"Kein Boden in Sicht"

Der freie Fall der Weltwirtschaft gewinnt an Dynamik - wie lange wird er andauern? Helfen Konjunkturprogramme bei der Überwindung der Krise?

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Wirtschaftshistoriker dürften vergeblich nach einem ähnlich dramatischen Konjunktureinbruch in den Annalen des kapitalistischen Weltsystems suchen, wie er sich gerade zeitgleich global vollzieht. Die Industrieproduktion fällt in einem atemlosen Tempo. Weltweit füllen sich die Lagerbestände mit unverkäuflichen Warenbergen, während gleichzeitig Millionen von Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren. Die Welt werde plötzlich „mit nahezu allem überflutet: Flachbildfernsehern, Bulldozern, Barbie-Puppen...“, lamentierte die Washington Post.

Auch der globale Handel, das wichtigste Merkmal der kapitalistischen Globalisierung der letzten Jahrzehnte, bricht ein. Im Zeitraum von August 2008 bis Januar sank der globale Warenaustausch um fast 20 Prozent. Wie der Economist meldet kann man inzwischen seine Fracht von Asien nach Europa in einem Schiffscontainer für 0 Dollar verschiffen lassen. Der Kunde habe nur noch die Treibstoffkosten zu tragen und die Verladung zu bezahlen, so der Economist.

Um abschätzen zu können, wie lange dieser „freie Fall“ der globalen Ökonomie anhalten kann und ob die gegenwärtig überall aufgelegten Konjunkturprogramme zur Bewältigung der Krise beitragen können, muss man zuerst Klarheit über den Charakter der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verwerfungen gewinnen. Es ist zuvorderst zu klären, was eigentlich jetzt passiert, welche sozioökonomischen Prozesse derzeit ablaufen. Einen ersten Hinweis hierauf liefert der britische Economist, der in einem jüngst publizierten Artikel den weltweiten Kollaps der Produktion beklagt:

Die Industrieproduktion ist unbeständig, aber die Welt hat eine solche Kontraktion seit dem ersten Ölschock in den Siebzigern nicht gesehen – und nicht mal damals war diese so weit verbreitet. Die Industrie kollabiert in Osteuropa, wie in Brasilien, Malaysia und der Türkei. Tausende von Fabriken in Südchina sind nun verlassen. Die Arbeiter sind zurück auf das Land gegangen...

The Economist
April 2005 ist als Vergleichswert mit 100 definiert. Quelle: Eurostat

Das bereits verfügbare statistische Material, das den Zusammenbruch der Warenproduktion, wie auch die in dessen Gefolge einsetzende massenhafte Zunahme der Arbeitslosigkeit beleuchtet, ist in der Tat als historisch einmalig zu bezeichnen. In den USA ging die Industrieproduktion im Januar 2009 gegenüber dem Vorjahreszeitraum noch um vergleichsweise moderate 10% zurück, in Russland waren es schon 16%, in Spanien 24%, Japan musste einen Rückgang um 31% verkraften, die Ukraine sogar um 34% - und Taiwans Industrieproduktion sackte um 43% ab! Deutschland, der einstmals von der hiesigen Presse gefeierte magersüchtige Exportweltmeister verzeichnete einen Rückgang der Industrieproduktion um 13%. Im ebenfalls auf den Export fixierten Südkorea waren es 21%.

Zeitgleich explodiert weltweit die Arbeitslosigkeit, deren Anstieg als einer der wichtigsten Faktoren gilt, die zur politischen Destabilisierung der bestehenden Gesellschafts(un)ordnung beitragen werden. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO soll das weltweite Heer der Erwerbslosen um weitere 50 Millionen Menschen bis Ende 2009 anwachsen.

Die ILO warnt überdies, dass aufgrund der Krise in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems zusätzliche 200 Million Menschen in „absolute Armut“ abrutschen. Weltweit würden 45 Prozent aller Beschäftigten, das sind 1,4 Milliarden Menschen, zu den „arbeitenden Armen“ zählen. Diese Menschen verdienen weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Doch der Aderlass hat schon längst eingesetzt: In China haben bereits an die 20 Millionen Wanderarbeiter ihre Arbeitsplätze verloren.

Quelle: Office for National Statistics (ONS)

Trotz eines öffentlichen Investitionsprogramms von umgerechnet 456 Milliarden Euro soll selbst staatlichen Prognosen zufolge das Arbeitslosenheer in den ländlichen Regionen Chinas noch auf 25 Millionen Menschen anschwellen In Großbritannien soll laut der ILO die Arbeitslosigkeit bis Mitte 2010 auf 9,5% ansteigen - von 6,3% im Januar 2009. Deutschland hingegen dürfte im kommenden Jahr laut der Internationalen Arbeitsorganisation wieder eine zweistellige Erwerbslosenrate von 10,5% aufweisen (und das, nachdem schon die Arbeitslosenstatistik massiv gefälscht wurde). Die Agenda 2010 der ehemaligen rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder wandle sich nun in einen Albtraum 2010, jammerte jüngst die Financial Times Deutschland.

