Fußballpolitik

Seite 2: Wehrfaule Demokratie und Selbstlähmung

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Die Floskel von der "wehrhaften Demokratie" ist bereits seit einigen Jahren aus der Mode gekommen. Umgekehrt wäre die gegenwärtige Lage mit der Behauptung von der Wehrlosigkeit der Demokratie ebenfalls falsch beschrieben. Eher sollte man Wehrfaulheit und Müdigkeit feststellen; die Unfähigkeit zu entscheiden. Die Unfähigkeit, Stellung zu beziehen. Die Selbstlähmung durch Komplexitätssteigerung - wo doch Komplexitätsreduktion ein wesentliches Ziel guter Politik sein muss.

Nehmen wir beispielhaft die EU-Institutionen und die Fälle von Ungarn und Polen als EU-Mitglieder und das Verhalten der übergeordneten EU-Institutionen. Die Regierungen von Orbán und Kaczyński machen Wahlkampf gegen die EU, gegen ihre Institutionen und grundlegenden Werte. Das ist deren Recht, die Frage liegt jedoch nahe, wozu sie denn noch Mitglied einer so verachteten Institution sein wollen.

Auch die Antwort liegt nahe: Ohne EU-Mitgliedschaft würde Orbáns Machtsystem rasch kollabieren, da über Brüssel Milliardenaufträge nach Ungarn fließen, die Orbán dann unter seinen Anhängern und Günstlingen verteilen kann.

Trotzdem ist die EU nicht bereit, genau das zu unterbinden, und die entsprechenden Staaten zu sanktionieren. Dazu bedürfte es keineswegs - wie gern von EU-Skeptikern suggeriert wird - eines "Rechtsstaatlichkeitsverfahrens", das durch das komplizierte Regelwerk der EU und den Einstimmigkeitszwang tatsächlich de facto kaum möglich ist.

Es genügte, wenn eine relevante Gruppe von EU-Mitgliedern (Deutschland und Frankreich würden genügen), es den betreffenden Regelbrechern mit gleicher Münze heimzahlen würden, und ebenfalls gegenüber diesen Ländern in bestimmten Fragen mit konkreten Maßnahmen - Einreisebeschränkungen, Einfrieren von Vermögen, Zahlungsverzug, etc - reagieren würden.

Nach dem guten alttestamentarischen Prinzip: Auge um Auge. Fehlverhalten würde bestraft, Wohlverhalten mit Entgegenkommen beantwortet. Nötig wäre hier allein der politische Wille der Mächtigen, ihre Macht auch zu gebrauchen, anstatt neutestamentarisch dem Feind nach der ersten Ohrfeige auch noch die andere Backe hinzuhalten.

Genau dieses "softe" Verhalten, wird von autokratischen Regierungen (zu Recht!) als Schwäche der Demokraten interpretiert und verachtet.

Gerade die deutsche Kanzlerin Merkel ist mit ihrem Stil des Aussitzens, zähen Verhandelns, Abwartens, Lavierens, Nicht-Entscheidens, Hinauszögerns von Entscheidungen seit einiger Zeit an eine Grenze gekommen. Eine absolute Grenze. Merkel lässt sich nicht ein auf das Denken ihrer politischen Gegner, die sie vielleicht als "Männer von Gestern" abtut. Aber sie erkennt nicht, dass sie sich bei Charakteren wie Putin oder Erdogan nur Respekt erwirbt, wenn sie "auch mal Muskeln zeigt."

Wie man diese absolute Grenze überschreiten könnte, macht der französische Präsident Macron gerade vor: Dem demokratischen Dezisionismus der Despotie der Mehrheiten setzt er einen republikanischen Dezisionismus der Despotie der Vernunft entgegen.

Diesem Dezisionismus war Merkel nur einmal, im Moment des "Wir schaffen das" nahe - denn in diesem Satz lag das "Wir machen das jetzt so, egal ob auch nur ein Bürger das richtig findet". Das wäre wahre Demokratie: Nicht so zu handeln, wie eine Mehrheit will, sondern so zu handeln, wie alle wollen sollten, würden sie, statt auf niedere Instinkte zu hören, von ihrer Vernunft Gebrauch machen.

