Gefangen in der Liquiditätsblase

Skulptur Bulle und Bär vor der Frankfurter Börse von Reinhard Dachlauer. Bild: Eva K / CC BY-SA 2.5

Die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten verweisen auf die systemische Sackgasse, in der sich das Weltfinanzsystem befindet

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Wenn Finanzmarktberichte mit Fotos besorgt dreinschauender Wertpapierhändler bebildert werden, dann ist es mal wieder soweit: Turbulenzen auf den Finanzmärkten lassen in der Öffentlichkeit die verdrängte Angst vor dem nächsten großen Crash, vor einem neuen Krisenschub, wieder aufkommen.

Diesmal sind es die Kursstürze an den US-Märkten, die für Unruhe sorgen. Der wichtigste US-Aktienindex, der Dow Jones, ist am vergangenen Freitag um mehr als 650 Zähler eingebrochen, was den heftigsten Einbruch seit gut zwei Jahren entsprach.

Auf Wochenbasis hat der Dow mehr als 1.100 Punkte eingebüßt. Unruhe, Verunsicherung machte sich folglich auf den "Märkten" bereit: Ist dies nur eine Kurskorrektur bei einem seit einer knappen Dekade anhaltenden Aktienboom oder folgt jetzt der Crash?

Die Stimmung sei "innerhalb weniger Tage" von Euphorie zu einer tiefen Sorge vor einer nachhaltigen Korrektur umgeschlagen, berichteten US-Medien (Panik an den US-Börsen). Die Turbulenzen wurden dabei gerade durch "gute" Nachrichten ausgelöst: Die US-Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Löhne steigen stärker als erwartet: Dies ist aber charakteristisch für eine Phase spekulativ überhitzter Konjunkturentwicklung, da der Kapitalismus bekanntlich nie gesünder aussieht als kurz vor dem nächsten Crash.

Angst vor weiteren Zinserhöhungen

Somit geht an der Wall Street die Angst vor weiteren Zinserhöhungen um. Die guten Konjunkturnachrichten befeuerten auf den Aktienmärkten schlicht Befürchtungen, dass dem Finanzsektor die Grundlage seines gut zehnjährigen Dauerbooms endgültig genommen wird.

Seit 2009 hat der Dow Jones um rund 260 Prozent zugelegt, ähnlich verhält es sich beim deutschen Leitindex Dax. Dies war nur dank der historisch einmaligen, expansiven Geldpolitik möglich, die von den Notenbanken in Reaktion auf die Weltfinanzkrise von 2008 verfolgt wurde.

Zur Erinnerung: Nachdem die Spekulationsblasen auf den Immobilienmärkten in den USA und weiten Teilen Europas platzten, die Weltfinanzmärkte in Schockstarre übergingen und die reale Wirtschaft abzustürzen begann, haben die meisten kapitalistischen Kernländer das systemimmanent einzig mögliche getan, um die konjunkturellen Folgen des Finanzmarktbebens möglichst gering zu halten.

Die Wirtschaft wurde mit massiven kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen gestützt, die Zinsen wurden de facto abgeschafft, indem jahrelang eine Nullzinspolitik verfolgt wurde, und die Notenbanken gingen zum Gelddrucken über, indem sie all die Schrottpapiere aufkauften, die während der Immobilienblasen als "Verbriefungen" von Subprime-Hypotheken die Weltfinanzmärkte fluteten.

Diese expansive, mit historisch beispielloser Gelddruckerei einhergehende Nullzinspolitik war de facto systemimmanent alternativlos. Ohne diese umfassenden Konjunkturspritzen samt expansiver Geldpolitik wäre die Weltwirtschaft in einer schweren Depression versunken, wie es unschwer am massiven Einbruch des globalen Bruttoinlandsprodukts 2009 ersichtlich ist:

Grafik: TP

Erfolgreiche Konjunkturpakete mit Nebenwirkungen

Der konjunkturelle Einbruch, der auf das Platzen der "transatlantischen" Immobilien-Blasen 2009 folgte, war heftig, aber nur kurz. Die Konjunkturpakete, die Gelddruckerei der Notenbanken - sie wirkten tatsächlich. Diese Maßnahmen haben eine schwere, globale Wirtschaftskrise ab 2009 verhindert. Insofern hat 2008 die bürgerliche Politik tatsächlich gezeigt, dass sie die Lektionen von 1929 gelernt hatte (siehe dazu die Grafik hier).

Aber diese scheinbar erfolgreichen Maßnahmen haben offensichtlich so ihre Nebenwirkungen. De facto löschte hierbei die kapitalistische Krisenpolitik das Spekulationsfeuer mit Benzin. Die drohenden konjunkturellen Folgen der geplatzten Immobilienblasen wurden durch ein Maßnahmenpaket abgewendet, das die nächste Blasenbildung ermöglichte.