Wie der Economist nun in dem oben erwähnten Artikel konstatiert, sind oftmals Regionen und Länder besonders stark von den Einbruch in der Industrieproduktion betroffen, die – wie Japan, Südkorea, Deutschland oder China - eigentlich keine nennenswerten, mit massiver privater Verschuldung einhergehenden Spekulationsblasen im Immobiliensektor ausgebildet haben:

Einige Einheimische (in den USA und Großbritannien) machen nun die Wall Street und die City verantwortlich. Aber der Kollaps ist viel schlimmer in den Ländern, die stärker von der Exportproduktion abhängig sind, die auf die Konsumenten in den Schuldnerstaaten angewiesen sind.

The Economist

Hier wirft der Economist ein bezeichnendes Schlaglicht auf die globale Außenhandelsstruktur, die tatsächlich von Defizitkreisläufen gekennzeichnet ist, bei denen exportorientierte Volkswirtschaften - wie China, Deutschland, Japan und Südkorea - ihre Produktionsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer exportierten, die zumeist auch Spekulationsblasen im Immobiliensektor aufwiesen.

Zu diesen „Schuldnerstaaten“, wie der Economist sie nennt, gehörten unter anderem neben den USA auch Großbritannien, Spanien und Irland. Der wichtigste globale Defizitkreislauf bestand natürlich zwischen China und den USA. Die im Abstieg begriffenen Vereinigten Staaten und das aufstrebende Reich der Mitte sind durch diesen Defizitkreislauf trotz ihrer geopolitischen Rivalität zur ökonomischen Kooperation regelrecht verurteilt. Doch auch die Konjunktur in Osteuropa war hauptsächlich – durch westeuropäische, insbesondere österreichische Banken - auf Pump finanziert.

Verstaatlichung der Defizitkonjunktur

Die gute Wirtschaftsentwicklung der letzten zwei Jahrzehnte wurde zum großen Teil durch Verschuldung, durch die Herausbildung einer kreditfinanzierten Massennachfrage befeuert. Und diese Nachfrage wurde gerade vom Finanzsektor generiert. Für die Banken ist eine Expansion der Verschuldung gleichbedeutend mit einer Ausweitung ihrer Märkte, da der Kredit die wichtigste „Ware“ der Finanzbranche darstellt. Die wild wuchernden Finanzmärkte ließen somit nicht nur etliche Spekulations- und Finanzblasen aufsteigen, sondern seit den achtziger Jahren vermittels exzessiver Kreditvergabe ihre eigenen Märkte expandieren. Nach den Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise befragt, benennt inzwischen beispielsweise der Nobelpreisträger Paul Krugman nicht mehr in erster Linie die Spekulationen auf dem Immobilienmarkt, sondern das Überhandnehmen der Kreditvergabe als den wichtigsten Faktor:

Nun, ich wusste zwar, dass wir in Amerika gewaltige Probleme haben, etwa auf dem Immobilienmarkt mit seinen Billionen-Verlusten. Doch dann wurde klar, dass es sich um eine globale Kreditblase handelte, von den USA bis nach Europa.

Paul Krugman

Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass die USA besonders hoch verschuldet sind. Dort erreichte die gesamte Verschuldung inzwischen mehr als 350% des Bruttosozialprodukts. Die Lohnabhängigen der Vereinigten Staaten müssten also dreieinhalb Jahre ohne jegliche Entlohnung arbeiten, um diese Verbindlichkeiten begleichen zu können. Doch die Kreditblase ist in einigen Regionen Europas in noch absurdere Dimension vorgerückt. Die externe Verschuldung Islands und Irlands beträgt wahnsinnige 900% des Bruttosozialprodukts. Im Fall Großbritanniens sind es 456%, bei der Schweiz 433%, die Niederlande weisen eine Auslandsverschuldung von 328%, Frankreich von 210% auf.

Es ist, wie gesagt, vor allem die private Kreditaufnahme, die die schuldenfinanzierte Massennachfrage der letzten Jahre generierte. Die Verschuldung der privaten Haushalte beträgt beispielsweise in Irland 179% des Bruttosozialprodukts! In Portugal sind es 143%, in Spanien 159%. Das noch vor wenigen Monaten als Boomregion abgefeierte Osteuropa steht mit 1,5 Milliarden US-Dollar bei westeuropäischen Banken in der Kreide.

Diese eigentlich seit Jahrzehnten kontinuierlich an Dynamik gewinnende Verschuldung schaffte somit die Massennachfrage, die zur Grundlage des Aufschwungs der letzten Jahre wurde. Der Zusammenbruch dieses kreditfinanzierten Schneeballsystems ließ die Nachfrage einbrechen, die Industrieproduktion kollabierte und dies hatte folglich auch die ersten massenhaften Entlassungen von Arbeitskräften zur Folge. Krugman sieht die einzige verbleibende Hoffnung für das kapitalistische Weltsystem in enormen Konjunkturprogrammen, vermittels derer ein wirtschaftlicher Zusammenbruch ähnlich dem in der großen Depression von 1929 verhindert werden könnte. Befragt nach der Finanzierung dieses Unterfangens antwortet er:

Bitte verstehen Sie doch: Die Gefahr ist außerordentlich hoch, dass die Wirtschaft jetzt in eine deflationäre Abwärtsspirale gerät. Man kann die Lage eigentlich nicht schwarz genug malen. Zum ersten Mal seit zwei Generationen gibt es Defizite auf der Nachfrageseite der Wirtschaft. Wir konsumieren zu wenig, um die verfügbare Produktionskapazität auszunutzen. Dieser Umstand ist in weiten Teilen der Welt zur Wohlstandsbremse Nummer eins geworden. Und wenn wir nicht sehr rasch sehr viel mehr tun, dann entkommen wir dieser Spirale für viele Jahre nicht mehr.

