Geld oder Leben: Vom Bruttosozialprodukt zum Psychosozialprodukt

Seite 2: Paradigmenwandel: Die Rückkehr des Menschen

Für die Bundesrepublik wie für die frühere DDR gilt:

"Die gesellschaftlichen Aufwendungen für die Entwicklung der Produktionsmittel sind zumeist nur sekundär oder überhaupt keine Aufwendungen für die Entwicklung der Bedingungen subjektiver Fähigkeitsentfaltung und individuellen Genusses in der Arbeit" (Brie 1990, 140).

Notwendig ist eine Technik, "die menschliche Arbeit nicht allein unter ihren funktionalen Aspekten für die Produktion" betrachtet, "sondern als eigenen Bezugspunkt für die Entwicklung von Produktionskonzepten" (Pekruhl 1995, 116).

Das Ziel ist "nicht allein die Bewältigung je gegebener Arbeitsaufgaben, sondern auch die Gestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitstätigkeit selbst" (Ebd., 118).

Anzustreben ist eine Technologie, "die von den Arbeitern dazu verwendet werden könnte, bestimmte Bereiche ihrer Tätigkeit zu automatisieren, ohne jedoch gleichzeitig den lebendigen Arbeiter zum bloßen Anhängsel der 'lebendigen Maschinerie' zu degradieren" (Löw-Beer 1981, 93).

Gefragt ist eine "Rückkehr der menschlichen Hand in den Produktionsprozess, die sie nicht wieder an ihn kettet" (Heinemann 1982, 184). Es geht um einen Paradigmenwandel in der Technik und in den entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsprozessen.

Der Stress

Eine zentrale Zumutung, die die Menschen schwer belastet, ist der negative Stress. Er entsteht aus der Überlastung mit Arbeit, aber auch aus gegensätzlichen Handlungsanforderungen.

Im kapitalistischen Erwerbs- und Geschäftsleben bewegen sich die Beteiligten in Gegensätzen zwischen Verausgabung von Arbeitskraft und deren Erhalt, Unterordnung und Selbstständigkeit, Wahrnehmung von Interessen und Anpassung, Konkurrenz und Kooperation, Unabsehbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und langfristiger individueller Planung (vgl. Kaplonek, Schroeter 1979).

Die individuelle Existenz in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist zudem durch Gegensätze zwischen den zentralen Sphären der Gesellschaft geprägt. Eine die Individuen belastende Unverträglichkeit besteht bspw. zwischen der Orientierung an Erwerbsarbeit und Beruf einerseits, an der Familie andererseits.

Sonntagsreden reichen nicht

Erfolg in der gegenwärtigen Arbeitswelt heißt häufig, objektiv sehr stark von ihr absorbiert zu werden und sich monokulturell in die Themen der Arbeit zu vertiefen, immer mehr zu arbeiten und damit den Kontakt zu andersartigen Welten – z. B. der der eigenen Kinder – zu verlieren.

Wer den negativen Stress als zentrale Zumutung, unter der Menschen leiden, ernst nimmt, kann es nicht bei erbaulichen Sonntagsreden belassen.

Es gilt, die gesellschaftlichen Ursachen für gegensätzliche Handlungsanforderungen zu überwinden und die Gesellschaft so zu gestalten, dass Stress-schaffende Gegensätze abgebaut werden.

Problem: Verwahrlosung

Unser Lebensraum ist von Verarmung bedroht, und diese Verkümmerung wirkt zurück auf unabsehbare Menschenmassen, lässt ihr Interesse an dieser verödenden Umgebung erkalten.

Adolf Portmann, zit. n. Warwas 1977, 12)

Gegenüber einer Fixierung auf das schöpferische Tun sind die Gegenstände zu würdigen, an denen sich menschliche Sinne und Fähigkeiten bilden können. Die Stadt- und Landschaftszerstörung zeigt dies auf negative Weise. Bauten sind für Menschen nicht nur faktisch notwendig, sondern tragen dazu bei, wie sich Mentalitäten entwickeln.

Der Architekt und Philosoph Georg Franck beschreibt die Wirkungen weiter Bereiche der gegenwärtigen Stadtbauwelt ("zusammengewürfelte Zwischenstädte, Vororte und Gewerbegebiete") auf die Menschen prägnant:

Da unterscheidet die Bauweise häufig nicht zwischen den Behausungen für Menschen und Müllcontainer. […] Wer hier aufwächst, kommt mit dieser Situation am besten zurecht, indem er abstumpft und eben nicht darauf achtet, wo er ist und wo er sein will.

Franck 2009, 41, 44

Weite Abschnitte der Gegenstandswelt, an der sich Sinne erst bilden können, sind in modernen kapitalistischen Gesellschaften durch Verwahrlosung charakterisiert. Dies betrifft neben großen Bereichen der Stadtbauwelt den öffentlichen "Nah"verkehr, viele Billigklamotten aus Ramschläden und viele Medien.

Daraus entsteht eine innere Distanz. Sie ist "weniger einer Unempfindlichkeit für das Schöne als dem Verlangen geschuldet, sich gegen jene Traurigkeit zu wappnen, die uns überkäme, wenn wir ständig und überall spürten, wie sehr es am Schönen mangelt" (Botton 2008, 15).

Das Elend, das aus dem Mangel (an Objekten) entsteht, ist das eine. Das Überangebot an Objekten, die massiv dazu beitragen, die Sinne und Fähigkeiten auf problematische Weise zu entwickeln, schafft eine andere Misere.