Die Liquidität, mit der die Notenbanken das Weltfinanzsystem ab 2008 fluteten, ließ eine globale Liquiditätsblase aufkommen, die seit rund einer Dekade die Finanzmärkte auf Rekordjagt gehen lässt.

Die Blase

Durch Nullzinspolitik und Gelddruckerei wurden Investitionen in Aktienmärkte wieder rentabel, die folglich zu boomen anfingen. Das Problem, vor dem die Geldpolitik folglich nach rund zehn Jahren steht, gleicht der Lage kurz vor dem Platzen der Immobilienblasen - nur in einer ganz anderen Größenordnung. Es ist eine gigantische Blase.

Die bürgerliche Geldpolitik ist zu einem Gefangenen der gegenwärtigen Liquiditätsblase geworden, da sie keinen gangbaren Weg aus dieser Spekulationsdynamik finden kann. Stattdessen handelt man sich, historisch betrachtet von Blase zu Blase: von der Dot-Com-Manie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, über die 2008 platzenden Immobilienblasen, bis zur gegenwärtigen Liquiditätsblase.

Wobei die Stützungsmaßnahmen nach dem Platzen einer globalen Spekulationsdynamik den Boden für die nächste, noch größere Bonanza legen. Und die Krisenpolitik ist gezwungen, immer drastischere Maßnahmen zu ergreifen, um solche "Blasentransfers" zu ermöglichen.

Die Liquiditätsblase erreicht ihren Reifepunkt

Nun scheint die gegenwärtige Liquiditätsblase ihren Reifepunkt zu erreichen. Eigentlich müssten die Zinsen angehoben und zugleich gesenkt werden.

Zinserhöhungen sind einerseits gefährlich: Die vorsichtigen US-Zinsanhebungen der vergangenen Monate auf 1,5 Prozent scheinen die Stabilität des in schwindelerregende Höhen angeschwollenen Weltfinanzsystems zu unterminieren. Die Anlage von Kapital in Aktien wird bei hohen Zinsen zugunsten des Investments in Bonds zurückgefahren, was zu Kapitalabflüssen und Kurseinbrüchen führen kann.

Zugleich geraten die Profite der Aktienkonzerne unter Druck, da diese nun bei steigenden Zinsen schwerer an frisches Kapital kommen. Auch dies kann dann zu Einbrüchen, zu einem unkontrollierbaren Crash führen. Schließlich geraten private wie öffentliche Schuldner durch höhere Zinsen unter Druck, was das Risiko nationaler wie globaler Schuldenkrisen ansteigen lässt.

Gleichzeitig sind im Rahmen der herrschenden volkswirtschaftlichen Orthodoxie Zinserhöhungen notwendig: Die Inflation, die jahrelang kein Thema war, ist zurück: Die Verbraucherpreise in den Vereinigten Staaten sind auf mehr als zwei Prozent geklettert - Tendenz steigend. Noch 2015 befanden sich die USA am Rande der Deflation.

Geldpolitische Sackgasse

Die Zinsen müssten auch aus einem anderen Grund eigentlich angehoben werden: Um sie beim nächsten Krisenschub absenken zu können. Bislang verfügt die Geldpolitik in den USA und der EU kaum über geldpolitischen Manövrierraum, um auf einen Wirtschaftseinbruch oder ein ernsthaftes Finanzmarktbeben mit Zinssenkungen reagieren zu können. Die in der Nullzinsphase spekulativ aufgeblähten Finanzmärkte reagieren offensichtlich mit Finanzmarktbeben auf Versuche, die Zinsen weiter anzuheben.

Diese geldpolitische Sackgasse ist Teil der generellen systemischen Aporie, in der sich die kapitalistische Krisenpolitik befinden, die den gegenwärtigen systemischen Krisenprozess zwar hinauszögern, aber nicht überwinden kann.

Die Krisenfalle kapitalistischer Politik spiegelt sich in der sattsam bekannten, seit Krisenausbruch 2008 geführten Diskussion zwischen neoliberalen Ökonomen, die Sparpolitik und Zinserhöhungen fordern, um die Verschuldung einzudämmen, und ihren keynesianischen Gegenspielern, die auf Konjunkturstützung durch expansive Geldpolitik und Konjunkturprogramme setzen.