Paul Krugman

Zur Verhinderung eines deflationären Absturzes der Weltwirtschaft soll sich laut Krugman also der Staat so massiv verschulden, wie es vormals der Privatsektor machte. In seiner ersten, oben zitierten Aussage machte aber der Nobelpreisträger gerade die „Kreditblase“ für die derzeitige Krise verantwortlich. Krugman gibt hier auch die implizite Schizophrenie der öffentlichen Diskussion wieder. Zum einen wird die Ursache der Krise in dem wilden Wachstum der Finanzmärkte, in exzessiver Kreditvergabe und der „Gier“ der Banker und Spekulanten verortet, die das anscheinend kerngesunde produzierende Gewerbe nun durch den Credit-Crunch mit in den Abgrund reißen. Andererseits beklagt Krugman den Einbruch der - durch die Kreditvergabe des Finanzsektors überhaupt erst jahrelang geschaffenen - Nachfrage, der ursächlich für den Zusammenbruch der Industrieproduktion ist. Zur Lösung dieser Krise regt der Nobelpreisträger also an, die nun zusammengebrochene private Kreditaufnahme in Staatsregie weiterzuführen. Nicht mehr der private Konsument, sondern „Vater Staat“ soll sich verschulden. Man könnte hier von einer „Verstaatlichung“ der vormaligen Defizitkonjunktur sprechen.

Selbst verknöcherte neoliberale Hardliner wie der Basarökonom Hans-Werner Sinn fordern vom Staat inzwischen immer neue Konjunkturprogramme, um die schnell fallende Massennachfrage erneut beleben zu können.

Es war aber gerade das wilde, unkontrollierte Wachstum der Finanzmärkte mitsamt massenhafter Verschuldung, das hauptsächlich zur Befeuerung der Konjunktur der letzten Jahre beigetragen hat. Um das „Rätsel“ der gegenwärtigen Krise zu lösen, müssen wir nur noch klären, wieso sich dieses System einer kreditfinanzierten Defizitkonjunktur – mitsamt den beschriebenen Defizitkreisläufen - auf globaler Ebene etabliert hat. Auch hier hilft uns die zutreffende Bemerkung Krugmans weiter, der zufolge wir zu wenig konsumieren, „um die verfügbare Produktionskapazität auszunutzen“. Doch offensichtlich können „wir“ nicht mehr ohne massive Kreditaufnahme genug konsumieren, um die globalen Produktionskapazitäten auslasten zu können. Entweder vollzieht sich diese Verschuldung über die wild wuchernden Finanzmärkte, wie bis vor kurzem, oder die Politik folgt dem Rat Krugmans und lässt den Staat über kreditfinanzierte Konjunkturprogramme die „fehlende“ Massennachfrage generieren.

Der Konsum bleibt hinter den Produktionskapazitäten zurück

Die Erzeugung der Massennachfrage vermittels ausufernder Verschuldung und eines beständig expandierenden Finanzsektors begann in den 1980er Jahren mit der Etablierung neoliberaler Politik unter dem US-Präsidenten Ronald Reagen und der britischen „Eisernen Lady“ Margret Thatcher. Sowohl die Link auf /tp/r4/artikel/29/29356/29356_2.jpg wie auch der Link auf /tp/r4/artikel/29/29235/29235_4.jpg weisen ab den Achtzigern eine regelrecht explosive Aufwärtsbewegung auf. Wir haben also mit einer Jahrzehnte langen Blasenbildung bei der Kreditaufnahme und Verschuldung zu tun, die in ihrer Dauer und ihren Ausmaßen einzigartig ist in der fünfhundertjährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems.

Dieser enormen Blasenbildung - die eigentlich schon den Charakter einer von der Dominanz der Finanzmärkte charakterisierten Periode kapitalistischer Geschichte annahm - ging eine massive globale Wirtschaftskrise in den 70ern voraus, für die sich der Begriff der Stagflation etablierte.

