ans Geschäft – seit wann gilt das im Kapitalismus als Vorwurf?

Spätestens hier muss über die Uefa gesprochen werden: Der Veranstalter der Fußball-EM hatte die Dänen vor die Wahl gestellt, nach dem Zusammenbruch von Christian Eriksen sofort weiterzuspielen oder das Spiel einen Tag später fortzusetzen. Dafür wurde der europäische Fußballverband im Nachhinein kritisiert.

Er hätte dem Team mehr Zeit für die Entscheidung geben sollen. Was wohl die Zuschauer im Stadion und vor allem die übertragenden Fernseh-Anstalten sowie die angeschlossenen Sponsoren davon gehalten hätten, mal ein paar Stunden nichts zu sehen und auf die Entscheidung zu warten, womöglich sogar eine Vertagung oder gar Annullierung zu erleben?

Da kommt das Geschäft ins Spiel - und wie es schon bei Olympia 1972 in München hieß: "The games must go on!" Palästinensische Terroristen hatten israelische Sportler überfallen und als Geisel genommen. Es gab Tote. Dennoch verkündete der Chef des Internationalen Olympischen Komitees, der ebenfalls sehr geschäftstüchtige Avery Brundage, dass die Spiele weitergingen. Und die teilnehmenden Nationen machten auch damals mit.

Die Kritik an der Uefa riss nicht ab. Die Europameisterschaft auf Stadien über den ganzen Kontinent zu verteilen, hätte zwar ideologisch wertvoll werden können: Im Sinne des Märchens von "wir" gehören über alle Ländergrenzen hinweg zusammen, vom Hinterhof im Osten bis zu den Metropolen im Westen. So war das wahrscheinlich auch gedacht. Die nationalen Gegensätze traten jedoch nicht nur in den sportlichen Auseinandersetzungen zutage.

Der Münchner Stadtrat, unterstützt von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, kam im Vorrundenspiel Deutschlands gegen Ungarn auf die Idee, das Stadion in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen. Damit wollte man ein Zeichen setzen gegen ein neues Gesetz in Ungarn. "Es untersagt Bildungsprogramme zu dem Thema (Beschränkung der Information über Homo- und Transsexualität - B.H. ) sowie Werbung von Großunternehmen, die sich mit Homo- und Transsexuellen solidarisch erklären.

Auch Aufklärungsbücher dazu soll es nicht mehr geben. Ziel ist nach Angaben der Regierung der Schutz von Minderjährigen." (Deutschlandfunk, 8. Juli 2021)

Nur Staaten, die sich nicht in der Wolle haben, dürfen teilnehmen? Wie soll das gehen?

So geriet der Fußballverband in eine Zwickmühle: Genehmigte er diese politische Aktion gegen ein Mitgliedsland, würde er sich auf eine Seite schlagen und damit die Tür öffnen für weitere Scharmützel. Mit dem Märchen eines zumindest im Sport einigen Europas wäre es dann schnell vorbei. Auch ganz praktisch: Betroffene Staaten könnten drohen, bei künftigen Turnieren nur mitzuspielen, wenn sie garantiert nicht an den Pranger gestellt würden.

Neben Ungarn könnten aktuell Polen oder Serbien Kandidaten sein; Zuwachs bei weiteren europapolitischen Auseinandersetzungen wäre sicher zu erwarten. Eine Europameisterschaft nur mit den Staaten, die im Moment keine ernsthaften Konflikte miteinander austragen? Dürfte schwierig werden schon bei den Qualifikations-Spielen - und bei der Suche nach Sponsoren, der so wichtigen Einnahmequelle der Uefa.

Andererseits hat sich der Verband ja das "Equal Game" auf die Fahne geschrieben. "Rassismus, Homophobie, Sexismus und alle Formen von Diskriminierung sind ein Schandfleck für unsere Gesellschaft - und stellen heutzutage eines der größten Probleme im Fußball dar. Diskriminierendes Verhalten beschädigt nicht nur die Spiele selbst, sondern auch außerhalb der Stadien die Kommunikation im Netz rund um unseren geliebten Sport."

Damit hat die Uefa die Linie der maßgeblichen nationalen Fußballverbände nachvollzogen: Warum sollten Vereins- wie Nationalmannschaften herausragende Spieler auch nicht aufnehmen, nur weil sie sachfremden Kriterien nicht genügen, also die falsche Hautfarbe oder Herkunft haben?

Die Gnabrys, Mbappés und Sterlings dürften nicht spielen, obwohl sie zu den Besten gehören? Eine sehr unprofessionelle Sicht: Das einzig gültige Kriterium heißt Leistung. Und wenn die stimmt, haben gesellschaftliche Ressentiments zurückzustehen. Was nicht unbedingt bei jedem Fan ankommt...

Die Uefa untersagte deshalb auch nicht die Kapitänsbinde von Manuel Neuer in Regenbogenfarben, desgleichen nicht das demonstrative Niederknien vor dem Anpfiff aus Solidarität mit der Kampagne "Black Lives Matter". Bei Regenbogenfarben im ganzen Münchner Stadion sah sie aber eine Grenze überschritten. Schließlich hatte sich Ungarns Präsident Orban angesagt.

Diesen Affront wollte man offenbar vermeiden. Auch den cleveren, geschäftstüchtigen Schachzug einiger Sponsoren wie VW, die Bandenwerbung ebenfalls bunt zu färben und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verbot der Verband.

Allein, es nützte nichts: Orban blieb zuhause. Wenigstens legten seine Kicker die erforderliche nationale Ehre ein und hatten die übermächtigen und aus seiner Sicht übergriffigen Deutschen am Rand einer Niederlage.