Es ist besser in einem Land zu leben, in denen die Bürger durch direkte "sogenannte demokratische" Abstimmungen nichts verändern können, als in Ländern, in denen durch solche "sogenannte demokratische" Abstimmungen Rechtsstaat und Minderheitenrechte außer Kraft gesetzt werden können.

Zugespitzt: Freiheit per Dekret ist besser als Unfreiheit per Volksabstimmung.

Kontingenz und Dezision

Das Funktionieren von Demokratie beruht auf weiteren, zudem gefährdeten Voraussetzungen: Es setzt eine relativ homogene Gesellschaft voraus; es setzt relative wirtschaftliche Gleichheit voraus und setzt vor allem ein Erziehungssystem voraus, das erzieht, nicht toleriert, das nicht vielstimmig ist und Unbestimmtes vermittelt oder "die Freiheit, selbst zu entscheiden", sondern in diskursiver Ruhe und Ordnung Bestimmtes vermittelt.

Ein Erziehungssystem, das nicht suggeriert, Informationsfreiheit und Medienvielfalt wäre das Gleiche, wie die Möglichkeit, dass jeder in irgendeinem Ego-Blog jeden beliebigen Unsinn veröffentlichen oder in irgendeinem asozialen Netzwerk seine Meinung sagen darf.

Gesellschaft ist Austausch und Intersubjektivität, das, was in analogen Zeiten der Jahrmarkt oder die Piazza waren. Heute sind es das Netz und die digitalen Netzwerke. Aber Gesellschaft ist immer auch etwas ganz anderes als Kontingenz der Stimmen und Austausch in Gleichheit des Rechts und der Chancen, Gehör zu finden.

Es ist neben Kontingenz auch Dezision. Die Entscheidung und die Vermittlung getroffener Entscheidungen. Dissens ist nur möglich auf der Basis von Konsens. Heute erodieren die Fundamente, der Konsens, auf dem Demokratie fußt. Darum fliehen die Leute vor dem Lärm kontingenter Vielfalt in die Einfalt autoritärer Dezision - weil keine konsensuelle Basis mehr existiert.

In unseren Zeiten der postmodernen Selbstermächtigung des Individuums, der Ersetzung von Vernunft durch Emotionen, ist genau diese oben beschriebene Basis von Demokratie nicht gewährleistet. Die Folge: Moderne Gesellschaften trauen demokratischen Verfahren zunehmend nicht mehr eine Lösung der Aufgaben zu, die doch allein politisch gelöst werden können. Die Folge: Sie wenden sich zunehmend verschiedenen Formen autoritärer Politikmodelle zu.

Dazu gehören die Zornpolitiken (Peter Sloterdijk) verschiedener Art, alles das, was in den letzten Jahren fälschlicherweise als Populismus beschrieben und in dieser Beschreibung zugleich verharmlost wurde - handelt es sich doch eher um Demagogie.

Die Alternative zu zornpolitischer Demagogie und zugleich ihre Schwester heißt Despotismus. Es ist der Despotismus autoritärer Einzelpersonen, oft genug mit charismatischem Potential, also der Fähigkeit, Gefolgschaft über persönliche Ausstrahlung und Rhetorik zu organisieren.

Sie tun dies innerhalb des Rahmens der Demokratie. Der Abschaffung von Demokratie durch Demagogen und Despoten geht die Ermächtigung ebendieser durch demokratische Wahl voraus. Ob bei Putin, oder Erdogan, bei Trump oder Berlusconi, bei Haider oder Orbàn oder Kaczynski - immer wurden diese von einer (relativen) Mehrheit gewählt. Diese Hinwendung zum Autoritarismus als "Rückfall" zu bezeichnen, ist jedoch falsch.

Autoritarismus ist Zukunft, nicht Vergangenheit.

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