Die Gewinne der Unternehmen gingen in allen Industrieländern Link auf /tp/r4/artikel/29/29184/29184_1.jpg, das Wirtschaftswachstum erlahmte und die Massenarbeitslosigkeit griff nach über zwei Jahrzehnten der Vollbeschäftigung ab den Siebzigern erneut um sich. Die Regierungen reagierten damals, wie sie es heute tun: Mit massiven Konjunkturprogrammen und mit expansiver Geldpolitik, also mit besonders niedrigen Leitzinsen. Dies führte nach einiger Zeit zur einer immer stärker sich beschleunigenden Inflation, da die im Umlauf befindliche Geldmenge immer weiter anwuchs. Genau diese Stagflation droht uns heute wieder. Es ist gerade so, als ob die Krise der Siebziger nun – um ein Vielfaches verstärkt – erneut über die Weltwirtschaft hereinbrechen würde.

Schon in den Siebzigern zeichnete sich ab, was auch Krugmann heute bemerkt, dass nämlich der Konsum nicht in der Lage ist, die „verfügbare Produktionskapazität auszunutzen“. Das lag nicht an einem zu geringen Lohnniveau, da damals die Gewerkschaften durchaus substantielle Lohnerhöhungen durchzusetzen in der Lage waren. Vielmehr griff die früher zumindest noch breit diskutierte – heute aber weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verbannte - Krise der Arbeitsgesellschaft bereits um sich. Im Kern besagt diese These, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Oder, wie es der Soziologieprofessor Oskar Negt in Abgrenzung zu der klassischen, zyklischen Konjunkturkrise formulierte:

Nicht nur die Krisenfolgen sind neuartig, auch die Struktur der Krise hat sich verändert; die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Massenphänomen ist von den herkömmlichen Wellenbewegungen von Konjunktur und Rezession abgekoppelt. Es ist aus diesem Grunde immer unwahrscheinlicher, dass das Problem der chronischen Arbeitslosigkeit im begrenzten Horizont betriebswirtschaftlicher Kostenüberlegungen zu lösen ist.

Oskar Negt

Bei der Krise der Arbeitsgesellschaft handelt es sich also um eine Strukturkrise der kapitalistischen Ökonomie in den letzten 30 Jahren. Ab den 1970er Jahren erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte wissenschaftlich-technische Fortschritt als ein zweischneidiges Schwert: Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippte diese Entwicklung ab 1973. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz in den kommenden Dekaden noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Inzwischen beschäftigt sich sogar das Institut für Zeitgeschichte mit diesem Phänomen, das nicht zufällig in etwa so alt ist, wie die Expansion der Finanzmärkte:

Die Debatte über die Krise der Arbeitsgesellschaft begleitet den innenpolitischen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland seit gut dreißig Jahren, ohne dass man das Patentrezept gefunden hätte, um eine offensichtlich chronische Krankheit zu kurieren. [...] Waren 1973 im Bundesgebiet nur 270.000 Frauen und Männer arbeitslos gemeldet, so zählte man ein Jahr später schon 580.000; 1975 wurde erstmals die Grenze von einer Million überschritten. Es zeigte sich in diesen Jahren, dass die Maßnahmen des Staates unvollkommen griffen und der Arbeitsmarkt nur zögerlich auf Wachstumsimpulse, aber dafür überaus empfindlich auf Phasen konjunktureller Flaute reagierte. Der Sockel an Arbeitslosigkeit wuchs mit jeder neuen Krise weiter an. So stieg die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik bis 1983 auf knapp 2,3 Millionen an und fiel trotz günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen bis zum Fall der Berliner Mauer nie mehr unter die Zwei-Millionen-Marke.

IFZ München

Die zerstörerische Dynamik dieser Krisenbewegung ist offensichtlich: Je weniger Arbeit durch Rationalisierung und Automatisierung zur Reproduktion der gesamten Gesellschaft aufgewendet werden muss, desto weniger Einkommen steht den Konsumenten zur Verfügung. Weniger Einkommen bedeutet ebenfalls, dass die Konsumnachfrage sinkt. Eine sinkende Nachfrage hat wiederum eine fallende Produktion, weitere Entlassungen und erneut sinkende Nachfrage zur Folge. Paul Krugman hat also vollkommen recht, wenn er feststellt, dass wir zu wenig konsumieren, „um die verfügbare Produktionskapazität auszunutzen“. Nur liegt dies vor allem daran, dass immer weniger von „uns“ notwendig sind, um eine immer größere Masse an Waren herzustellen.

Im Teufelskreislauf

Dieser verhängnisvolle, sich selbst verstärkende Kreislauf, diese Krise der Arbeitsgesellschaft, wurde durch die Expansion der Finanzmärkte abgemildert und überdeckt. Die „Defizite auf der Nachfrageseite der Wirtschaft“, von denen Krugman spricht, wurden ja gerade durch die Kreditvergabe des Finanzsektors zumindest teilweise ausgeglichen. Die enorme globale Verschuldung deutet also im Endeffekt nicht darauf hin, dass „wir über unsere Verhältnisse gelebt haben“, wie uns inzwischen Neoliberale einzureden versuchten. Im Gegenteil, die Produktionskapazitäten sind inzwischen so enorm angewachsen, dass sie nicht mehr durch das Nadelöhr einer auf Gewinnmaximierung beruhenden Wirtschaftsverfassung hindurchgepresst werden können.