Die Krux an dieser Diskussion: Beide Seiten haben mit ihrer Diagnose Recht. Keynesianische Konjunkturprogramme sind Strohfeuer, Nullzinspolitik führt in Spekulationsexzesse und letztendlich Inflation. Zugleich ist aber auch klar, dass Sparpolitik nur zu Wirtschaftseinbrüchen und Massenelend führt (siehe Schäubles Griechenland-Politik).

Die Politik kann den Krisenprozess somit nicht überwinden, sie kann der globalen Spekulationsdynamik, die nur Ausdruck des globalen Verschuldungszwangs des Spätkapitalismus ist, nicht entfliehen. Sie kann aber diesen Verschuldungs- und Spekulationsprozess vermittels der besagten expansiven Geldpolitik in die Länge ziehen.

Keine zinspolitische Rückkehr zur Vorkrisenzeit

Folglich dämmert es inzwischen selbst der deutschen Ökonomenzunft, dass es eine zinspolitische Rückkehr zur Vorkrisenzeit nicht geben kann. Ein Zinsniveau, wie es vor der Eurokrise üblich gewesen sei, könne man "abhaken", erklärte der Finanzinvestor Bert Flossbach gegenüber Spiegel online, diese Ära hoher Zinsen sei zumindest in der Eurozone "vorbei":

Stellen Sie sich vor, die EZB würde ihren Leitzins auf zwei bis drei Prozent anheben. Das hätte fatale Folgen für viele Staaten, insbesondere die Euro-Südländer. Sie könnten ihre Schulden nicht mehr finanzieren. … Sie werden das Zinsniveau weiter niedrig halten - weil sie es müssen. Andernfalls wäre der Euro in Gefahr.

Bert Flossbach

Dennoch kann die durch Niedrigzinsen befeuerte Aktienrallye nicht "einfach für immer weitergehen", wie Spiegel online im besagten Bericht andeutet. Die zwangsläufig ansteigende Inflation wird die Geldpolitik irgendwann zum Handeln zwingen.

Perspektivisch steht die Politik vor der Wahl, die Inflation ausarten zu lassen oder die Liquiditätsblase zum Platzen zu bringen, indem die Zinsen erhöht werden. Diese würde aber im Nachhinein ebenfalls einen Inflationsschub, einen Entwertungsschub auslösen.

Inflation der Wertpapierpreise

Inflation ist unabwendbar. Die letzte Dekade schien ja dem Keynesianismus insofern recht zu geben, als dass es keine nennenswerte Inflation gegeben hat, obwohl dieser Zeitraum von einer extrem expansiven Geldpolitik geprägt gewesen war. Dabei wird einfach die Entwicklung auf den Finanzmärkten ausgeblendet, wo es zu einer Inflation der Wertpapierpreise kam. Und eben dies ist ja die Definition einer Blasenbildung.

Wie gesagt, die Aktienmärkte sind - in einer Periode bestenfalls durchwachsenen Wirtschaftswachstums - um runf 260 Prozent angestiegen. Diese Blasenbildung, diese Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre bildete einen enormen Inflationsdruck aus, der sich langsam seinen Weg in die "reale" Wirtschaft bahnt.

Das gigantische Entwertungspotenzial der Finanzsphäre sickert somit in reale Wirtschaft ein - etwa durch die stimulierenden konjunkturellen Effekte der Spekulationsdynamik. Erst beim Platzen der gegenwärtigen Liquiditätsblase wird aber deren volles Entwertungspotenzial wirksam werden.

Von Prozessen und Strukturen beherrscht

Bestimmend oder relevant sind hierbei die Entscheidungen der Geldpolitik: Diese kann zwar die Systemkrise, in der sich der Kapitalismus befindet, nicht lösen, aber sie kann die Agonie des Systems verlängern. Die Blase muss jetzt nicht platzen, sie kann eventuell, bei Verzicht auf Zinserhöhungen, noch prolongiert werden - aber dies kann nicht ad infinitum prolongiert werden: Der Inflationsanstieg wird sich beschleunigen, irgendwann drohen, außer Kontrolle zu geraten.

Letztendlich wird aber in solchen Krisenschüben nur das manifest, was latent die Gesellschaft selbst im Alltag zumindest ahnt: Die Politik ist nicht Herr im eigenen bürgerlichen Haus. Das Kapitalverhältnis, von den Marktteilnehmern unbewusst alltäglich reproduziert, bildet gesamtgesellschaftlich eine widersprüchliche Eigendynamik aus.

In der Krise wird es offensichtlich, dass die Menschen im Kapitalismus diese gesamtgesellschaftliche Dynamik nicht beherrschen, von Prozessen und Strukturen beherrscht werden, die sie selber unbewusst als Marktsubjekte hervorbringen.

Zu dem Thema erschien vom Autor zuletzt das Buch Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft.