Gegen den Korporatismus

Auch in den angloamerikanischen Ländern wächst der Widerstand gegen die Ideologie des Marktes. Das Buch "Wider die Ökonomisierung der Gesellschaft" des Kandiers John Saul ist ein Ausdruck der neuen Stimmung.

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Nicht nur in Europa, sondern auch in Nordamerika werden die Stimmen lauter, die sich gegen die Dominanz der Ökonomie und das Schlagwort der Globalisierung wenden, mit dem die Anpassung der Politik an die Ökonomie betrieben wird. Forderungen werden heute in der Tat dadurch stereotyp gerechtfertigt und erzwungen, daß Unternehmen und Standorte wettbewerbsfähig sein und bleiben müssen und deswegen Löhne und Steuern sinken, sozialstaatliche Leistungen abgebaut und andere Hindernisse für die Profiterzielung fallen sollen, wobei an diesen Zwängen niemand Schuld ist, da sie immer von den jeweils anderen ausgehen. Nur dann, so das Versprechen, käme die Wirtschaft wieder in Ordnung und bliebe der Lebensstandard einer Gesellschaft gesichert.

Der Kanadier John Saul ist mit seiner Streitschaft wider die ökonomische Ideologie - dem kanadischen Pendant von Viviane Forresters Buch Terror der Ökonomie - mit einem Preis ausgezeichnet worden und auf Platz 1 der kanadischen Bestsellerliste vorgestoßen, was zumindest zeigt, daß die Stimmung des Unbehagens wächst und viele das Gefühl haben, daß die wirtschaftliche Entwicklung in eine falsche Richtung geht. Vielleicht bringt Saul damit auch nur eine Angst zum Ausdruck, daß die Vorherrschaft der Menschen in den alten Industrieländern der selbsternannten Ersten Welt ihrem Ende zu- und die Sorge vor dem Absturz des Lebensstandards umgeht. So zumindest sehen das manche Apologeten der Globalisierung, die deswegen gar von einer moralischen Pflicht sprechen.

Ebenso wie Forrester nutzt Saul den Einspruch gegen die Vorherrschaft vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge, die von der gesellschaftlichen Elite und insbesondere vom wirtschaftlichen Korporatismus zur Stützung ihrer Herrschaft vorgebracht werden, um ganz allgemein den Egoismus, die mangelnde Bereitschaft zur Selbsterkenntnis und fehlendes Engagement für eine demokratische Gesellschaft zu geißeln, auch wenn er nicht gar so tief in der moralischen Rhetorik versinkt.

"Wir sind eigenwillig und nonkonformistisch in Nebensächlichkeiten, aber wenn es darauf ankommt: träge Konformisten."

Vieles, was für die bedingungslose Anerkennung des "freien Marktes" und das Primat der Ökonomie vorgebracht wird, ist tatsächlich schief. Freier Markt und Demokratie sind keineswegs eine Einheit. Die "unsichtbare Hand" erzeugt nicht automatisch Wohlstand und Frieden für alle. Steigende Profite führen nicht notwendigerweise zu Investitionen und zu neuen Arbeitsplätzen. Der Kapitalismus der Gründerzeit und der von Adam Smith ist keineswegs mit dem heutigen zu vergleichen, der auf spekulativen Finanzströmen basiert, deren Bezug zur Wirklichkeit immer loser wird. Der freie Markt kann nur unter der Bedingung von Absprachen und Regelungen funktionieren, dazu gehört auch, daß die Dynamik der Konkurrenz von anderen Kräften beschränkt und zivilisiert wird. Die industrielle Revolution hat zunächst für lange Zeit Armut und harte Arbeitsbedingungen für den Großteil der Menschen mit sich gebracht und sich keineswegs von selbst korrigiert.

"Die harten Arbeitsbedingungen dauerten an, bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, und verschwanden selbst dann nur allmählich. Die Masse der Bevölkerung kannte bis zu unserem Jahrhundert keinerlei wirkliche Verbreiterung von Wohlstand ... Der Langzeitplan der industriellen Revolution war die Einführung eines niedrigeren Lebensstandards, überhaupt die Verschlechterung der Lebensbedingungen ..."

Nicht irgendein "eingebauter Mechanismus der Selbstkorrektur" habe dies dauerhafte Ungleichgewicht verändert, sondern erst die "Demokratie und die Bürgerschaft zwangen die blinden Wirtschafts- und Machtmechanismen in eine gesellschaftlich annehmbare Form einer Zivilisation." Gerade an diesen, von Saul unterstellten Kräften, die nicht auf das Privatinteresse, sondern auf das Gemeinwohl achten, werde aber heute Raubbau betrieben. Die Verkürzung des Staates auf Bürokratie und das Primat der Ökonomie vor der Demokratie seien dafür entscheidende ideologische Mittel.