Diese Entwicklung ist im Rahmen der martkwirtschaftlichen Konkurrenz zwangsläufig: Jedes Unternehmen strebt danach, vermittels Automatisierung, Rationalisierung und Massenentlassungen seine Kosten zu minimieren und Gewinne zu maximieren. Die Gewinnmaximierung des eingesetzten Kapitals ist ja das oberste Ziel kapitalistischer Produktion. Da aber alle Unternehmen so verfahren müssen, untergraben sie die Massennachfrage nach ihren eigenen Produkten, da die entlassenen Lohnabhängigen ja auch Konsumenten waren. Wir haben also unter unseren Verhältnissen gelebt – innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung können wir nur unter unseren Verhältnissen leben.

Die Schizophrenie der spätkapitalistischen Wirtschaftsverfassung wird hier offenbar: Während immer mehr Menschen arbeitslos werden, im Elend versinken oder ihre Häuser verlieren und obdachlos werden, stapeln sich anderswo die unverkäuflichen Warenberge, werden Häuser abgerissen, die zwangsgeräumt werden; und wir leben in einer Wirtschaftsordnung, die diese beiden Tendenzen - massenhaftes Elend und massenhafte Überproduktion – nicht in Einklang bringen, nicht auflösen kann.

Mit dem Zusammenbruch des globalen Finanzüberbaus, der die kreditfinanzierte zusätzliche Nachfrage generierte, brechen diese der spätkapitalistischen Warenproduktion immanenten Widersprüche somit erneut verstärkt hervor. Die ungeheuren Produktionskapazitäten der Wirtschaft treffen auf eine global rasch schwindende Nachfrage, deren fortgesetzter Absturz wiederum dazu beiträgt, dass die Unternehmen ihre verbliebenen Arbeitskräfte in diesem Teufelskreislauf entlassen müssen. Mittlerweile ist die gesamte kapitalistische Gesellschaft innerhalb der kapitalistischen Binnenlogik „unrentabel“ geworden – sie lebte in den vergangenen Jahrzehnten nur noch auf Pump. Erst mit dem Zusammenbruch der durch den Finanzsektor finanzierten Verschuldungsorgie wird vielen Menschen diese Tatsache aufs schmerzlichste bewusst. Was wir nun erleben, ist die brutale Ausbildung einer 20:80 Gesellschaft, in der nur noch circa 20% aller arbeitsfähigen Menschen zur Reproduktion tatsächlich benötigt werden.

Wir können nun den Charakter der gegenwärtigen Krise bestimmen: Es ist eine in den Widersprüchen der marktwirtschaftlichen Warenproduktion zu verortende Systemkrise, die nun voll ausbricht und zu dem Einbruch der Massennachfrage, und folglich des Handels und der Industrieproduktion führt.

Was bedeutet dies für den Krisenverlauf, für die Tragweite dieses ökonomischen Weltmarktbebens? Der mit voller Wucht einsetzende selbstzerstörerische Prozess hat keine objektive Grenze, sondern kann durch eine positive Rückkopplung immer weiter an Wucht gewinnen. Der Teufelskreis aus sinkender Nachfrage, fallender Industrieproduktion und erneuten Massenentlassungen, die wiederum die Massennachfrage senken, erfährt ein Ende im ökonomischen Kollaps – oder seiner Überwindung auf höherer gesellschaftlicher Organisationsebene.

Eine dunkle Ahnung davon, dass es bei dieser Krise überhaupt keinen „Boden“ geben könnte, sondern nur einen immerwährenden Fall, haben auch die intelligenteren Vertreter der globalen Wirtschafts- und Finanzelite. Der berüchtigte Finanzinvestor und Spekulant George Soros sprach bereits Ende Februar davon, dass die jetzige Krise das Ende des „Modells des freien Marktes“ einläute, wie es sich seit den 80ern global durchsetzte:

Ich glaube, wir sind in einer Krise, die wirklich die schwerste seit den 1930ern ist und die ganz anders ist all die Krisen, die wir bislang erlebten. [...] Die Ökonomie ging in einen freien Fall über und sie fällt immer noch und wir wissen nicht, wo der Boden ist und wir werden es nicht erfahren, bis wir dort aufschlagen und es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir auch nur in der Nähe des Bodens sind.

George Soros

Der weiße Tod des Kapitalismus

Während sich die obersten Zehntausend über Milliardenverluste ärgern, marginalisiert die an Intensität gewinnende Krise der Arbeitsgesellschaft immer größere Teile der Weltbevölkerung – ohne dass ein Ende dieser Entwicklung absehbar wäre. Der Krisentheoretiker Robert Kurz hält beispielsweise im Falle Deutschlands mittelfristig eine Arbeitslosenzahl von acht Millionen für durchaus realistisch:

Ab einer bestimmten Größenordnung verstärkt sich die Arbeitslosigkeit selbst wie eine abgehende Lawine. Die kritische Masse ist erreicht, sobald die qualifizierten Kernbelegschaften der großen Industriekonzerne erfasst werden, beginnend mit der Autoindustrie. Denn an jedem einzelnen High-Tech-Arbeitsplatz hängen nicht nur zahlreiche Arbeitsplätze in den tief gestaffelten Zuliefer- und Grundstoffindustrien, sondern noch weitaus mehr Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel, bei den Humandienstleistungen oder in der Freizeitindustrie; vom Würstchenverkäufer bis zur Friseuse.