Die Priorität der Gestaltung durch die Bevölkerung

In der Bevölkerung ist das Bewusstsein weit verbreitet, kaum Macht und Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu haben. Das ist angesichts der Übermacht der gesellschaftlichen Mechanismen realistisch. Sie sind den Menschen über den Kopf gewachsen.

Notwendig wird es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Bevölkerung souverän ist über das Wirtschaften und über die Gesellschaftsgestaltung. Wenn gegenwärtig von "Grenzen des Wachstums" die Rede ist, so geschieht dies meistens lediglich aus ökologischen Motiven.

Niemand muss für "small is beautifull" plädieren, um festzustellen: Es gibt Ausmaße der Größe und Komplexität von Räumen und Materien, die deren gesellschaftliche Gestaltung massiv erschweren bzw. infrage stellen.

Beispiele dafür sind die globale Vernetzung, gegenüber der für Deglobalisierung einzutreten ist (vgl. Creydt 2021), und die Komplexität moderner Großtechnologien (Schiffe, Kernkraftwerke, Weltraumflüge).

Die Risiken komplexer und eng gekoppelter Systeme

"Seine Prozesse laufen sehr schnell ab und lassen sich nicht ohne weiteres abschalten, die ausgefallenen Aggregate lassen sich nicht von den übrigen Bauteilen isolieren, oder es besteht keine andere Möglichkeit, einen ungestörten Produktionsablauf zu gewährleisten. [...] In diesem Fall wird sich die Störung rasch und ohne erkennbare Ursache zumindest für eine gewisse Zeit ausbreiten" (Perrow 1988, 17).

Das erhöht die Wahrscheinlichkeit für Unfälle infolge der wenig voraussehbaren und potenziell schädlichen nichtintendierten Verkettungen von für sich genommen sinnvollen Vorrichtungen. Probleme entstehen bei Systemkomponenten, die entweder verschiedene Funktionen bedienen oder benachbart sind, etwa "wenn ein Kurzschluss in einem Kabel ein in der Nähe verlaufendes zweites Kabel außer Funktion setzt, das zu einer Sicherheitsvorrichtung läuft, die sich für den Fall eines Defekts im ersten Kabel einschalten soll" (Ebd., 199f.).

Es bricht also möglicherweise nicht nur ein Feuer aus, sondern zugleich fällt auch die Vorrichtung für den Feueralarm aus. Die Verknüpfung von Komplexität und enger Kopplung führt dann dazu, dass die Sicherheitsvorkehrungen "von verborgenen Pfaden innerhalb des Systems umgangen oder außer Funktion gesetzt werden. [...] Wir sind möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo die Kurve unseres Lernfortschrittes fast horizontal verläuft" (Ebd., 27).

Dass die Bevölkerung die Gesellschaft insgesamt gestalten kann, wird zu einem eigenen Maßstab. Er hat höheren Rang als die Forderungen, die aus wirtschaftlichen und technologischen Projekten entstehen, so nützlich und legitim diese im Einzelnen sein mögen.

Die Gesellschaft ist kein neutraler Behälter, in dem alles mögliche stattfinden sollen kann, sondern weist eigene Erfordernisse ihrer Gestaltbarkeit auf.

Auch der Charakter muss geschützt werden

Es gilt diejenigen zu bestärken, die sagen: Ich will nicht werden wie die Manager und ihre Advokaten, Lobbyisten, Pressesprecher und Hofnarren sind.

Ich will kein Fachidiot werden, der aus lauter Freude daran, sich selbst in die Arbeit einzubringen, für die Gesellschaft schädliche Produkte herstellt und gleichgültig gegenüber den Kollegen ist.

Ich will kein Konkurrenzsubjekt werden, das sein Selbstbewusstsein nicht aus dem Inhalt des Produkts oder der Dienstleistung bezieht, sondern aus der eigenen Geschicklichkeit bei der Selbstvermarktung und aus den Tricks, in der Konkurrenz die Nase vorn zu haben.

Ich will kein Verkäufertyp werden, der sich an seinen Überredungstricks begeistert, an seiner Gewandtheit und Cleverness. Ich fürchte den Zynismus, der bei vielen dieser Karrieren erforderlich wird.

Notwendig wird es, die Wirtschaft und die Organisationen nach folgenden Maßgaben zu gestalten:

• Zurückdrängung bzw. Überwindung des "Egoismus" ("Besitzindividualismus" bzw. Orientierung im Horizont partikularer Vorteile zu Lasten anderer),

• Überwindung der Nachfrage für Destruktivqualifikationen ("fake for real"; tarnen, tricksen, täuschen; andere klein machen, um in der Konkurrenz bzw. Hierarchie Vorteile zu erzielen),

• Überwindung des Vorgehens, Erfahrungen mit einer dürftigen Qualität des Arbeitens, der Sozialbeziehungen und der Teilhabe an der Gesellschaftsgestaltung zu überkompensieren – durch Konsum und Aktivitäten in der Freizeit.

Mit diesem Konsum und diesen Aktivitäten dünken sich die Menschen reicher, als sie es tatsächlich sind – in ihrem Bezug auf sich selbst und in ihren wesentlichen Sozialbeziehungen. Auch hier – nicht nur in einem problematischen Umgang mit Kindern – koexistieren Vernachlässigung und Verwöhnung.