Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus
Seite 2: Ein Fußball-Sieg schmeckt süß, ändert aber nichts an der Hierarchie der Staaten
- Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus
- Ein Fußball-Sieg schmeckt süß, ändert aber nichts an der Hierarchie der Staaten
- Keine Parteien mehr, keine Kämpfe um Geld und Macht: Wir sind ein Volk!
- Die Nationen setzen ihr Gegeneinander fort und blenden es gleichzeitig aus
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Nun fungieren die Medien nicht als unmittelbares Sprachrohr der Politik. Sie lauschen aber den Regierenden ihre Sorgen um den Erfolg der Nation ab und sind so frei, sich darauf ihren Reim zu machen, sprich sachdienliche Hinweise zu geben, wie es am besten laufen könnte.
Im Ressort Politik geht es dann um das Verhältnis der beiden führenden EU-Staaten. Kann Macron sich endlich mal mit seinen Vorschlägen für Europa durchsetzen oder lässt ihn Merkel weiter auflaufen? Wer von den beiden letztlich das Sagen hat, ist kein Geheimnis. Ebenfalls nicht, worauf diese Hierarchie basiert: auf dem ungleich größeren ökonomischen Erfolg der Deutschen.
Ein Sieg französischer Fußballer gegen die Auswahl des benachbarten Partners ändert daran natürlich nichts. Und doch - beziehungsweise gerade, weil dem so ist – schmeckt der sportliche Erfolg süß. Im Ressort Sport darf man sich diesem Gefühl hingeben: Die Deutschen sind nicht überall überlegen, "wir" haben es denen mal so richtig gezeigt!
Der Sieg in der ersten Partie bestätigte den für eine "Grande Nation" selbstverständlichen Anspruch auf ein erfolgreiches Turnier. Entsprechend vernichtend fielen die Kommentare aus, als die französische Auswahl bereits im Achtelfinale scheiterte: "Les Bleus wurden gekreuzigt. Eine unglaubliche Pleite" (L'Équipe), "Ein enormer Misston" (Ouest France), "Les Bleus haben gegen die Schweiz ihren Verstand verloren" (Le Monde), "Es ist wie eine Ohrfeige" (Le Parisien) (alle zit. nach Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 2021).
Die logische Folge: "Frankreich beweint das frühe EM-Aus des Weltmeisters und kündigt die nahe 'Stunde der Abrechnungen' an." (ebenda) Denn diese nationale Schmach muss natürlich so schnell wie möglich getilgt werden. Also gerieten die zwei Wochen zuvor noch in den Himmel gelobten Helden nun ins Kreuzfeuer der Kritik, Trainer inklusive.
Arrogante Millionäre werden zu nationalen Helden: Sie müssen nur gewinnen
Genau umgekehrt verhielt es sich bei der "Nati". Das Kosewort für die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft deutet zwar auf ein eher niedliches Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Kickern hin. Aber das täuscht: "Luxus, Tattoos, Frisuren - vieles kam nicht gut an. Super kamen an: Gesten bei der Hymne" fasste die Süddeutsche Zeitung einige Vorfälle zusammen. (Isabel Pfaff: Hand aufs Herz, hoch die Faust, in: SZ, 30. Juni 2021)
Sie hatten in der Schweiz die Diskussion angeheizt, inwiefern die Spieler vorbildliche Vertreter des Landes seien. Die Antwort: eher nicht. Was hilft in solchen Fällen? Erfolg, was sonst! Und mit einem Mal war von der "arroganten Abgehobenheit der Jung-Millionarios" (Neue Zürcher Zeitung, NZZ, zit. nach SZ, ebenda) keine Rede mehr: "Der Sieg gegen Frankreich gibt vor allem dem Schweizer Coach recht - für sein Vertrauen in Führungsspieler (...eben jene Millionarios - B.H.) (…), in diese Mentalität, die oft angezweifelt worden ist." (NZZ, ebenda)
Aber sind die Fußballer in der "Nati" überhaupt national genug? Charakter hin oder her, schlägt ihr Herz vielleicht gar nicht für die Schweiz? Diesen furchtbaren Verdacht hatten zwei Spieler mit Wurzeln im Kosovo ausgelöst: Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri bejubelten schließlich bei der Weltmeisterschaft 2018 ihre Tore gegen Serbien mit dem doppelköpfigen Adler, dem albanischen Flaggen-Symbol.