Robert Kurz

Hinzu käme der Kollaps der sozialen Sicherungssysteme, deren Finanzierung ebenfalls beschäftigungsabhängig sei. Der Wegfall dieser Transfereinkommen ließe die Massennachfrage weiter einbrechen. Zudem würden die massenhaft in Arbeitslosigkeit geratenden Menschen dazu übergehen, ihre Ersparnisse aufzulösen und so den Überresten des angeschlagenen Finanzsystems den Todesstoß zu versetzen. Bei einem derartigen „weißen Tod“ des Kapitalismus ginge schließlich „nichts mehr“, so Kurz: „Außer Zigarettenwährung und Stallhasen im Hinterhof natürlich.“

An dieser Tendenz ändern auch die derzeit überall hektisch aus dem Boden gestampften Konjunkturprogramme prinzipiell nichts. Wie bereits erläutert, geht der Staat hierbei dazu über, die vormals private Verschuldung in Staatsregie weiterzuführen. Hier wird erneut nur kreditfinanzierte Nachfrage geschaffen, welche die in der Krise der Arbeitsgesellschaft innewohnenden Widersprüche eine Zeit lang mildern kann. Doch eine Überwindung der gegenwärtigen Krise ist hiermit nicht möglich.

Die Befürworter massiver Konjunkturprogramme, wie beispielsweise Krugman, pflegen ja immer noch eine falsche Vorstellung vom Charakter der gegenwärtigen Systemkrise. In den Reihen der nun eine Renaissance erlebenden Keynesianer geht man immer noch davon aus, dass die reale, warenproduzierende Industrie im Kern „gesund“, also widerspruchsfrei sei, und dass im produzierenden Gewerbe keinerlei größeren Probleme zu verorten sind. Die Befürworter der Konjunkturprogramme glauben, dass es der in spekulativen Exzessen verfangene Finanzsektor war, der die warenproduzierende Wirtschaft in den Abgrund riss. Die staatlichen Konjunkturspritzen werden als eine Art „Starthilfe“ für den Motor der Warenproduktion angesehen, der hiernach wieder von alleine ordentlich brummen werde.

Dabei wird in der öffentlichen Diskussion ignoriert, dass dieser nun schlapp machende Motor der Industrie einen Kolbenfresser in Gestalt der Krise der Arbeitsgesellschaft hat. Je offensichtlicher die ihre Produktionspotenziale beständig steigernde Wirtschaft nicht mehr in Lage ist, auch nur annähernd Vollbeschäftigung herzustellen, desto verbissener hält die öffentliche Debatte am Ziel der Vollbeschäftigung fest – und sei es durch Billiglohn und Zwangsarbeit. Es grenzt an einen Tabubruch, die Krisenursachen im Herzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, also in der Warenproduktion überhaupt zu thematisieren.

Die Konjunkturprogramme können nun die Krise tatsächlich abmildern, das Ende der Arbeitsgesellschaft hinauszögern, doch sie können nicht unendlich fortgeführt werden. Ihre objektive Grenze finden sie im Staatsbankrott. Die unzähligen privaten Pleiten von amerikanischen Hausbesitzern oder überschuldeten Konsumenten, die den gegenwärtigen Krisenverlauf charakterisieren, fänden bei einer staatlich finanzierten Defizitkonjunktur, wie sie jetzt forciert wird, in der Pleite eines sich immer weiter verschuldeten Staates ihren Kulminationspunkt. Auch dies ist keine graue Theorie, da mit Ungarn, der Ukraine, Rumänien, und Lettland bereits etliche europäische Staaten nur durch Notkredite des IWF, der Weltbank und der EU vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden konnten.

Ein weiteres Standbein der gegenwärtigen Krisenbekämpfung ist – ähnlich wie in den siebziger Jahren – eine expansive Geldpolitik. Um einen Credit-Crunch (eine Kreditklemme, da Banken aus angeblich übertriebener Risikoscheu sich weigern würden, Unternehmen Geld zu verleihen) zu bekämpfen, werden die Zinsen massiv gesenkt und die Schleusentore der Notenbanken geöffnet. Billiges Geld, so die Theorie, würde die Kreditklemme lockern. Wiederum herrscht hier die Vorstellung vor, dass der eigentlich gesunde produzierende Sektor sich im Würgegriff des „bösen“ raffenden Kapitals befinden würde, das die warenproduzierenden Unternehmen durch mangelnde Kreditvergabe erdrosseln würde. Die Probleme des produzierenden Gewerbes sind aber – wie bereits erwähnt – in der zusammenbrechenden Nachfrage zu verorten, nicht in einem Mangel an Krediten. Der DIHK schätzte beispielsweise Ende Februar die Lage auf dem Kreditmarkt als „wenig dramatisch“ ein, da nur drei Prozent aller Finanzierungsanfragen seitens der Banken abgelehnt werden.

