Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus

Seite 4: Die Nationen setzen ihr Gegeneinander fort und blenden es gleichzeitig aus

Wie ihre Kollegen vom Weltfußballverband Fifa und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) hat es die Uefa mit einem ständigen Widerspruch zu tun: Es messen sich um ökonomischen Erfolg und politische Macht konkurrierende Nationen in einem sportlichen Wettbewerb.

Einerseits also die Fortsetzung des Gegeneinanders mit anderen Mitteln; andererseits aber die Ausblendung der Gegensätze. Denn sonst wäre die Frage, wer an den Turnieren teilnimmt und wer sie ausrichtet, der jeweiligen aktuellen politischen Konjunktur unterworfen.

Entsprechend "neutral" verhalten sich die internationalen Sportverbände. Eine Fußball-WM in Katar ist deshalb genauso möglich wie eine folgende EM in Deutschland. Ausnahmen wie die Absage an Weißrussland, die Eishockey-WM auszurichten, bestätigen die Regel.

In internationalen Sportkämpfen sollen körperlich hochgezüchtete Volksrepräsentanten möglichst viele Siege erringen. Damit gereichen sie ihrer Nation zur Ehre - die ihr gefälligst auch gebührt. Die Ansprüche an die Zahl der zu erringenden Titel und Medaillen sortieren sich entlang der tatsächlichen Hierarchie der Staaten in der Welt.

Weltmächte wie USA, China, Russland sowie EU-Führungsnationen wie Deutschland und Frankreich geben folgerichtig viel ehrgeizigere Ziele aus als Schwellen- oder Entwicklungsländer. Die "Großen" investieren auch eine Menge Geld, um in diversen Leistungszentren und Kaderschmieden Siegertypen und -mannschaften zu züchten - mit erlaubten und nicht erlaubten Mitteln.

Der Irrwitz: Vom Ausgang dieser Veranstaltungen hängt im Verhältnis zwischen den Nationen nichts ab. Dennoch nehmen sie ihr Abschneiden so ernst, als wäre es doch so. "Dabei sein ist alles" stimmt für sie nicht. Angesichts der eigenen Stellung in der Welt - und bei einigen im Hinblick auf einen angestrebten Aufstieg - hat sich im Sport dies in einer entsprechenden Zahl von Erfolgen widerzuspiegeln. Tritt dies nicht ein, ist die nationale Ehre verletzt, und die Schuldigen werden zur Verantwortung gezogen.

Ein Europameister ist nicht auch der Meister Europas

Im Falle der Endspielgegner Italien und England verhält es sich auch so - und ein wenig anders. Denn beiden Mannschaften hatten die sie entsendenden Nationen nicht unbedingt zugetraut, so weit zu kommen.

Vor allem die englischen Fans rasteten in den weiteren Spielen nach dem Sieg gegen die Deutschen vollkommen aus, mit ihnen die Medien und die Politik. Nun hat man den angemessenen Rang als Fußball-Nation endlich wieder eingenommen, seine Bedeutung als wichtige Macht in Europa unterstrichen.

Aber auch die Italiener übertrugen gekonnt die Erfolge ihres Teams auf die Nation: "Unsere Nationalmannschaft ist wie das Land: nicht sehr stark, aber sie glaubt an sich", schrieb die Zeitung La Repubblica (zit. nach SZ, 10. Juli 2021). Die Kollegen vom Corriere della Sera setzten noch eins drauf: Sie nannte den Ministerpräsidenten Mario Draghi in einem Atemzug mit dem Nationaltrainer Roberto Mancini. "Die zwei gemäßigten Leader schenken uns eine andere Vorstellung von Italien. (…) wenn wir alle miteinander daran glauben, dass ein anderes Italien möglich ist, dann könnte sich jetzt eine neue Ära öffnen." (ebenda)

Nun jubelt Italien, und England weint. Gewonnen und verloren haben zwar nur zwei Fußballteams. Und über eine "neue Ära" oder den Erfolg des "Brexits" entscheiden andere Dinge.

Aber einen strahlenden Sieger gibt es unabhängig vom jeweiligen Abschneiden der Mannschaften: Die Einbildung eines jeden, mit den zig Millionen anderen Einwohnern seines Staates irgendwie etwas gemein zu haben und dass irgendwie alle eine gemeinsame Sache verfolgen – und wenn es nur der Gewinn einer internationalen Sportveranstaltung ist. Fortsetzung folgt: Olympia.