Umso schöner, dass Shaqiri nun beim Singen der Schweizer Hymne demonstrativ die Hand aufs Herz des Nationaltrikots legte. Das kam gut an - so gut, dass ein Radiomoderator darin den wahren Grund für den späteren Sieg gegen die französische Auswahl ausmachte (vgl. Pfaff, ebenda). Mit der richtigen, national-moralisch einwandfreien Einstellung und der "echten Liebe" zur Nation muss man einfach gewinnen!
Wenn die Nation ruft, haben Arbeit und Virus frei
An beidem hat es der deutschen Auswahl sicher nicht gemangelt. Und doch verloren sie gegen England. Wieder so eine Nation, die wie Frankreich (oder zu früheren Zeiten Portugal und Spanien) eine Menge Stolz auf einst erfolgreichen Kolonialismus vor sich herträgt - und aktuell angestrengt versucht, weiter mit den führenden Staaten der Welt mitzuhalten.
Der "Brexit" soll Großbritannien von den Fesseln der Europäischen Union befreien und das Vereinigte Königreich endlich wieder zu seiner als angemessen empfundenen Größe zurückbringen. Einem Premier Boris Johnson ist klar, dass ihn dabei ein Sieg im "Klassiker" gegen die führende EU-Nation keinen Schritt weiterbringt.
Dennoch hat er sich wie Millionen Engländer, vorsichtig formuliert, sehr über den Erfolg gefreut. Denn es war ein nationales Ereignis, das gut endete: Die Regierung hatte die Arbeitgeber gebeten, den Beschäftigten rechtzeitig freizugeben, damit sie ab 17 Uhr Ortszeit das Spiel würden verfolgen können.
Ins Londoner Wembley-Stadion strömten die maximal zugelassenen 42.000 Zuschauer. Ohne Mund-Nasenschutz und Abstand – wer denkt noch an ein Virus, wenn es um etwas wirklich "Großes" geht, also die Deutschen endlich nach so vielen Niederlagen zu schlagen?
Auch bei den zahlreichen Public Viewings und in den Pubs verdrängte die nationale Besoffenheit das lästige Corona - ganz wörtlich: Schätzungen zufolge sollen an diesem Abend 20 Millionen Pints Bier getrunken worden sein, das sind rund 11,4 Millionen Liter. Entsprechend leicht von der Zunge ging vielen das Singen von "Football's coming home" und der Nationalhymne "God Save The Queen".
Und die unterlegenen Deutschen? Waren natürlich maßlos enttäuscht. Bei all den herausragenden Talenten und erfolgreichen Spielern in ihren Vereinsmannschaften - wie konnte man da so schlecht abschneiden? Der Trainer war's, wer sonst. Praktisch, dass der sowieso aufhört. Beruhigend auch seine Beteuerung zum Abschied: "Mein Herz schlägt weiterhin schwarz-rot-gold." (zit. nach Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 2021)
"Was denn sonst?", möchte man fragen. Denn ein echter Fan wendet sich nicht vom Objekt seiner bedingungslosen Begeisterung ab. Das zeichnet ihn ja vor all denen aus, die wetterwendisch ihre Sympathien je nach den erreichten Erfolgen ausrichten, also nicht "treu" sind.
Beim höchsten Objekt, der Nation, verbietet sich allerdings jede kleingeistige oder individuelle Kalkulation: "Als Deutscher" (oder eben Engländer, Franzose, Italiener usw.) fiebert man mit "seinen" Sportlern ganz grundsätzlich. Wenn sie gewinnen, haben sie der Nation Ehre gemacht und damit den nationalen Untertanen auch.
Wenn sie verlieren, haben sie der Nation nicht das gegeben, was sie verdient qua ihrer überragenden Eigenschaften. Dann wird "abgerechnet" und alles dafür getan, damit das nächste Mal wieder anders wird.