Schlimmer sei die Lage bei den exportorientierten Großunternehmen und in der Automobilbranche, wo die Ablehnungsquote bei circa 21% liegen soll. Die Banken agieren also im Rahmen der kapitalistischen Binnenrationalität. Sie vergeben Kredite bevorzugt an Unternehmen, die sich in guter wirtschaftlicher Verfassung befinden, die noch nicht vom Zusammenbruch der Nachfrage betroffen sind, wie es ja bei den exportorientierten deutschen Konzernen in besonderer Weise der Fall ist. Die Finanzinstitute dazu aufzufordern, Kredite an Unternehmen zu vergeben, deren Absatzzahlen gerade zusammenbrechen, läuft schlichtweg jeglicher kapitalistischen Logik zuwider. Das Lamentieren über die angebliche „Kreditklemme“ ist auch im höchsten Grade schizophren. Einerseits werden die Exzesse der Finanzmärkte gegeißelt, während deren Akteure zugleich aufgefordert werden, mit einer ausufernden Kreditvergabepraxis genau diese Exzesse fortzuführen. Die amerikanische Wirtschaftspresse plaudert den Zweck des staatlichen Aufkaufens all der inzwischen unverkäuflichen Derivate auch freimütig aus:

Die Lösung des Problems der toxischen Wertpapiere würde den Banken erlauben, normalere Kreditvergabepolitik zu führen. Mit aufgetauter Kreditvergabe könnten die Konsumenten wieder an alle möglichen Arten von Krediten kommen, Geld, das wieder zurück in die Ökonomie fließen würde.

NECN.com

Auf ein Neues also - The same procedure as every year!? Dabei – und hier haben die letzten verbohrten Neoliberalen ausnahmsweise recht – droht durch die gegenwärtig von den Notenbanken initiierte Geldschwemme die inflationäre Entwicklung tatsächlich aus dem Ruder zu laufen. Einen Großteil ihrer Legitimation konnte die neoliberale Restauration in den Achtzigern gerade durch ihre Hochzinspolitik erhalten, mittels derer sie tatsächlich die seit den Siebzigern ausufernde Inflation bekämpfen konnte. Die diversen, in die Billionen US-Dollar gehenden Rettungsmaßnahmen der amerikanischen Geldpolitik werden zwangsläufig zu einer galoppierenden, wenn nicht sogar zu einer Hyperinflation führen.

Green New Deal

Bei Beibehaltung des gegenwärtigen, „keynesianischen“, auf expansiver Geldpolitik und Konjunkturprogrammen fußenden Wirtschaftskurses droht mittelfristig eine Desintegration des kapitalistischen Weltsystems in Staatsbankrott und Hyperinflation. Innerhalb der kapitalistischen Systemlogik gibt es nur zwei – von vornherein prekäre, widerspruchsvolle und kurzzeitige – Möglichkeiten, die Agonie unserer Wirtschaftsverfassung zu verlängern. Zum einen könnte eine erneute spekulative Blasenbildung ausgelöst werden. Sollte tatsächlich in den USA eine Bad-Bank installiert werden, welche einen Großteil der faulen verbrieften Hypotheken aufkauft, die derzeit den Finanzsektor belasten, so wäre dieser Weg zumindest denkbar.

Eine andere Option verdient weitaus größere Beachtung. Insbesondere im angelsächsischen Raum gewinnt die vom UN-Umweltproramm beworbene Konzeption eines Green New Deal zunehmende Unterstützung ("Global Green New Deal" oder "Weiter wie bisher"?). In Anlehnung an den New Deal Roosevelts wird ein massives globales Investitionsprogramm gefordert, das dem Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur dienen soll. Ein wichtiger Pfeiler dieser Konzeption besteht in der Transformation der energetischen Basis unserer gesamten Zivilisation auf erneuerbare Energien.

Hier würden neue Wirtschaftszweige entstehen, so die Hoffnung der Initiatoren, die Wachstum und Massenbeschäftigung mit sich bringen und zugleich zur Bekämpfung des sich beständig beschleunigenden Klimawandels beitragen würden. Dieser Green New Deal rührt tatsächlich an den wirklichen, in den besagten Widersprüchen der Warenproduktion zu verortenden Ursachen der gegenwärtigen Krise. Tatsächlich würden neue Industriezweige, die auch massenhaft neue Arbeitsmöglichkeiten generieren, die Krise der Arbeitsgesellschaft überwinden. Somit würde es sich bei dem gegenwärtigen Weltmarktbeben um eine Durchgangskrise handeln, ähnlich der großen Depression in den Dreißigern, der ja auch die Phase des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus in den Fünfzigern und Sechzigern folgte. Nur bei Erfüllung dieser Voraussetzungen hätten Konjunkturprogramme einen nachhaltigen Nutzen!