Manche werfen den Kritikern der liberalen Ökonomie vor, daß sie wieder in die Mottenkiste linker oder marxistischer Begrifflichkeit des Klassenkampfes zurückgreifen, die doch längst überholt wäre. Saul vermeidet dies ganz explizit. Sein Heros ist Sokrates, der alles hinterfrägt und den öffentlichen Diskurs hochhält, weswegen er von Athen zum Tode verurteilt wurde. Mit Kritik und öffentlicher Diskussion stünde es auch bei uns schlecht, sagt Saul. Eben das sei verpönt von der Allgegenwart des Korporatismus, der alle zur Konformität zwinge und "interessefreie Uneigennützigkeit und Teilhabe" zerstöre. Man fühlt sich an die These Adornos vom allgemeinen Verblendungszusammenhang oder an Marcuses Begriff der repressiven Entsublimierung erinnert.

Korporatismus ist die neue Theorie für Alles von Saul, das Übel des jetzigen Kapitalismus, die Geißel der Menschheit. Nicht die Ökonomie selbst oder die wirtschaftliche Macht produziert für ihn die Schieflage, daß wirtschaftliche Interessen vor der Wahrung des Gemeinwesens und des Staates gesetzt werden, den Saul - ganz richtig - nicht nur als bürokratischen Feind des Individuums betrachtet, sondern der eigentlich die Organisation der Bürger ist bzw. sein sollte: es ist der Korporatismus, eine Neuauflage des feudalistischen Systems. Aber was ist diese geheimnisvolle Kraft? Saul behauptet, daß in unseren Gesellschaften nicht der Bürger oder das Individuum Macht habe, sondern daß der "Einzelne, von der Spitze bis in die untersten Schichten dessen, was heute Elite genannt wird, in erster Linie als Gruppenmitglied handelt." Was stattgefunden habe, sei eine Verlagerung der Vollmachten vom einzelnen Menschen auf die Gruppe. Parteien, Verbände, Gruppen bestimmen Wirtschaft und Politik als Interessensorgane, die deswegen das Gemeinwesen, den Staat und die Öffentlichkeit, zerstören und als Widersacher sehen müssen.

Doch der Korporatismus als neue Totalerklärung des Bösen und die Beschwörung der interessenfreien Uneigennützigkeit verschafft eher die intellektuelle Gemütlichkeit, den "Feind" identifiziert zu haben, als eine wirkliche Grundlage für den von Saul geforderten Anti-Konformismus, der aus den ideologischen Selbsttäuschungen zur Erkenntnis der Wirklichkeit führe. Der Appell, den Staat wieder als demokratische Instanz der Bürger zu verwirklichen und nicht seinen Abbau in einen minimalen Dienstleistungsorganisation weiter zu betreiben, ist sicher richtig, müßte sich aber auch näher auf den Machtverlust der Nationalstaaten durch die Globalisierung einlassen. Daß Abkommen über berufliche Chancengleichheit und soziale Mindeststandards ähnlich wie Handelsabkommen zu bewerkstelligen seien und erst einmal auch regional beschlossen werden könnten, wenn denn nur der demokratische Wille stark genug wäre, mag ebenso zutreffen wie die Kritik, daß die vermeintliche Unmöglichkeit einer internationalen Sozialpolitik nur an der "Unwilligkeit der korporatistischen Eliten scheitert, in solche Verhandlungen überhaupt einzutreten."

Sauls Rekurs auf den einzelnen Bürger, der aus seiner Apathie, seiner Verstrickung in Gruppeninteressen und seiner Schicksalsverhaftetheit aufwachen soll, ist möglicherweise aber wieder selbst ein Trugbild, das aus der pauschalen Kritik an allen Gruppenstrukturen erwächst. Was fehlt, sind internationale und globale demokratische Instrumente und Öffentlichkeiten, die die Macht der Global Player politisch begrenzen könnten. Das Bild eines "ausgewogenen Individualismus", mit dem Saul sein Buch beendet, hat gegenüber dieser Aufgabe der Schaffung neuer demokratischer Organisationen eher rührende Züge.

John R. Saul: Der Markt frißt seine Kinder. Wider die Ökonomisierung der Gesellschaft. Campus Verlag. 219 Seiten. DM 36.-