Seit dem Beginn der industriellen Revolution herrschte innerhalb der kapitalistischen Produktion die Tendenz vor, dass in etablierten Industriezweigen durch Rationalisierungen Arbeitsplätze wegfallen. Doch konnten diese Verluste bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts durch neue Arbeitsplätze in neuen Industriezweigen ausgeglichen werden. Dieser Prozess lief keineswegs widerspruchsfrei ab und löste oftmals Friktionen aus, die gewöhnlich unter dem Stichwort Strukturwandel zusammenfasst werden. Der technische Fortschritt zerstörte Arbeitsplätze, doch er schuf auch immer wieder neue Erwerbsarbeit. Dies änderte sich erst ab den siebziger Jahren. Auch in den letzten drei Jahrzehnten, als die Krise der Arbeitsgesellschaft offensichtlich wurde, entstanden neue Industriezweige die neue Produkte herstellten und auch Arbeitsplätze schufen. Nur erfuhren diese Technologien und Produkte – wie Computer und Telekommunikation - auch eine gesamtgesellschaftliche Anwendung, die zunehmend mehr Arbeitsplätze obsolet machte, als sie in den neuen Industriesektoren schuf.

Können grüne Technologien die Arbeitsgesellschaft reformieren?

Es stellt sich die Frage, ob die durch ein massives Investitionsprogramm geförderten, „grünen“ Technologien, Industrien und Produkte tatsächlich wiederum massenhaft Arbeitsplätze generieren würden. Werden beispielsweise die langsam gegenüber fossilen Energieträgern konkurrenzfähigen Solarzellen unter einem ähnlichen Personalaufwand hergestellt, wie seinerzeit in den Fünfzigern die Autos, mittels derer die Massenmotorisierung unser Gesellschaften durchgesetzt wurde? Werden wiederum an endlosen Fließbändern hunderttausende von Arbeitern im Schweiße ihres Angesichts Solarmodule montieren, wie sie einstmals Fahrzeuge zusammenschraubten?

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass beispielsweise bei den Ford Motorenwerken in der Nähe von Detroit bis zu 200.000 Menschen arbeiteten – Solarworld, der größte deutsche Solarzellenproduzent, hat gerade mal 2200 Mitarbeiter. Selbst bei einer Verzehnfachung der Mitarbeiterzahl – die aufgrund von Rationalisierungseffekten garantiert mit einer Verfünfzigfachung der Produktion einherginge – könnten schlicht aufgrund des hohen technischen Standards der Produktion nicht dieselben Beschäftigungseffekte erzielt werden. Wenn überhaupt, so würde ein „grüner Kapitalismus“ höchstens über einen begrenzten Zeitraum die Agonie der Arbeitsgesellschaft verlängern.

Überdies gilt es zu beachten, dass auf die Ausgestaltung der gegenwärtigen Konjunkturprogramme vor allem die Industrien Einfluss haben, die derzeit dominierend sind, wie beispielsweise die deutsche Automobilindustrie, deren Lobby gerade eine Verlängerung der ökologisch desaströsen Abwrackprämie durchgesetzt hat. Die potenziellen Träger eines neuen Aufschwungs der kapitalistischen Produktionsweise haben bislang kaum Einfluss auf die Ausgestaltung der Kulturprogramme nehmen können. Zudem müssten zur Finanzierung dieses gigantischen Unterfangens auch die Großvermögen, Konzerne und Spitzenverdiener massiv besteuert werden, die am Boom der letzten Jahre sehr gut verdienten – doch hiervon scheuen alle Regierungen der wichtigsten Industrieländer zurück. Deswegen werden die gegenwärtigen Investitionsprogramme höchstens zur Abmilderung der Krise beitragen.

Und wenn schon von den Initiatoren des Green New Deal die angemessenen Parallelen zur großen Depression der dreißiger Jahre gezogen werden, so gilt es zu bedenken, dass es keineswegs der New Deal war, der damals die Welt aus der Krise führte. Den Durchbruch zu der fordistischen Massenproduktion, Massenbeschäftigung und Massenkonsumtion vollführte erst die totale – und teilweise totalitäre – Mobilisierung des Zweiten Weltkrieges. Baute die Nachkriegsprosperität also auf 60 Millionen Leichen auf, so würde eine solche „Endlösung“ der gegenwärtigen Krise angesichts des vorhandenen Zerstörungspotenzials mit Sicherheit nicht nur das Ende jeglichen Zivilisationsprozesses mit sich bringen, sondern auch das der Gattung Mensch selber.

Was tun also? Wir müssen uns von der Zwangslogik der Marktwirtschaft frei machen, der zufolge die menschlichen Bedürfnisse nur befriedigt werden können, wenn dies mit der Realisierung möglichst hoher Profite einhergeht und die gegenwärtige Situation ideologiefrei, mit einer gesunden Portion (Selbst-)Distanz betrachten: Angesichts nie dagewesener wirtschaftlicher Potenziale, einer in höchste Höhen hochgeschraubten Produktivität, stapeln sich derzeit überall Warenberge, während zeitgleich Millionen von Menschen ins Elend abrutschen. Das Einfache, das so schwer zu machen ist, bestünde darin, gesellschaftliche Strukturen zu entwickeln, die eben diesen schizophrenen - von der gegenwärtig herrschenden Ideologie naturalisierten - Zustand aufheben.